Wir müssen gerade mal etwas Ungewöhnliches machen: Einen Artikel posten, der mit Mainz eigentlich gar nichts zu tun hat. Aber in Hessen ist seit dem Sonntag ein Thema aufgeschlagen, das die gesamte Republik erschüttern könnte – auch die politische Szene in Mainz. Im Raum stehen Vorwürfe von ungeheuerlicher Dimension: Wusste der hessische Verfassungsschutz vor dem Mord vom Kasseler Mord des rechtsextremen Terrortrios NSU – und verhinderte ihn nicht?
Im Raum stehen neue Dokumente, die nahe legen: Der damalige hessische Verfassungsschützer Andreas Temme wusste von Tatort, Tatzeit und Opfer – und er war sogar vor Ort. Und möglicherweise wussten seine Vorgesetzten davon. Fest steh auch: der damalige Innenminister und heutige Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) kannte den Fall Temme, setzte sich für ihn ein – und verhinderte, dass die Staatsanwaltschaft Temmes Quellen vernehmen durfte.
Es sind Vorwürfe einer Dimension, dass einem schlecht werden kann. Sollten sie wahr sein, werden sie die gesamte Republik und ihren Sicherheitsapparat erschüttern. Denn dann würde sich die Frage stellen: Was ist für den Verfassungsschutz eigentlich eine Gefahr – und wen schützen die Schützer?
Den folgenden Artikel schrieb Mainz&-Gründerin Gisela Kirschstein in ihrer Eigenschaft als Korrespondentin der hessischen Landespolitik für die Rheinpfalz. Leider ist der Artikel nicht frei zugänglich, deshalb können wir ihn hier nur als paid content anbieten. Vielleicht mögt Ihr ihn trotzdem lesen – es ist sogar der Director’s Cut, also der Autorin volle Geschichte. Die Inhalte beruhen auf einem Artikel der „Welt am Sonntag“, der am 21. Februar erschien.
Die Vorwürfe sind unfassbar, und wenn sie stimmen, wird das ein Erdbeben in der sicherheitspolitischen Landschaft der Republik auslösen: Wusste der hessische Verfassungsschutz im April 2006 von dem bevorstehenden Mord an dem Kasseler Internet-Café-Inhaber Halit Yozgat – und hat er ihn nicht verhindert? Und wusste der heutige Ministerpräsident und damalige hessische Innenminister Volker Bouffier (CDU) davon?
Bouffier wies die Vorwürfe am Dienstag entrüstet und entschieden zurück. Dass ihm unterstellt werde, er habe die Vertuschung eines Mordes gebilligt oder gar unterstützt, sei „eine Ungeheuerlichkeit und eine Unverschämtheit“, er weise das „in aller Form zurück.“ Es war eine Flucht nach vorne, bei der Bouffier seine Sätze vom Papier ablas – höchst ungewöhnlich für den sonst sehr redseligen Ministerpräsidenten
Doch die neuen Erkenntnisse, die eine Journalistengruppe um den früheren Spiegel-Chef Stefan Aust in der „Welt am Sonntag“ veröffentlichte, sind belastend. Danach war der frühere hessische Verfassungsschützer Andreas Temme am 6. April 2006 keineswegs privat im Internetcafé des türkischstämmigen Halit Yozgat in Kassel – sondern dienstlich. Und zwar genau zur Mordzeit.
Andreas Temme ist ein zwielichter Typ, die Polizei fand bei Hausdurchsungen bei ihm rechte Schriften, darunter Hitlers „Mein Kampf“, Temme galt als gut vernetzt in der rechten Szene. Temme war 2006 Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes in Kassel und führte mehrere V-Männer, vorwiegend aus der islamistischen Szene.
Ein V-Mann allerdings stammte aus der rechtsextremistischen Szene: Benjamin Gärtner, Tarnname „Gemüse“. Gärtner gehörte, wie man heute weiß, zum erweiterten Umfeld des NSU-Trios, Trios, das zwischen 2000 und 2006 neun Morde an Menschen türkischer Herkunft und einem griechischer Herkunft beging. Der Mord an Halit Yozgat in Kassel war Mord Nummer neun und der letzte Mord der Serie. Begangen wurden alle Taten mit der gleichen Waffe, einer Pistole der Marke Ceska.
An jenem 6. April 2006 telefonierte Temme, so besagen die neuen Erkenntnisse, gleich zweimal mit seiner rechten Quelle „Gemüse“, das letzte Mal nur knapp eine Stunde vor dem Mord. Nach dem zweiten Telefonat fuhr Temme, so die Recherchen, unmittelbar zu Yozgats Internetcafé. Gegen 16.50 Uhr loggte er sich für elf Minuten mit einem Computer ein und verließ das Internet-Café um 17.01 Uhr – in der Minute des Mordes. Wusste Temme also von Tatzeit, Tatort und Opfer? Kann es Zufall sein?
Bei Temmes Aussage im NSU-Prozess vor dem Münchner Gericht äußerte sogar der Richter explizit Zweifel am Wahrheitsgehalt von Temmes Aussagen. „Niemand glaubt Temme“, sagte damals der Innenpolitikexperte der Linksfraktion im hessischen Landtag, Hermann Schaus. So viele Zufälle auf einmal, das werfe Fragen auf.
Die hatte auch die Polizei, denn Temme hatte sich nach dem Mord nicht als Zeuge gemeldet. Rekonstruktionen der Polizei ergaben später, dass der 1,90-Meter-Mann Temme die Leiche Yozgats nicht hätte übersehen können – faktisch muss er beinahe über die Beine gestolpert sein. Damit noch nicht genug: Temme telefonierte seltsamerweise an zwei weiteren Mordtagen des NSU-Trios mit Gärtner – am 8. Juni 2005, als ein Mord in Nürnberg geschah, und sechs Tage später beim Münchner Mord. Und Gärtner war beide Male in der genau der Stadt, in der der Mord geschah. Noch mehr Zufälle?
Die Rechtsanwälte der Familie Yozgat im Münchner NSU-Prozess glauben das nicht. Für sie steht offenbar aufgrund der Faktenlage fest: Temme war an jenem Tag dienstlich im Internetcafé. Er wusste die Tatzeit und den Tatort – und er hatte womöglich Täterwissen. Am Montag nach dem Kasseler Mord plauderte Temme mit einer Kollegin über den Mord und verwies dabei auf die Ceska als Tatwaffe, das aber war zu diesem Zeitpunkt öffentlich noch gar nicht bekannt.
Temme geriet bei den Ermittlungen selbst unter Mordverdacht, vom 19. April an hörte die Polizei das Telefon des Verfassungsschützers ab – und machte dabei erstaunliche Funde: Da erwähnte Temmes Frau in einem Telefonat mit einer Freundin, ihr Mann sei dienstlich in dem Internetcafé gewesen. Und Temmes Vorgesetzten machten sich Sorgen: Wie es ihm denn gehe, fragte ein Vorgesetzter, und was er denn „für einen Scheiß“ mache, aber man habe das Dienstliche unter Kontrolle.
„Ich sach ja jedem“, zitieren die Journalisten einen Vorgesetzten in einem Telefonat mit Temme, „wenn er weiß, dass irgendwo so etwas passiert: Bitte nicht vorbeifahren!“ Wusste also nicht nur Temme vor dem Mord, „dass so etwas passiert“, sondern auch seine Vorgesetzten im Verfassungsschutz? Und ging dieses Wissen sogar bis ganz nach oben?
Bouffier nämlich verhinderte im Laufe des Jahres 2006, dass die Staatsanwaltschaft den rechten V-Mann Gärtner vernehmen durfte, er unterzeichnete eine Aussage-Sperre für die geheimen Quellen Temmes. Selbst sein bayrischer Amtskollege Günther Beckstein (CSU) konnte Bouffier nicht von einer Aussagegenehmigung überzeugen. Die Staatsanwaltschaft konnte später lediglich Fragenkataloge an die V-Leute schicken, die mithilfe von Mitarbeitern des Verfassungsschutzes beantwortet wurden – ein absurdes Verfahren.
Die Anwälte der Familie Yozgat wollen nun Bouffier als Zeuge vor den NSU-Prozess laden, sie werfen ihm vor, die polizeilichen Ermittlungen aktiv behindert zu haben. Aus den Unterlagen geht hervor, dass Bouffier mit dem Fall Temme persönlich befasst war – wie viel wusste der Ministerpräsident?
Bouffier ging am Dienstag in die Offensive: Die Beschuldigungen gegen ihn seien „eine Ungeheuerlichkeit“ und eine „Unverschämtheit“, er habe „nach Recht und Gesetz und nach bestem Wissen und Gewissen entschieden.“ Für seine Entscheidung zur Aussageverweigerung habe er sich auf die Einschätzung des Verfassungsschutzes und seiner eigenen Rechtsabteilung verlassen, betonte Bouffier.
Durch die Aufdeckung der Quellen vor allem im islamistischen Bereich hätten „schwere Nachteile für die Sicherheit Hessens und der Bundesrepublik Deutschland“ gedroht. Welche Gefahren das sein könnten, die schwerer wiegen als die Verhinderung eines Mordes und die mögliche Aufklärung einer ganzen Mordserie – das ließ Bouffier bisher offen.
Denn vor dem Kasseler Mord hatte eine Vorgesetzte im Verfassungsschutz eine launige Rundmail an ihre Mitarbeiter geschickt, sich doch bitte mal in der Szene umzuhören – nach einer Mordserie, die mit der immer gleichen Ceska begangen wurde. Das bedeutet: Die Behörden wussten von einer Mordserie – womöglich mit rechtsextremem Hintergrund. V-Mann „Gemüse“ aber tauchte 2011, nach der Enttarnung des NSU-Trios auf einer Liste auf, die der Generalbundesanwalt persönlich an die Ermittlungskollegen schickte. Darauf: alle die Personen, die heute in München im NSU-Prozess angeklagt sind. Und Benjamin Gärtner.
Bouffier räumte am Dienstag übrigens auch ein, dass er persönlich mit dem Fall Temme befasst war. Ja, er habe eine Besprechung zu „der spannenden Frage gehabt: wie geht man mit dem Mann weiter um?“, sagte Bouffier am Dienstag ein. Dass der damalige Minister die Details des Falls nicht gekannt haben soll, hält die Opposition für wenig glaubhaft: Die bloße Entrüstung Bouffiers bringe die Aufklärung nicht voran, konstatierte die FDP.
Stimmten die Vorwürfe wäre das „eine einzigartige Vertuschung von 2006 bis heute“ und ein „einzigartiger Skandal richtig großer Dimension“, sagte die SPD-Obfrau im hessischen Untersuchungsausschuss, Nancy Faeser der Autorin. Und Linken-Obmann Schaus sagte, nun zeige sich der wahre Grund, warum CDU und Grüne bisher den NSU-Ausschuss aktiv blockiert hätten.
Tatsächlich liegen dem im Mai 2014 eingerichteten Untersuchungsausschuss bis heute – nacht acht Monaten! – die angeforderten Akten nicht vollständig vor, nicht ein Zeuge wurde bisher vernommen. CDU und Grüne behaupteten bisher sogar, es gebe gar nichts mehr aufzuklären – ein mehr als peinlicher Vorgang.
Nun betonten CDU und Grüne am Dienstag eilig, die aktuellen Vorwürfe müssten sofort aufgeklärt, das Thema vorgezogen werden. Und Faeser betonte, sie könne Regierungsfraktionen und Landesregierung „nur raten, Offenheit und Aufklärungswille an den Tag zu legen – alles andere macht es nur schlimmer.“ Denn bewahrheitete sich der Verdacht, wäre das „ein einzigartiger Skandal richtig großer Dimension.“
Denn Tatsache bleibt: Bouffier unterzeichnete die Aussageverweigerung – und er war nun einmal 2006 auch derjenige, der die politische Verantwortung für den hessischen Verfassungsschutz trug. „Ich habe nichts zu verbergen“, betonte Bouffier am Dienstag, doch die Opposition bezweifelt das: Bouffier sei „Teil der Vertuschung“ gewesen, sagte Schaus – und wenn sich das bewahrheite, „dann ist er als Ministerpräsident untragbar.“