Im Juni öffneten Wissenschaftler einen 1.000 Jahre alten Sarkophag in der Mainzer Johanniskirche, die Vermutung schon damals: Die prominente Grablege könnte dem verschollenen Mainzer Erzbischof Erkanbald gehören. Jetzt steht fest: Er ist es wirklich. In dem Sandstein-Sarkophag im Mittelschiff von St. Johannis liegt tatsächlich Erkanbald, Erzbischof von Mainz in den Jahren 1011 bis 1021, Nachfolger des legendären Willigis. Der Bischof war gekleidet in Seidengewänder, er trug Ziegenleder-Sandalen und Beinlinge aus Wolle. Seine Identität gab jedoch ein ganz unverkennbarer Stück Preis: ein Pallium, eine Art Gürtel aus Wolle, verliehen vom Papst persönlich, und untrügliches Zeichen dafür – hier liegt ein Erzbischof begraben.
„Wir haben freudige, überraschende Nachrichten: Er ist es“, sagte Dekan Andreas Klodt am Donnerstag in der Johanniskirche in Mainz. Seit der spektakulären Sarkophagöffnung im Juni hatten die Forscher die Lösung des Rätsels offen gelassen: Wer liegt in dem 1000 Jahre alten Steinsarkophag in der Johanniskirche? Dabei war schon damals klar: In dem prominent im Mittelschiff vor dem früheren Altar begrabenen Sarkophag konnte nur eine hochstehende Persönlichkeit liegen. Schnell lag die Vermutung nahe: Es muss Erkanbald sein, jener Erzbischof, der Nachfolger des legendären Domerbauers Willigis war, ein Erzbischof, über den man eher wenig weiß – und dessen Grab bislang noch fehlte.
Ende 2018 hatten die Archäologen den steinernen Sarkophag aus dem 11. Jahrhundert bei Ausgrabungsarbeiten in der Johanniskirche frei gelegt, am 4. Juni dann wurde der steinerne Sarkophag zum ersten Mal seit 1000 Jahren wieder geöffnet. Die Spannung war enorm, die ersten Ausblicke jedoch ernüchternd: Eine braune Masse zeigte sich dem Auge, für Laien waren kaum Details zu erkennen. Das Skelett des Verstorbenen war beinahe völlig zerfallen, Reste der Kleidung bis zur Unkenntlichkeit verschmolzen. Und doch machten Experten auf den ersten Bildern erste Details aus, die auf die Identität hinwiesen: lederne Schuhe, goldverzierte Borten – und Ansätze eines Palliums, jenes Gürtels, der das Würdezeichen eines Erzbischofs ist.
Heute, fast sechs Monate danach, bestätigen die Untersuchungen der Überreste, was damals nur Vermutung war: „Alles lässt den Schluss zu: Wir haben hier wirklich das Grab von Erkanbald geöffnet, wir haben wirklich die sterblichen Reste Erkanbalds vor uns“, sagte Grabungsleiter Guido Faccani am Donnerstag. Das Problem der Forscher: Im Grab des Toten fand sich nichts, was den Erzbischof eindeutig identifiziert hätte. Kein Becher, kein Bischofsring, kein Plättchen mit seinem Namen darauf wie sonst durchaus üblich – Erkanbald bekam keine wertvollen Gegenstände mit in sein Grab. „Wir sind mitten in einem Indizienprozess“, sagte Faccani deshalb, „eigentlich können wir die Person bis heute nicht eindeutig identifizieren.“
Dennoch reichen die Funde aus, um die Person eindeutig zuzuordnen: In dem Grab liege ein Mann von 40 bis 60 Jahren, etwa 1,82 Meter groß und 70 Kilo schwer, sagte die Anthropologin Carola Berszin. Damit war Erkanbald ausgesprochen groß für seine Zeit, ein Riese fast schon, in jedem Fall eine imposante Erscheinung. Das Skelett weise degenerative Veränderungen und Wohlstandskrankheiten auf, sagte Berszin, so zeigten etwa die Fußskelette Anzeichen von Fußgicht, auch litt er wohl an Morbus Bechterew, einer entzündlich-rheumatischen Erkrankung. Ansonsten aber herrscht noch immer viel Ungewissheit über Gesundheitszustand und Todesursache des Erzbischofs: „Die Überraschung war groß, dass dieses Skelett. nicht so gut erhalten war“, sagte Berszin.
Erkanbalds Leiche war mit Ätzkalk überschüttet worden, im Mittelalter geschah das, um eine schnellere Verwesung zu erreichen – oder um Leichengestank zu übertönen. Damit könnte der Erzbischof auch an einer ansteckenden Krankheit gestorben sein, Kalk war ein übliches Mittel, um die Lebenden vor giftigen Dämpfen aus dem Grab zu schützen, wie man damals glaubte. Ob Erkanbald an so etwas starb, „das wüsste ich auch gerne“, sagte Berszin – eine DNA-Analyse mit Material aus Erkanbalds Ohrknöchelchen, dem Felsenbein, laufe derzeit noch in Bozen. Die Hoffnung der Expertin ist, dass diese Analyse nähere Auskunft geben könnte.
Fest steht indes: Der Tote trug kostbare Kleidung. Eine Dalmatik, ein Untergewand aus Seide, langärmelig und mit Tiermotiven verziert, konnte die Textil-Restauratorin Anja Bayer identifizieren. „Es war ein hochwertiger, feiner Stoff, an der Seite geschlitzt“, berichtete Faccani, auch diese Tunicella sei ein Zeichen dafür, dass hier ein Bischof begraben liege. Darüber war der Tote mit einer Kasel bekleidet, einem Priestergewand aus blau eingefärbter Seide. Eine ganz ähnliche Glockenkasel – nur in Goldfarbe – ist von Erkanbalds Vorgänger Willigis erhalten und im Mainzer Dommuseum zu sehen, eine Art glockenförmiger Mantel – Erkanbald wurde mit seiner in Blau bestattet.
Am oberen Rand dieser Kasel befand sich eine Goldborte – der Fund dieses Schmuckbandes war zunächst eine Überraschung in dem frisch geöffneten Grab. Die Borte schien auf eine Bischofsmitra hinzuweisen, tatsächlich aber gehörte sie zur Kasel und war im Fall von Erkanbald mit Holz verstärkt. „Der Holzstab diente dazu, den Nacken versteift hochzustellen“, erklärte Faccani den Fund. Erkanbald sei diese Goldborte „offenbar wie eine Kapuze über den Kopf hochgezogen worden“, deshalb die ungewöhnliche Lage im Grab.
An den Beinen trug der Tote Beinlinge aus Wolle, eine Art Stoffbänder, die um die Waden gewickelt wurden und im Fall Erkanbalds schön gemustert waren. An den Füßen trug der Bischof sandalenartige, verzierte Schuhe aus edlem Ziegenleder, „das sind ganz klar Pontifikalschuhe, die ein Bischof nur zu besonderen Gelegenheiten anzog“, sagte Faccani. Der „Knaller“ bei der Kleidung sei aber ein dünner, gürtelartiger Gegenstand gewesen: „Das Pallium ist das Ehrenzeichen eines Erzbischofs, das er direkt vom Papst bekommen hat“, erklärte Faccani – in diesem Grab ein dünnes Wollband mit eingestickten Kreuzen darauf, das auf dem Toten liege. Dieses Palladium machte den Forschern klar: „Wir stehen einem Erzbischof gegenüber.“
Mit Hilfe der C14-Methode konnten Forscher um den Kölner Kernphysiker Alfred Dewald die Kleidungsstücke und Schuhe auf die Zeit zwischen 980 bis 1020 datieren, also genau in die Lebensspanne von Erkanbald. Über den Erzbischof selbst ist nur wenig bekannt: Sein Geburtsdatum ist ungewiss, er soll einer Grafenfamilie aus dem Raum Hildesheim-Braunschweig entstammen. Klar ist: Erkanbald wurde 997 im Alter von etwa 30 Jahren zum Abt des Klosters Fulda gewählt, einem der wichtigsten Klöster und Machtzentren der damaligen Zeit. Erkanbald sei ein Anhänger Kaiser Heinrichs II. gewesen und habe an dessen Krönung zum König im Jahr 1002 in Mainz teilgenommen, berichtete Faccani – in eben jenem Dom zu Mainz, in dem er heute begraben liegt.
Mit der Identifizierung des Sarkophags als Grab von Erkanbald müsse nämlich auch ein Stück Mainzer Stadtgeschichte ein Stück weit neu geschrieben werden, sagte der Mainzer Dekan Klodt: „Mainz am Rhein ist jetzt die Stadt der zwei Dome.“ Mit Erkanbalds Grab stehe nämlich auch fest, dass die heutige evangelische Johanniskirche tatsächlich der Alte Dom von Mainz sei, die Vorgängerkirche des Willigis-Doms. In der Regel bleibe aber der Alte Dom nicht stehen, wenn ein neuer gebaut werde, betonte Klodt: „Zwei Dome einen Steinwurf voneinander entfernt, das soll den Mainzern erst einmal einer nachmachen.“
Der Alte Dom blieb vermutlich auch deswegen als wichtige Stiftskirche erhalten, weil der Willigis-Dom am Vorabend seiner Weihe im Jahr 1009 erst einmal abbrannte und zu Lebzeiten Erkanbalds eine Bauruine war und blieb. Erst Erkanbalds Nach-Nachfolger Erzbischof Bardo vollendete den Dom St. Martin, der 1036 geweiht wurde. Erkanbalds Nachfolger wurden denn auch im neuen Dom bestattet, ein Vorgänger Willigis hingegen in der Kirche St. Stephan oberhalb der Mainzer Altstadt. Erkanbald sei der erste gewesen, der sich „mitten in der Stadt in seiner Amtskirche bestatten ließ“, sagte Faccani nun – Erkanbald habe damit eine neue Tradition bischöflicher Bestattungen begründet.
Bei allen Ergebnissen gibt der Tote aber noch immer Rätsel auf: Ungelöst ist weiter, warum Erkanbald in einem gebrauchten Sarkophag bestattet wurde, der auch noch verkehrt herum eingebaut wurde – als man den Fehler entdeckte, wurde der Sarkophag eilig von Innen neu behauen, seitlich der Füße „Eckpolster“ abgeschlagen, auf denen eigentlich der Kopf des Verstorbenen hätte liegen sollen. Kurz gesagt: Erkanbald ruht verkehrt herum in seinem Sarg, warum man sich nicht die Zeit nahm, den Fehler zu korrigieren, ist bislang ein Rätsel. Ein Expertensymposium im Juni 2020 soll deshalb weitere Ergebnisse diskutieren, im Januar 2020 werden zudem die Ergebnisse der DNA-Proben erwartet.
„Es bleibt spannend, es gibt noch weiter Neues“, sagte Klodt denn auch. Erkanbald indes ruht weiter in seinem wieder verschlossenen Sarkophag, und das werde auch so bleiben, betonte Klodt: „Er wird demnächst hier 1000 Jahre ruhen, und wenn es nach mir geht, wird er auch weitere 1000 Jahre in Frieden hier ruhen.“ Der Sarg werde an Ort und Stelle bleiben, und wahrscheinlich in Zukunft für die Nachwelt sichtbar bleiben. „Natürlich werden wir ihn zeigen müssen“, sagte Klodt gegenüber Mainz&: „Das ist ein Ort, der Geschichte atmet, und wir haben nun noch einmal eine ganz andere Verantwortung, diesen Ort hier zu einem Ort der Öffentlichkeit zu machen.“
Info& auf Mainz&: Mainz& war bei der Öffnung des Sarkophags am 4. Juni live dabei, unseren Bericht von dem Tag findet Ihr hier, einen zweiten Bericht über die ersten Forschungsergebnisse des Erkanbald-Grabes findet Ihr hier.