Die Bundestagswahl am kommenden Sonntag wird mit großer Spannung erwartet, doch egal wie die Wahl ausgeht: Mainz könnte einer ihrer großen Verlierer sein. Denn die rheinland-pfälzische Landeshauptstadt gehört nach derzeitigen Prognosen zu den Wahlkreisen im Land, die am Ende womöglich von nicht einem einzigen Abgeordneten im Bundestag vertreten sein wird. Schuld ist die Wahlrechtsreform der Ampel-Regierung: im Bemühen, den Bundestag zu verkleinern, wurde die Erststimme stark entwertet – entscheidend ist jetzt die Zweitstimme und der Erfolg einer Partei im Bundesland. Und das kann dazu führen: Wer den Wahlkreis gewinnt, zieht trotzdem nicht in den Bundestag ein.

Wer hat am Sonntagabend im Wahlkreis Mainz die Nase vorn? - Foto: gik
Wer hat am Sonntagabend im Wahlkreis Mainz die Nase vorn? – Foto: gik

Bislang galt in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg bei der Stimmabgabe: jeder Wähler hat zwei gleichwertige Stimmen. Mit der Zweitstimme wählte man eine Partei, die Vergabe der Plätze wurde von den Parteien über Landeslisten bestimmt. Mit der Erststimme aber wählte man bisher eine Persönlichkeit, die nach Gewinn des Wahlkreises direkt in den Bundestag einzog, und so dem Wahlkreis und seinen Wählern besonders stark verpflichtet war.

Doch damit ist es seit dieser Bundestagswahl vorbei: 2023 beschloss die Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP nach langem Ringen mit der Opposition eine Wahlrechtsreform. Das oberste Ziel: die Verkleinerung des Bundestages, der von seiner gesetzlichen Regelgröße von 598 Sitzen zuletzt auf 736 Sitze angewachsen war. Grund für den Zuwachs war, dass die Schere zwischen direkt gewählten Abgeordneten und Zweitstimmenanteil der Parteien immer weiter auseinander klaffte: Für den Gewinn der Direktmandate gab es für die anderen Parteien dann Ausgleichsmandate im Bundestag, um den Proporz des Zweitstimmen abzubilden – die Folge war allerdings ein erheblicher Zuwachs der Mandate.

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Wahlrechtsreform 2023: Entwertung der Erststimme

Das neue Wahlrecht, das im Juni 2023 in Kraft trat, machte damit Schluss – und die Zweitstimme zum entscheidenden Faktor. „Maßgeblich für die proportionale Zusammensetzung des Bundestages ist allein das Ergebnis der Zweitstimmen“, heißt es jetzt auf der Homepage des Deutschen Bundestages: Allein deren Anteil bestimmt nun die Zahl der Sitze, die einer Partei im neu gewählten Parlament zustehen. Überhang- und Ausgleichsmandate gibt es nicht mehr. Die Zahl der Sitze wird dann nach dem föderalen Proporz innerhalb einer Partei auf die Landeslisten verteilt.

Abgeordnete im deutschen Bundestag bei einer Abstimmung im Oktober 2010: Wichtige Repräsentanz eines Wahlkreises. - Foto: Deutscher Bundestag
Abgeordnete im deutschen Bundestag bei einer Abstimmung im Oktober 2010: Wichtige Repräsentanz eines Wahlkreises. – Foto: Deutscher Bundestag

Und hier beginnt die große Neuerung, denn die Zahl der Sitze, die einer Partei in einem Bundesland zustehen, bildet zugleich die Höchstzahl der möglichen Wahlkreisabgeordneten dieser Partei in dem jeweiligen Bundesland. Das heißt: Eine Partei kann nur maximal so viele Wahlkreiskandidaten nach Berlin schicken, wie ihr nach dem bundesweiten Zweitstimmenergebnis im Land zustehen. Erringt eine Partei aber zum Beispiel alle Direktmandate in einem Bundesland, gehen die Kandidaten von der Landesliste leer aus – und genau das könnte in diesem Jahr in Mainz der Fall sein.

Mainz ist dabei kein Einzelfall: Bis zu 40 Wahlkreise deutschlandweit könnten nach Prognosen von diversen Wahlportalen bei dieser Wahl erleben, dass der direkte Sieger im Wahlkreis am Ende leer ausgeht – eine klare Entwertung des direkten Wählerwillens. Schlimmer noch für Mainz: Läuft es ganz schlecht, wird die Landeshauptstadt von keinem einzigen Abgeordneten im Bundestag vertreten sein – trotz elf Direktkandidaten.

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Wird Mainz von keinem einzigen Kandidaten in Berlin vertreten?

In der jetzt abgelaufenen Wahlperiode hatte Mainz noch zwei Bundestagsabgeordnete in Berlin: Die Grüne Tabea Rößner und den Sozialdemokraten Daniel Baldy, der 2021 im Zuge des Scholz-Erfolges überraschend den Wahlkreis Mainz-Bingen direkt gewann. Doch Rößner tritt nicht mehr an, ihr Nachfolger Thorsten Becherer steht auf der Landesliste der Grünen, aber dort nur auf Platz 6. Bisher schickten die rheinland-pfälzischen Grünen aber nur fünf Angeordnete nach Berlin, und das bei einem sehr guten Wahlergebnis im Jahr 2021 von 14,7 Prozent im Bund und von 12,6 Prozent im Land.

Duell zwischen Grün und Schwarz: Thorsten Becherer von den Grünen und Ursula Groden-Kranich (CDU) könnten den Sieg um den Wahlkreis Mainz unter sich ausmachen. - Fotos: Grüne/CDU
Duell zwischen Grün und Schwarz: Thorsten Becherer von den Grünen und Ursula Groden-Kranich (CDU) könnten den Sieg um den Wahlkreis Mainz unter sich ausmachen. – Fotos: Grüne/CDU

Derzeit liegen die Grünen in den Umfragen auf genau derselben Höhe, für einen sechsten Sitz müssten sich die Rheinland-Pfälzer noch deutlich steigern – die Prognosen geben das bisher nicht her. Der bisherige Essity-Manager und Politik-Neuling Becherer müsste also den Wahlkreis Mainz direkt gewinnen, um sicher in den Bundestag einzuziehen. Becherer kämpft derzeit deshalb um jede Stimme, sein Mantra seit Wochen: Er könne als Grüner den Wahlkreis erobern, seine Chance sei da – genau deshalb kommt auch am Freitag sogar noch einmal Ex-Parteichefin Ricarda Lang zum Endspurt nach Mainz.

Doch in den Prognosen führt eine andere: Ursula Groden Kranich, langjährige Bundestagsabgeordnete der CDU, die aber 2021 den Wahlkreis an den SPD-Konkurrenten abgeben musste. Die Internetportale, die sich den Prognosen aus den einzelnen Wahlkreisen widmen – etwa Wahlkreisprognose.de oder Zweitstimmen.org – sehen die CDU-Kandidatin als deutliche Favoritin. So wird etwa bei dem Portal Insa-Consulere die Groden-Kranich mit mehr als 75 Prozent Wahrscheinlichkeit als Siegerin des Wahlkreises Mainz ausgewiesen, ebenso bei Election.de.

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Prognosen: Sieg von Groden-Kranich „sehr wahrscheinlich“

Die Wahlkreiskarte auf NTV geht gar mit 96 Prozent von einem CDU-Sieg aus – SPD-Mann Baldy werden da gerade einmal noch 2 Prozent Siegwahrscheinlichkeit eingeräumt, Becherer sogar nur 1 Prozent. Bei Zweitstimmen.org ist die Bandbreite der Prognose größer: Hier wird SPD-Mann Baldy eine Siegwahrscheinlichkeit von zwischen 16 und 27 Prozent eingeräumt, Becherer 16 bis 29 Prozent – aber Groden-Kranich 22  bis 38 Prozent. Ihr Sieg sei „sehr wahrscheinlich“, prognostiziert das Datenportal.

Prognose für den Ausgang der Wahl im Wahlkreis Mainz bei der Erststimme. - Grafik: Zweitstimmer.org
Prognose für den Ausgang der Wahl im Wahlkreis Mainz bei der Erststimme. – Grafik: Zweitstimmer.org

Das hängt vor allem mit der Zusammensetzung des Wahlkreises Mainz zusammen: Der umfasst nicht nur die Landeshauptstadt Mainz, sondern auch weite Teile Rheinhessens und reicht bis nach Bingen und sogar hinauf nach Idar-Oberstein. Und in diesen Regionen liegt die CDU mit großem Abstand in den Wahlprognosen vorn. Das Problem bei der Sache: Auch das könnte nicht reichen – selbst wenn Groden-Kranich den Wahlkreis klar gewinnt.

Denn nach den neuen Regeln errechnet sich das Ranking der Abgeordneten für den Bundestag innerhalb einer Partei danach, mit wie viel Prozent der Kandidat seinen Wahlkreis geholt hat. Bewerber mit einem hohen Prozentsatz in ihrem Wahlkreis werden dabei bevorzugt, benachteiligt sind damit Kandidaten in eng umkämpften Wahlkreisen. Den Prognosen zufolge könnte die CDU aber gerade in Rheinland-Pfalz sämtliche Wahlkreise erobern – Mainz wäre dann wegen seiner Umkämpftheit mit Sicherheit weit abgeschlagen.

Bis zu 40 Wahlkreise bundesweit ohne Vertreter im Bundestag?

Holt eine Partei aber viele Wahlkreise per Erststimme, dann kann es sogar dazu kommen, dass die Plätze auf der Landesliste gar nicht mehr zum Zuge kommen – zum krassesten Fall kann das am Sonntag dazu führen, dass nicht einmal die Erstplatzierte der CDU-Landesliste Rheinland-Pfalz in den Bundestag einzieht: Ex-Bundesministerin Julia Klöckner. Groden-Kranich wiederum steht auf der Landesliste nur auf Platz 7, ohne den Wahlkreissieg dürfte sie also gar keine Chance auf den Sitz im Bundestag haben.

2021 holte er den Wahlkreis Mainz: Daniel Baldy von der SPD. - Foto: Baldy
2021 holte er den Wahlkreis Mainz: Daniel Baldy von der SPD. – Foto: Baldy

Aber auch bei den anderen Kandidaten sieht es düster aus: SPD-Kandidat Baldy steht auf der Landesliste der SPD Rheinland-Pfalz zwar auf Platz 4, bricht die SPD wie derzeit in den Umfragen vorhergesagt, tatsächlich auf ganze 15 oder 16 Prozent ein, könnte selbst das nicht für einen Einzug in den Bundestag reichen. Bei den Kandidaten der kleineren Parteien sieht es noch schlechter aus: FDP-Kandidat David Dietz steht zwar auf Platz 2 der Landesliste, aber den Liberalen droht derzeit sogar das Aus im Bundestag – ob die FDP über 5 Prozent kommt: derzeit unklar.

Die beste Chance nach Groden-Kranich hat deshalb ausgerechnet ein Linker: Gerhard Trabert. Der Sozialmediziner ist nämlich nicht nur Direktkandidat für die Linke im Wahlkreis Mainz, sondern auch Spitzenkandidat der rheinland-pfälzischen Linken. Und die legte in den vergangenen Tagen eine regelrechte Aufholjagd hin und liegt überraschend derzeit bei 6 bis 8 Prozent. Das Problem dabei aber: Trabert ist so schwer erkrankt, dass völlig unklar ist, ober er sein Mandat überhaupt antreten kann.

All das könnte am Ende dazu führen, dass Mainz mit keinem einzigen Abgeordneten im Bundestag vertreten wäre – das ist ein echter Nachteil für eine Region: Die direkt gewählten Abgeordneten werfen in der Regel ihr Gewicht für ihre Stadt im politischen Ringen um Fördergelder und Unterstützung in den Ring, oft mit Erfolg. Für die kommenden Jahre wäre das gerade mit Blick auf den Neubau des Gutenberg-Museums ausgesprochen wichtig gewesen. Die neue Wahlrechtsreform – für Städte wie Mainz kann sie deshalb erhebliche Nachteile und einen herben Repräsentanzverlust im neuen Bundestag nach sich ziehen. Die CDU hat derweil bereits angekündigt, die Wahlrechtsreform im Falle eines Wahlsieges wieder zurücknehmen zu wollen.

Info& auf Mainz&: Welche Direktkandidaten für Mainz in den Bundestag einziehen wollen, haben wir Euch hier ausführlich erzählt.