Der Skandal um falsch datierte Schädelfunde in der Landesarchäologie weitet sich aus: Nach 21 vermutlich falsch datierten Schädelfunden, gibt es nun 18 weitere Verdachtsfälle, wie das Mainzer Innenministerium am Montag mitteilte. Demnach ist der berühmte „Neandertaler von Ochtendung“ offenbar gar kein Neandertaler gewesen – und auf dem „Schlachtfeld von Riol“ kämpften womöglich auch nicht Römer mit Germanen im 1. Jahrhundert nach Christus. Damit weitete sich der Skandal in der GDKE erheblich aus – und es stellt sich die Frage: Wer wusste alles von den falschen Datierungen und warum fielen sie nicht früher auf?

Eine nachgestellte Römerkohorte beim Römerfest im Mainzer Landesmuseum. - Foto: gik
Eine nachgestellte Römerkohorte beim Römerfest im Mainzer Landesmuseum. – Foto: gik

Es war im November 2015, als die Archäologen der Generaldirektion Kulturelles Erbe (GDKE) einen begeisternden Fund meldeten: Auf dem „Schlachtfeld von Riol“ im Kreis Trier-Saarburg kämpften einst römische Legionen im 1. Jahrhundert nach Christus gegen Germanen, so vermeldeten es die Ausgräber. Metalldetektoren hätten bereits „eine ganze Reihe von römischen Münzen ans Licht gefördert, die eine Datierung um das Jahr 70 n. Chr. erlauben“ – so zitierte damals die Welt den Landesarchäologen Axel von Berg. Er und sein Team seien „sich sicher, dass auf der Gemarkung des antiken Rigodulum eine Schlacht zwischen Römern und Germanen stattgefunden hat.“

Nur: Womöglich hat es die antike Schlacht auf diesem Feld im Landkreis Trier-Saarburg so doch nicht gegeben. Die archäologische Datenbasis für den „vorgeblichen Fundort“ einer tatsächlich bei Tacitus belegten Schlacht aus dem 1. Jahrhundert nach Christus habe sich „bei der Überprüfung als unzureichend herausgestellt“, räumte nun das Mainzer Innenministerium ein. Wie diese Feststellung zusammengeht mit den damals berichteten Münzfunden aus der Römerzeit sowie angeblichen Metallresten von Legionärsuniformen – unklar.

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„Schlachtfeld von Riol“: Gar keine Schlacht Römer und Germanen?

Die derzeit laufende Überprüfung gehört zu einem Archäologieskandal, der das zeug hat, zu einem der größten Skandale dieser Art in Deutschland zu werden. Anfang Oktober hatte das Mainzer Innenministerium, zuständig für die Generaldirektion Kulturelles Erbe (GDKE) in Rheinland-Pfalz offen gelegt, dass ein leitender Mitarbeiter der Landesarchäologie geschichtsträchtige archäologische Funde „möglicherweise bewusst und über Jahre hinweg manipuliert“ hatte. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit standen zunächst 21 Schädel oder Schädelfragmente, die falsch datiert worden waren – oft waren sie älter gemacht worden, als sie in Wirklichkeit waren.

Wie die Vorfahren der modernen Menschen aussahen, übt von jeher eine große Faszination aus - hier Nachbildungen von Hominiden in einer Ausstellung 2005 im Landesmuseum Darmstadt. - Foto: gik
Wie die Vorfahren der modernen Menschen aussahen, übt von jeher eine große Faszination aus – hier Nachbildungen von Hominiden in einer Ausstellung 2005 im Landesmuseum Darmstadt. – Foto: gik

Eigentlich habe es sich sogar um 23 Schädelfragmente gehandelt, auf die ein Verdacht wegen falscher Datierung gefallen war, sagte Innen-Staatssekretärin Simone Schneider im Gespräch mit der Internetzeitung Mainz&. Diese wurden Anfang 2024 einer anthropologischen Untersuchung sowie einer Datierung mit Hilfe der C14-Methode unterzogen, das Ergebnis: „Lediglich zwei der 23 Fragmente passten in die angegebene Zeit des 5. Jahrhunderts vor Christus, 21 aber passten nicht zu der Zeit“, sagte Schneider.

Statt aus der vorchristlichen Zeit hatten die Fragmente ihren Ursprung im Mittelalter oder sogar erst aus der Neuzeit, diese Ergebnisse habe das Land Ende August erhalten, sagte die Staatssekretärin weiter. Aufgekommen war der Verdacht durch die Anfrage einer Universität, die sich an das Land mit der Bitte um Überprüfung wandte – die Hochschule hatte bei der Überprüfung einer Doktorarbeit, die auf diesen Funden datierte, sowie zu der Ausgrabung der Funde Unstimmigkeiten entdeckt. Die Anfrage ist offenbar schon älteren Datums, wie Schneider auch berichtete, entschied man sich im Land wegen immer neuen Fragen Anfang 2024 dazu, die Schädelfragmente wissenschaftlich überprüfen zu lassen.

„Neandertaler von Ochtendung“ lebte im Frühmittelalter

Und inzwischen steht fest: Bei den 21 Schädeln und Schädelfragmenten ist es nicht geblieben. Inzwischen seien zahlreiche weitere Projekte überprüft worden, an denen der im Verdacht stehende Mitarbeiter beteiligt gewesen sei, hieß es nun am Montag. Und daraus ergäben sich nun aktuell 18 weitere Verdachtsfälle – darunter auch das „Schlachtfeld von Riol“. Alle Verdachtsfälle würden nun „systematisch abgearbeitet“, betonte die Staatssekretärin weiter.

Dieses Schädelfragment galt als Überrest eines Neandertalers aus Ochtendung - und damit als "ältester Rheinland-Pfälzer". Nun stellte sich bei einer Überprüfung heraus: Der Schädel ist 170.000 Jahre jünger. - Foto: GDKE
Dieses Schädelfragment galt als Überrest eines Neandertalers aus Ochtendung – und damit als „ältester Rheinland-Pfälzer“. Nun stellte sich bei einer Überprüfung heraus: Der Schädel ist 170.000 Jahre jünger. – Foto: GDKE

Zu den weiteren neuen Verdachtsfällen gehört ein weiteres vermeintliches Highlight archäologischer Funde in Rheinland-Pfalz: der „Neandertaler von Ochtendung“. Die Schädelreste eines vermeintlichen Neandertalers wurden angeblich 1997 beim Abbau vulkanischer Lava in Ochtendung bei Koblenz gefunden und galten bislang als ältester Urmenschen-Überrest aus Rheinland-Pfalz. Nun ergab eine Untersuchung mittels der Radiokarbonmethode (C14) jedoch: Das Schädelfragment stammt offenbar aus dem Frühmittelalter, also dem 7. oder 8. Jahrhundert nach Christus – und ist damit wohl rund 160.000 bis 170.000 Jahre jünger als bislang angenommen.

Die Schädelreste waren auch in der großen Landesausstellung „vorZEITEN“ im Jahr 2017 gezeigt worden, beschrieben als Schädelkalotte eines 30- bis 45-jährige Mannes – und des „ältesten Rheinland-Pfälzers”. Allerdings war der damalige „Neandertaler-Schädel“ vermeintlich von weiteren Funden aus der Steinzeit flankiert worden, darunter steinerne Werkzeuge oder Knochen von Beutetieren wie Rentier, Pferd oder riesigen Wollnashörnern.

Falschdatierungen über mehr als 20 Jahre nicht aufgefallen

„Aktuell wird der weitere Umgang mit diesen Ergebnissen geprüft“, teilte Schneider weiter mit, und betonte: „Wir haben der Öffentlichkeit und insbesondere der Wissenschaft zugesichert, dass wir fortlaufend zu den Ergebnissen der Untersuchungen berichten, um weiteren wissenschaftlichen Schaden abzuwenden. Daran werden wir uns auch weiterhin messen lassen.“ Damit aber nimmt der Skandal ein Ausmaß an, das die gesamte GDKE erschüttern dürfte. Denn damit reicht der Zeitrahmen der falsch datierten Funde schon jetzt von 1997 bis 2015 – und damit über rund 20 Jahre. Im Ministerium ist bislang aber sogar von einer möglichen Zeitspanne von 30 Jahren die rede.

Nachbildung eines Wollnashorns aus dem Pleistozän im Naturhistorischen Museum in Mainz. - Foto: gik
Nachbildung eines Wollnashorns aus dem Pleistozän im Naturhistorischen Museum in Mainz. – Foto: gik

Das wirft einiges an Fragen auf: Warum aber fielen die falschen Datierungen und Manipulationen über einen so langen Zeitraum nicht auf? Es habe zunächst einmal „keine Anzeichen“ für Manipulationen gegeben, sagte Schneider gegenüber Mainz&: „Es ist nicht so, als würde man jeden Schädel durch eine C14-Methode untersuchen lassen.“ Bei jeder Grabung gebe es eine Grabungsdokumentation, „wenn da alles zunächst dem Anschein nach passt, muss ein Dienstherr auch seinem Mitarbeiter vertrauen können“, betonte sie. Doch Archäologen arbeiten so gut wie immer in Teams, es gibt Vorgesetzte und Fachkollegen – hätten so viele Falschdatierungen da nicht auffallen müssen?

Auf die Frage, ob es denn kein Vier-Augen-Prinzip zur Beurteilung der Funde gegeben habe, wie das in der Wissenschaft eigentlich üblich ist, antwortete die Staatssekretärin: „Tatsächlich ist das inzwischen eingeführt.“ Im Oktober 2024 habe sich die GDKE zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis und zum Umgang mit Verdachtsfällen neue Leitlinie gegeben und damit die alten Leitlinien von 2013 fortentwickelt, sagte Schneider weiter. Die neue Leitlinie sehe jetzt auch ein Ombudswesen vor, an das sich Mitarbeiter wenden können, wenn sie einen Verdacht gegenüber Kollegen hegen.

Skandal weitet sich aus

Als Ombudsleute wurden der Landesarchäologe von Schleswig-Holstein, Ulf Ickerodt, sowie die Professorin Silviane Scharl vom Institut für Ur- und Frühgeschichte der Universität zu Köln benannt, die beiden Experten helfen derzeit auch bei der Aufklärung der Verdachtsfälle mit. Um welchen Mitarbeiter genau es sich handelt, will man im Mainzer Ministerium weiter nicht sagen, doch auch der Neandertaler-Schädel wurde von dem langjährigen Koblenzer Landesarchäologen Axel von Berg gefunden.

Es gelte weiter die Unschuldsvermutung, betont man im Ministerium, dem fraglichen Mitarbeiter werde rechtliches Gehör gewährt. Gegen den Mann sei bereits ein Disziplinarverfahren anhängig gewesen, das sei nun wegen der neuen Vorwürfe ausgeweitet worden. Doch die Ausweitung jetzt zeigt: Die Bezeichnung „systematisch und über Jahrzehnte hinweg“ war schon im Oktober von Ministeriumsseite äußerst bewusst gewählt.

Eine bewusste „Manipulation geschichtsträchtiger Funde, das ist nicht unser Anspruch in Rheinland-Pfalz“, sagte Schneider: „Diese Erkenntnisse sind geeignet, das Vertrauen in die Redlichkeit unserer Verwaltung, in die wissenschaftliche Aufarbeitung der Funde und in die Vertrauenswürdigkeit unser Dokumentation zu beinträchtigen.“ Die Geschichte von Rheinland-Pfalz müsse „nicht umgeschrieben werden“, hatte Schneider noch im Oktober gesagt – womöglich ist auch dieser Satz nicht mehr lange zu halten.

Info& auf Mainz&: Mehr zu dem Skandal in der Landesarchäologie könnt Ihr auch noch einmal hier bei Mainz& nachlesen.