Große Spannung in St. Johannis am Dienstagfrüh, eine Crew von Wissenschaftlern macht sich an die Öffnung eines 1.000 Jahre alten Sarkophags. Nur Minuten dauert es, bis sich der schwere Steindeckel hebt, der Fund darunter – auf den ersten Blick gibt er sein Geheimnis nicht Preis. Erst im Laufe des Vormittags wird immer deutlicher: Der Sarkophag aus dem Mittelalter dürfte tatsächlich die sterblichen Überreste eines Erzbischofs enthalten. Ein Kleriker ist es in jedem Fall – damit ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass hier tatsächlich Erkanbald begraben liegt, jener Mainzer Erzbischof, der 1021 starb. Die Forscher halten sich noch bedeckt, doch Indizien deuten klar in diese Richtung – und der Mainzer Bischof spricht vom Bischof als Vorfahr…
Es ist 8.30 Uhr, als die Wissenschaftler zur Tat schreiten. Gut ein Dutzend Gestalten stehen um die Grube in der Mainzer Johanniskirche, sie alle sind in weiße Schutzanzüge gehüllt, Masken inklusive. Es ist mucksmäuschenstill, nur das Ratschen der Seilwinde ist zu hören. Am Abend zuvor haben Experten der Mainzer Dombauhütte die Gurte und Seile des Hebekrans an dem 1000 Jahre alten Sarkophag angebracht, nun ist alles bereit. Seit 1.000 Jahren lag der Deckel des steinernen Sarkophags aus dem 11. Jahrhundert unverrückt an seiner Stelle. Die Spannung ist enorm: Was befindet sich unter der 700 Kilogramm schweren Steinplatte?
Langsam, zentimeterweise hebt sich der Deckel, erst einen Spalt, dann stetig immer weiter. Gut vier Minuten dauert es, dann schwebt der steinerne Deckel zur Seite und gibt den Blick auf das Innere frei. Der erste Blick ist – verwirrend. Kein „Oh“ ertönt, kein Schrei, kein Jubelruf. Das 1.000 Jahre alte Grab gibt sein Geheimnis nicht auf den ersten Blick Preis. Eine braune Masse, einige helle Stellen, Knochen? Erde? Gewand? Schwer zu deuten. Eine sofortige Identifizierung oder Datierung des Inhalts – unmöglich. „Sie brauchen Geduld“, sagt Grabungsleiter Guido Faccani, „das ist normale Archäologie, und nicht Indiana Jones-Archäologie.“
Mit großer Spannung war die Öffnung des geheimnisvollen Grabes im Mittelschiff der Mainzer Johanniskirche erwartet worden, Ende 2018 hatten die Archäologen den steinernen Sarkophag aus dem 11. Jahrhundert frei gelegt. Es müsste, so die Annahme der Forscher, sich um das Grab des Mainzer Erzbischofs Erkanbald handeln, der Nachfolger des legendären Dom-Erbauers Willigis starb 1021. Erkanbald, ein Spross aus dem Hause Hildesheim, wurde als einziger Erzbischof in St. Johannis begraben, die heutige evangelische Kirche war damals der Alte Dom von Mainz. Die Wahrscheinlichkeit also, dass der steinerne Sarkophag zu Erkanbald gehörte, war hoch.
Nun macht sich ein dumpf-muffiger Geruch in der Johanniskirche breit, je länger die Reste mit Sauerstoff in Berührung kommen, umso intensiver werden die Ausdünstungen. Vorsichtig beugen sich die Forscher über den geöffneten Sarg, weisen auf dieses, deuten dorthin. Ganz langsam schälen sich Einzelheiten heraus: Das Dunkle ist keineswegs Erde, es sind Stoffreste, Überreste eines Gewandes. Weiße Flecken ziehen sich darüber hin – es sind Knochenreste. Die Gegend, wo der Tote einst seine Hände gefaltet hatte, wird erkennbar, etwa in Höhe des Beckens.
Das erste Highlight: Eine goldene Borte ganz oben im Grab, die Unterkante einer Mitra vielleicht. Die Gebeine der Leiche sind stark zersetzt, ein ganzer Knochen ist nicht erhalten, auch kein Schädel ist zu sehen. Der Verstorbene sei bei der Beisetzung mit sogenanntem Ätzkalk bedeckt worden, erklärt Faccani am Mittag. Ätzkalk wurde gegen Leichengestank verwendet, aber auch, um gegen Krankheiten zu desinfizieren, man habe eine Kontamination des Innenraums der Kirche verhindern wollen, sagte Faccani.
Zähne wurden ersten Annahmen zufolge nicht gefunden, wohl aber ein Innenohrknochen, wie Mainz& aus Expertenkreisen erfuhr – er könnte nun genug Material für eine DNA-Untersuchung zur Identifizierung des Toten liefern. Wer der Tote war – Faccani mag sich nicht festlegen: „Wir können den Toten derzeit nicht identifizieren oder datieren“, sagt er. Enttäuscht ist Faccani dennoch nicht: „Es ist umwerfend“, sagt er mit leuchtenden Augen.
„Noch ist Raum für Phantasie, und Phantasie braucht es auch“, sagt der Präsident der evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Volker Jung. Andere wagen sich da bereits weiter vor: „Ich gehe mit größter Sicherheit davon aus, dass es ein Erzbischof ist“, sagt Winfried Wilhelmy. Der Direktor des Bischöflichen Diözesanmuseums des Doms St. Martin gleich nebenan hat gute Gründe für seine Annahme: 1928 sei im Dom zu Mainz das letzte bis dato ungeöffnete erzbischöfliche Grab geöffnet worden, berichtet Wilhelmy – es war das Grab von Erkanbalds Nachfolger Aribo. Der war 1031 gestorben und wurde im Westchor des Doms begraben, identifiziert werden konnte er über seinen Bischofsring, den man samt Inschrift im Grab fand.
„Alles hier erinnert mich an Aribo“, sagt Wilhelmy mit gespanntem Blick auf den Bildschirm. Besonders die goldene Borte im Kopfbereich hat es dem Museumsdirektor angetan: „Die ist exakt identisch mit dem unteren Band der Mitra, die wir bei Aribo gefunden haben“, sagt Wilhelmy. Die sei 2,5 Zentimeter hoch gewesen und genau von der gleichen Machart, „es könnte sogar dieselbe Werkstatt sein“, sagt Wilhelmy. Ungewöhnlich sei das nicht, die beiden Bestattungen trenne ja nur zehn Jahre voneinander.
„Der Tote trug eine Mitra und liturgische Gewänder“, glaubt Wilhelmy, sogar ein Pallium meint der Experte auf dem Bildschirm auszumachen. Das Pallium ist ein Amtsabzeichen eines Erzbischofs, das fünf bis 15 Zentimeter breite Band musste direkt in Rom beim Papst abgeholt werden – es wäre der eindeutige Beleg dafür, dass der Tote im Sarg ein Erzbischof war. Das Dunkle sei der Stoff des Obergewandes, der Casel, erklärt Wilhelmy weiter, dazwischen leuchten an manchen Stellen immer wieder goldene Bordüren auf.
„Dort unten sieht man den Saum der Albe, des hellen Untergewands“, sagt Wilhelmy, „darunter die Schuhe, die sind nahezu perfekt erhalten.“ Stoffschuhe seien es gewesen, mit Bändchen, auf feine Art und Weise gearbeitet, heißt es am Mittag, sie könnten Aufschluss über den Stand des Toten geben. Der Tote liege mit dem Kopf nach Westen gebettet, den Blick Richtung Osten, „zur aufgehenden Sonne und zu Christus“, erklärt Wilhelmy. Offenbar habe man den hohen Toten vor dem Ostchor bestattet, womöglich besaß St. Johannis im 11. Jahrhundert somit zwei Chöre, einen im Osten und den heutigen im Westen.
Ein Rätsel gibt den Wissenschaftlern der Sarg selbst auf: Er sei von innen komplett behauen und abgeschlagen worden, sagt Faccani am Mittag. Offenbar habe man den Sarkophag erweitert, um ihn der Größe des Toten anzupassen. Womöglich sei der Sarkophag schon einmal benutzt und für diese Person umgearbeitet worden, spekuliert der Grabungsleiter: „Das gibt noch spannenden Debatten mit den Steinmetzen.“
Rund um den Kopf des Toten sind drei Steine angeordnet, die wie ein aufgeschlagenes Buch wirken, der Kopf des Bestatteten war wohl auf ein Kissen gebettet – die Archäologen fanden hier Reste von Textilien. Ob sich doch noch der Bischofsring findet oder anderes aus Metall – eine Untersuchung mit Metalldetektoren soll es klären. Eine gekrümmte Form meint Wilhelmy links vom Kopfbereich auszumachen – könnte es die Krümme eines Bischofsstabes sein, eingeschlagen in Textil?
„Ich bin konfrontiert mit einem meiner Vorgänger, das finde ich bewegend“, sagte der Mainzer Bischof Peter Kohlgraf: „Wir sind Teil einer Glaubensgeschichte, die auch in die Zukunft geht.“ Von einem bewegenden Ereignis sprach auch Kirchenpräsident Jung: „Wir sind konfrontiert mit Vergänglichkeit und mit Hoffnung zugleich, das haben wir heute morgen auch gespürt“, sagte Jung. Die Erwartungen über die Graböffnung seien „mehr als erfüllt“, der Erhaltungszustand sei „außerordentlich gut“, das gebe die Chance auf weitere Rückschlüsse. „Die Vermutung, dass es ein Bischof gewesen sein könnte, liegt nahe“, sagt Jung, „das muss aber noch wissenschaftlich bestätigt werden.“
Ein Team von 14 Wissenschaftlern beugt sich gleich nach Öffnung des Sarkophags über die Überreste, darunter Röntgenologen, Textilexperten und Anthropologen. Zwei Wochen lang wollen sie nun den Inhalt genauer erforschen. Dabei sollen unter anderem Webart und Muster der Textilien bestimmt werden, Textilproben sowie Knochenproben sollen in Laboren mit Hilfe der C14-Methode sowie mit DNA-Tests mit Blick auf Herkunft und Alter untersucht werden. „Es ist durchaus möglich“, sagt Faccani dann doch noch, „dass wir hier Erkanbald im Sarg liegen sehen.“
Info& auf Mainz&: Mehr zur Vorgeschichte des Sarkophags und seines Fundes in St. Johannis lest Ihr hier bei Mainz&. Mehr zu den Funden in St. Johannis lest Ihr in dieser Mainz&-Geschichte. Eine ausführliche Dokumentation der Funde, der Grabungen sowie der Kirchengeschichte von St. Johannis findet Ihr auf einer speziellen Internetseite der Johanniskirche – auch zu den heutigen spektakulären Entwicklungen. Den Sarkophag samt seinem Inhalt könnt Ihr auch selbst besichtigen: Am kommenden Samstag, den 8. Juni 2019, kann man von 11.00 Uhr bis 15.30 Uhr die Johanniskirche besichtigen, der Zugang erfolgt vom Ostchor der Kirche.