Man kann ja eine Sitzung auch einfach mal in 4.11 Minuten machen. So richtig komplett mit Komittee, Protokoller, Ballett, Margittche, Guddi Gutenberg und natürlich den Hofsängern. Kann man nicht? Die Schnorreswackler können: Bei den Närrischen Kammerspielen des Gonsenheimer Carneval-Vereins (GCV) zauberte die junge Gesangstruppe eine Turbo-Sitzung auf die Bühne, dass das Zwerchfell Überstunden machen musste. Zum Start des 125. Jubiläumsjahrs legen die Gonsenheimer auf ihr ohnehin schon übliches Niveau noch mal einen drauf: In der Gründungskneipe Zum Xaver gab es großes närrisches Theater feinster Machart.
Es war im Jahr 1892, als sich in einer Kneipe mitten im alten Gunsenum (Gonsenheim für Nicht-Meenzer) ein Lehrer, der reichste Bauer des Ortes, der Pfarrer und der Bäcker trafen. „Die Kneipe hatte einen Ofen, und der war warm – wer weiß, wie wir sonst geheißen hätten“, sagte der frisch gebackene Präsident Martin Krawietz zur Eröffnung. Im schicken Frack schwang Krawietz nun nicht mehr die Protokoller-Seiten, sondern dirigierte mit seiner Glocke vom Rande aus die Spielerschar auf der Bühne – ganz gemäß der neuen Rolle als Chef des Vereins. Und natürlich ehrte der zu Beginn erst einmal seinen Vorgänger. Horst Ernerth wurde für seine 17 Jahre währende Präsidentschaft flugs zum Ehrenpräsidenten ernannt. „Wir haben gar nicht anders können „, entschuldigte sich Krawietz.
Die Gonsenheimer zeichnen sich einfach dadurch aus, dass sie die Fastnacht zwar mit tiefstem närrischen Herzblut feiern, sich selbst dabei aber überhaupt nicht ernst nehmen. Und so strotzte die Anstatt-Komittee-Crew aus Sebastian Grom (Lehrer, für gewöhnlich Sitzungspräsident), Peter Büttner (Pfarrer), Rudi Hube (Bauer) und Thomas Becker (Bäcker) nur so von Frotzeleien über Gunsenumer, Bäcker („Mein Schwiegersohn, der Ditsch, der ist so faul, für den müsste man ’ne Maschine erfinden, wo der fertige Teig oben reinkommt und die fertige Brezel unten raus…“) und Gunsenumer Becker („Der hat schon 11 Kinder, der will wohl ganz Gunsenum bevölkern…“).
Wunderbar dabei die Neuentdeckung Peter Büttner als „Parrer“ mit Riesen-Piffche (Riesen-Weinglas), der gegen Ende seinen Rausch so überzeugend spielte, dass Grom ihn völlig verdutzt fragte: „Spielst Du das noch, oder bist Du echt so voll?“ Was ist schon das vorbereitete Skript, wenn man in Gunsenum ist? Wenig ert, war die Antwort am Samstagabend: Ob die Technik streikte, die Schnurrbärte rutschten oder der Text einfach ausblieb – die Akteure auf der Bühne rissen mit spontaner Situationskomik („Die E-Mail mit dem Text von 1892 hat sich wohl verspätet“) alles raus, was da kam und die Zuschauer so erst recht zu Lachsalven hin.
Nein, es war keine übliche Sitzung mit Protokoller und Guddi Gutenberg – und das bekam den Kammerspielen ausgesprochen gut. Die Nachrichten Anno 1892 verkündete stilecht der Leierkastenmann, und Peter Beckhaus verkörperte wieder einmal mit viel leisem Feinsinn eine nostalgische Figur. Den Kurbelkasten mit Strippe, genannt Telefon, verkündete er als neueste Erfindung, ebenso die Rolltreppe und das Weckglas mit dem Gummiring. Nur eines, das war doch immer gleich in Mainz: Anno 1892 bauten sie die Gleise für die Ludwigsbahn durch Mainz, und „durch die Bauarbeiten liegt der Stadverkehr ganz lahm…“
Nun, in jener Schänke zum Xaver jedenfalls, da suchten die vier Herren nach einem neuen Zeitvertreib – ihr Sparverein war gerade jämmerlich am Durst gescheitert. „Was mit Zukunft! Was Modernes!“ will der Lehrer. „Ein Theater“, schlägt einer vor. „Mitten in der Stadt? Du bist doch nicht ganz dicht“, sagt der Becker. Der will aus der Bäckerblume vorlesen, der Lehrer will lieber Shakespeare – Auftritt der vier Souffleure. Und die demonstrieren, was man aus „Sein oder nicht…“ alles machen kann: Souffleur 1 war beim Zahnarzt und ist deshalb nicht zu verstehen („Dein oder nicht Dein!“), Souffleur 2 ist ein Baum, der mehr mit den Blättern raschelt, und Souffleur 3 ist Koch („Wein oder nicht Wein!“) – alles zusammen ergibt Kokolores und solch hochwertigen Klamauk, dass das Publikum nicht mehr weiter weiß vor Lachen.
Kein Wunder, stehen da doch Michael Emrich, Benno Hellmold, Christian Schier und Martin Heininger gemeinsam auf der Bühne, und die vier Urfastnachter sind als Team eine wahre Fastnachts-Gewalt. Ganz nebenbei wird noch die halbe abendländische Theaterkultur durch den Kakao gezogen – ganz großes Kino. Noch zwei Mal kommen die vier am Abend wieder – aber dazu später mehr.
„Nein, Theater geht nicht“, sagt Lehrer Grom nach dem wahrhaft närrischen Ausflug auf die Bretter Kopf schüttelnd, „Wir brauchen etwas ganz Neues, was der Vorort noch nie gesehen hat.“ – „E Eishäusche auf dem Juxplatz?“, fragt einer. Nein, der Lehrer weiß Rat: Da gibt es doch den MCV, den Mainzer Carneval-Verein, der macht so Sitzungen, „des ist lustisch, des mache mer aach!“ Sitzungspräsident will der Lehrer auch gleich werden. „Nix da“, bescheiden ihn seine Kollegen: Erstens sei er viel zu dünn, zweitens kein Messdiener (namens Andreas Schmitt, Anmerkung der Verfasserin) – „bevor du das wirst, wird erst bei uns eine Frau Reichskanzlerin, und ein Meerschweinchen amerikanischer Präsident!“ Die Geschichte hat das bekanntlich schon entschieden…
Die vier Herren begeben sich derweil auf die Suche nach Programmpunkten: „Wir brauchen politische Reden mit Witz und Schärfe“, sagt Grom, „Kokolores, Unsinn, Dummzeug.“ Witze brauche man, findet der Bäcker: „Gemüse-Witze, Kartoffel-Witze, Bo(h)ne-Witze…“ Bekanntlich hat auch diesen Wunsch die Geschichte weise erfüllt – mit Herbert Bonewitz brachte der GCV einen der größten Fastnachter aller Zeiten hervor.
Grom Senior, Erhard mit Vornamen, schreitet derweil ein, stänkert über die Idee mit dem Fastnachtsverein, grantelt, schimpft: „Heute gegründet, morgen bankrott“, prophezeit er, ein Vorortverein habe doch kein Niveau und dann noch in so einer alten Turnhalle, „da kommt doch keiner!“ Das alles verpackt der Grom wie immer in perfekte fastnachtliche Reimkultur – na, das ist doch der erste Vortrag! Wirt Xaver entpuppt sich danach als Gesangstalent: Uli Brüggen legt als Sänger eine geniale Nummer zwischen Stimmungslied und gerocktem Jazz hin und reißt den Saal zur Standing Ovation von den Sitzen – wo war der Mann die letzten Jahre nur?
Singen können auch die Fleischworschtathlete, gute Stimmung verbreiten auch – „einstimmig angenommen“, ruft der Lehrer begeistert. Das gilt natürlich auch für Ercan Demirel und die Brüder Andy und Matthias Bockius: Die Blues Brothers von Mainz besingen den ausgefallenen Rosenmontagszug, rappen die Halle und werden mit „Komm mit nach Meenz“ und ihrer Hymne „Das heeßt Meenzer“ gerade zu den neuen heimlichen Stars der Fastnacht. Und wie gut, dass den Hausfrauen für ihr Turnen gerade der Raum abhanden gekommen ist – so kommt der neue Fastnachtsverein auch zu seinem Ballett, in diesem Fall der Füsiliergarde.
Ein zweites Mal schwingen dann später die Mädels vom GCV-Ballett mit Dirndln, Lederhosen und einer heißen Techno-Nummer die Beine – auch in diesem Jahr steppt wieder Christoph Seib als Mann in der Mitte mit. Klasse! Seib hatte zuvor schon den „Zimmermann auf Wanderschaft“ gegeben. Der kalauert sich erst mal durch die italienischen Nudelsorten und dreht dann so richtig mit einem „Gouda-to si“-Lied samt Fortsetzung hin zum Schimmelkäse auf… zum Kugeln.
So geht es rasant weiter durch Gesellschaft, Politik und Vereinsgeschichte im bunten Mix. Der Rosenverkäufer ist Chinese und verkauft deshalb Lose statt Rosen – oder Postkarten, wobei er auf einmal verteufelte Ähnlichkeiten mit einem gewissen Herrn Hitler hat. Mario Vohmann gibt einen herrlich verdreht-närrischen Running Gag, für den er völlig verdient vom Publikum gefeiert wird. Überhaupt schaffen es die Gonsenheimer wieder einmal, eine ganze Riege neuer Gesichter auf die Bühne zu zaubern – ein Haufen neuer Talente! Wie etwa Jens Ohler, Johannes Emrich, Andi Müller und Achim Hube (naja, nicht alle davon sind neu ;-)), die als junge Gegenstücke zum Quartett Emrich, Hellmold, Heininger und Schier agieren: In einer wahrhaft närrischen Eulen-Spiegelei mimen die Acht „Die 4 Alte und die 4 Junge“ auf der Parkbahn – was so aus den Leuten nach 125 Jahren wird…
Die sinnieren über den Brexit – und bekommen gleich eine Idee: „Da könnten dann doch auch die Kasteler abstimmen, dann wär’s ein Wixit“, sagt einer. „Nein, ein Kaxit“, sagt ein anderer. Nur bei einem ist man sich einig: „Mainzelbahn? Scheißdreck“, grantelt einer, „was will ich denn uff de Lerchenberg? Wenn ich ZDF gucke will, mach‘ ich den Fernseher an.“ Auch die Veganer kriegen ihr Fett weg, ebenso Mainz 05-Präsident Harald Strutz, der wegen seiner Jahresbezüge von 300.000 Euro einstecken muss: „Bei 05 haben sie noch einen ehrenamtlichen Helfer im Verein – den Präsidenten…“ – „Mer strutze net, mer hunn“, ergänzt ein Alter, für die Hochdeutschen unter Euch: „Wir prahlen nicht, wir haben…“
Apropos prahlen: Natürlich strandet in der Kneipe zum Xaver auch ein Wiesbadener – Hans-Peter Betz gibt mit großer Geste einen herrlich überkandidelten Wissbadener Baron. Köstlich! Der „Guddi Gutenberg“ genießt es sichtlich, mal in eine andere Rolle zu fallen und gibt natürlich eine wunderbare Zielscheibe für alle Bosheiten über die Nachbarn jenseits des Rheins ab. Vielleicht sollte man doch, sinniert der Herr Baron, eine Brücke von Schierstein über den Rhein bauen… „Gott bewahre“, sagt der Pfarrer: „Was Gott geschieden hat, soll der Mensch nicht verbinden!“
Nun ja, beruhigt der Baron: „Gut Brück‘ will Weile haben“, und man könne ja einfach mal von beiden Seiten anfangen zu bauen, dann entscheide sich in der Mitte schon, ob es zwei oder vier Spuren würden… Das Chaos um die Schiersteiner Brücke und die verkorksten Planungen auf Mainzer Seite waren natürlich gemeint. Im Xaver ist derweil das Amt für Vereinsgründungen aufmarschiert, und die Herren vom Amt sind höchst skeptisch: Carneval Verein, was soll das sein? „Ein Verein für die, die keiner woanders braucht“, mutmaßt einer der Herren, „das ist dann Brauchtumspflege…“ Thorsten Schäfer und Torsten Spengler (oder waren die „h“s anders verteilt? Sorry, die Herren!) legen zwei feine Amts-Herren hin.
„Es läuft, die Sitzung ist fast komplett“, seufzt Lehrer Grom glücklich – und dann kommen doch noch die Elvis Brothers. Noch einmal legen Emrich, Hellmold, Heininger und Schier närrische Situationskomik pur aufs Parkett, kämpfen mit sich auflösenden Perücken und rocken mit Rucki Zucki nach Elvis-Manier den Saal. Für atemlose Gänsehaut aber sorgt eine ganz besondere Ballade: Wenn das Heile Gänsje „In the Ghetto“ erklingt, dann hält der Saal die Luft an, scheint die Welt einen Moment lang still zu stehen – ein Geniestreich von, natürlich, Christian Schier.
Am Ende ist der Wein geleert, der vielversprechende neue Carneval-Verein gegründet – nur der Name fehlt noch. Also wird erst einmal ein Foto der stolzen Runde gemacht, zu sehen sind darauf aber nur verwackelte Schnauzbärte… Die Geburt der Schnorreswackler! Und die legen gleich darauf ihre furiose Turbo-Sitzung in 4.11 Minuten aufs Parkett – die Fastnacht in Gunsenum ist geboren! Wir gratulieren und freuen uns schon mal auf die nächsten 125 Jahre. 😉
Info& auf Mainz&: Vorher wird natürlich erst einmal das 125. Jubiläum des Jahres 2017 gefeiert – der GCV tut das unter anderem mit einer großen Jubiläumssitzung am Samstag, den 3. Februar 2017 in der Mainzer Rheingoldhalle. Infos und Karten gibt’s hier im Internet.
Und hier noch unsere Fotogalerie – bitte schön: