Werden Corona-Verdachtsfälle wirklich getestet, werden Infektionsketten wirklich nachverfolgt? Die Politik hatte  genau das zur Bedingung für die seit etwa zwei Wochen anhaltenden Lockerungen des Corona-Shutdown gemacht – in der Praxis aber scheint das nur sehr bedingt zu funktionieren: In Ingelheim wurde nun eine ganze vierköpfige Familie weder getestet noch dem Gesundheitsamt gemeldet, trotz Erkrankung und bestätigtem Verdacht. In den Statistiken werden diese vier Fälle nun auch nicht auftauchen – Ingelheim meldete genau in dem fraglichen Zeitraum null Neuinfektionen – über Tage hinweg. Der Mainzer Oberbürgermeister Michael Ebling (SPD) sagt etwa am 13. Mai: „Die Zahlen geben die Lockerungen her“ – Mainz& hat nachgeforscht.

Wie sorgfältig werden Corona-Erkrankte erfasst und getestet? Recherchen ergeben: Nicht gründlich genug. - Foto: RKI
Wie sorgfältig werden Corona-Erkrankte erfasst und getestet? Recherchen ergeben: Nicht gründlich genug. – Foto: RKI

Ende April ging es los: „Es fing langsam an mit Halsschmerzen und so einem trockenen, ekelhaften Husten, man will husten, aber es kommt nichts“, berichtet der Ingelheimer: „Dann kamen Kopfschmerzen dazu, erst habe ich gedacht, das wäre Migräne.“ Doch es blieb nicht bei den Kopfschmerzen und dem Husten: Am Wochenende darauf bekam der 40-Jährige aus heiterem Himmel Schüttelfrost und hohes Fieber, 39,7 Grad in einer Nacht.

„Du hast dich angefühlt, als hätte dir jemand alle Energie abgesaugt“, berichtet der Mann, der eine Dienstleistungsfirma in der Medienbranche hat, aber seinen Namen nicht in der Zeitung sehen möchte. Das Schlimmste seien der Druck auf der Brust und das Gefühl beim Atemholen gewesen, berichtet der 40-Jährige im Gespräch mit Mainz&: „Es war so ein Druck auf der Lunge, beim Luftholen hat’s innen richtig gebrannt, man kriegt da schon ein bisschen Panik.“ Dazu kam massiver Geschmacksverlust, vom ersten Tag an, später „hab ich nur noch Wasser geschmeckt.“ Dabei sei das Abendessen würzig-scharf gewesen, als die Familie fragte: ‚Was hast Du denn, schmeckt doch ganz normal‘, da ahnte der Mann: Er hatte sich mit dem neuen Coronavirus infiziert.

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Das Coronavirus SARS-CoV-2 greift in erheblichem Maße auch die Lunge an, hier symbolisch dargestellt mit Hilfe von Flugzeugen. - Foto: Initiative gegen Fluglärm
Das Coronavirus SARS-CoV-2 greift in erheblichem Maße auch die Lunge an, hier symbolisch dargestellt mit Hilfe von Flugzeugen. – Foto: Initiative gegen Fluglärm

Die Symptome wiesen eindeutig auf die durch das neue SARS-CoV-2 ausgelöste Krankheit Covid-19 hin, wurde dem Erkrankten bei der Corona-Ambulanz in Ingelheim am 4. Mai versichert – und doch wird der Neuinfizierte in keiner Statistik von Kreis, Land oder Robert-Koch-Institut auftauchen: „Ich bin nicht getestet worden“, berichtet er. Am Telefon der Corona-Ambulanz sei ihm gesagt worden: „Das müsste nicht sein, es sei mir freigestellt, ob ich mich testen lasse.“

Die Schilderung ist kein Einzelfall, dieser Zeitung liegen Berichte weiterer Verdachtsfälle vor, die nicht getestet wurden. Die meisten davon stammen aus der Anfangszeit der Pandemie, von Anfang März oder aus dem Februar. Damals hatte das Robert-Koch-Institut (RKI) die Richtlinie ausgegeben, nur Menschen mit Covid-19-Symptomen zu testen oder Menschen aus Hochrisikogebieten – sonst könnten die Testkapazitäten überfordert werden.

Inzwischen aber wurden die Testkapazitäten massiv ausgeweitet: Aktuell könnten in Rheinland-Pfalz pro Tag rund 6.200 Coronatests untersucht werden, sagte Stefanie Schneider, Sprecherin des Mainzer Gesundheitsministeriums auf Mainz&-Anfrage. Tatsächlich durchgeführt würden pro Tag im Schnitt 1.700 Labortests. Auch bei steigenden Testzahlen seien damit „bedarfsgerechte Laborkapazitäten vorhanden.“ In die offiziellen, ans RKI gemeldeten Zahlen flössen allerdings tatsächlich nur die Fälle ein, bei denen eine SARS-CoV2-Infektion im Labor bestätigt worden sei.

Karte der Infektionsraten der einzelnen Landkreise im Bundesgebiet. - Karte: Robert-Koch-Institut
Karte der Infektionsraten der einzelnen Landkreise im Bundesgebiet. – Karte: Robert-Koch-Institut

Im Klartext: Ein Covid-19-Fall ist nur, wer per Test bestätigt wurde, was ist aber mit Verdachtsfällen, die ungetestet bleiben? Verdachtsfälle flössen in die Statistiken nicht mit ein, sagte Schneider, und betonte zugleich: „Grundsätzlich wird bei jedem Verdachtsfall ein Test durchgeführt.“ In der Praxis ist das aber offenbar nicht immer der Fall: „Die haben zu keinem Zeitpunkt versucht, mich zu einem Test zu bewegen“, berichtet der Ingelheimer Patient. Der Mann am Telefon habe auch seine Adressdaten nicht notiert, das habe ihn gewundert.

„Ich solle zuhause bleiben und mich melden, wenn es schlimmer wird – das war’s“, berichtet der 40-Jährige weiter. Wo er sich angesteckt haben könnte, ist dem Mann ein Rätsel, er sei wochenlang nicht aus dem Haus gegangen, berichtet er. Die Einkäufe erledigte seine Frau, die hatte im gleichen Zeitraum kurzzeitig leichtes Halskratzen – getestet oder untersucht wurde sie ebensowenig wie die zwei Kinder. Nach seinem Wissen sei sein Fall dem zuständigen Gesundheitsamt Mainz-Bingen auch nicht gemeldet worden: „Ich habe von denen jedenfalls nichts gehört“, berichtet er: „Mit dem Vorgehen kann man ja auch keine Infektionsketten nachverfolgen.“

Der Fall fällt genau in die Zeit, als die Politik erste Lockerungen des Corona-Shutdowns verkündete. Die Zahl der Neuinfektionen spielte dabei eine zentrale Rolle: Nur wenn die Zahlen niedrig blieben, sei eine Lockerung zu verantworten, hieß es. Im fraglichen Zeitraum wurden für die Stadt Ingelheim keinerlei Neuinfektionen gemeldet, über Tage hinweg. Beim Gesundheitsamt Mainz-Bingen heißt es dazu auf Anfrage, an das RKI würden nur per Test bestätigte Fälle gemeldet, auch Infektionsketten würden nur bei bestätigten Fällen verfolgt – Verdachtsfällen wird somit nicht nachgegangen. „Derzeit sind die Fallzahlen niedrig, die Nachverfolgung ist also gut zu schaffen“, sagte ein Sprecher der Kreisverwaltung dieser Zeitung, pro Tag würden im Schnitt 10 Personen getestet.

Gesundheitsministerin Sabine Bätzing-Lichtenthäler (SPD) kündigte wiederholt mehr Corona-Tests an. - Foto: gik
Gesundheitsministerin Sabine Bätzing-Lichtenthäler (SPD) kündigte wiederholt mehr Corona-Tests an. – Foto: gik

Über den Fall zeigt man sich verwundert: „Der Mann hätte getestet werden müssen“, betont der Leiter des Gesundheitsamtes, Dietmar Hoffmann. Eine Berufsaufsicht über die Corona-Ambulanzen habe man aber nicht. Ob auch alle Kontaktpersonen im Umfeld eines Erkrankten getestet würden, hänge aber von Faktoren wie Laborkapazitäten, persönlichen Risikofaktoren, der Symptomatik und „dem Wunsch des Betroffenen getestet zu werden“ ab. Es könne „niemand zum Test gezwungen werden.“

In der neuen Teststrategie des Landes heißt es derweil: „Um nach den begonnenen Lockerungsmaßnahmen bei möglicherweise wieder steigender Fallzahl einen erneuten exponentiellen Anstieg der COVID-Fallzahlen in der Bevölkerung frühzeitig erkennen und schnellstmöglich eindämmen zu können, ist die frühe Identifikation von Neuinfizierten und deren Isolierung sowie die Ermittlung der Kontaktpersonen und Quarantänemaßnahmen bei engen Kontakten von herausragender Bedeutung.“

Info& auf Mainz&: Mehr zur Frage der Statistischen Zahlen in der Corona-Pandemie, wie gerechnet wird und wie die Zahlen erhoben werden, könnt Ihr hier bei Mainz& in diesem Hintergrundartikel nachlesen. Ein umfangreiches Dossier über die Corona-Pandemie mit allen Entwicklungen findet Ihr hier auf Mainz& – bitte vergesst nicht, Euch durch die Seiten zu blättern, den Button dazu findet Ihr am Ende der Seite.

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