Der Paukenschlag kam am Sonntagabend deutscher Zeit: Joe Biden zieht zurück. Der 81 Jahre alte US-Präsident wird sein Rennen um die Präsidentschaft nicht weiterführen. Das gab Biden mit einem Schreiben an sein Land über den Kurznachrichtendienst X, vormals Twitter, um 14.00 Uhr amerikanischer Zeit bekannt. Biden bleibt im Amt, klar ist aber damit: Es ist das Ende einer politischen Ära und ein Meilenstein. Warum das eine gute Nachricht für die US-Demokraten und eine schlechte für Donald Trump ist – und wer jetzt übernimmt. Eine Analyse von Mainz&-Chefredakteurin Gisela Kirschstein.
Der Druck war am Ende zu groß geworden: „My Fellow Americans“, schrieb am Sonntagabend ein gewisser Joe Biden, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika: „It has been the greatest honor of my life to serve as your President. And while it has been my intention to seek reelection, I believe it is in the best interest of my party and the country for me to stand down and to focus solely on fulfilling my duties as President for the remainder of my term.“
Er hat es also tatsächlich getan: Joe Biden zieht sich aus dem Präsidentschaftsrennen um das Weiße Haus zurück. Biden begründete den Schritt damit, er glaube nun, es sei „im besten Interesse seiner Partei und des Landes“, dass er diesen Schritt mache. Die Erkenntnis ist lange gereift, seit Biden in dem TV-Duell gegen Donald Trump ein verheerendes Bild bot: Da stand auf einmal, sichtbar für Millionen auf der ganzen Welt, ein uralter, teilweise verwirrt wirkender weißer Mann, bleich, nahezu apathisch und stellenweise weggetreten wirkend.
Verheerendes TV-Duell: Biden verwirrt, angeschlagen, krank
Der Eindruck: verheerend. Die Wirkung: desaströs. Bislang galt Biden zwar als stark gealtert, aber rüstig, seine geistigen Kapazitäten als immer noch stark und völlig up to date, auch wenn er stockend ging und manchmal Wörter verwechselte. Das TV-Duell offenbarte eine andere Dimension: Dass dieser 81-Jährige noch in der Lage sei, sein Amt auszufüllen, geschweige denn die nächsten vier Jahre das härteste Regierungsamt der Welt auszuüben – das stand urplötzlich komplett in Frage.
Überrascht von dem Auftritt waren aber nicht nur Beobachter in Europa, sondern ebenfalls, politische Berichterstatter und Analysten in den USA selbst: Was denn da bloß geschehen sei, rätselte das Land, hatten doch die US-Medien zum Großteil bisher davon abgesehen, den Gesundheitszustand des US-Präsidenten zu thematisieren – aus Angst, Konkurrent Donald Trump Munition zu liefern. Biden selbst hatte immer wieder betont und veröffentlichen lassen, wie gut sein Gesundheitszustand sei, er stand ja auch den Vorwahlkampf durch und schaffte es, die Demokratische Partei wieder von sich als Kandidat zu überzeugen – keine kleine Leistung, wenn man den US-Wahlkampf kennt.
Und doch stand jetzt auf einmal die Frage im Raum: Was ist da passiert? Biden wirkte wie jemand, der entweder kürzlich einen Schlaganfall erlitten, oder bei dem eine andere schwere Krankheit unmittelbar ausgebrochen war – der Verdacht geht in Richtung Parkinson, denn Biden zeigte nun auf einmal alle Anzeichen für diese Krankheit. Und zwar präsentierte sich Biden in den Wochen danach deutlich fitter, geistig hochgradig wach und leistungsfähig – wie bei seiner Pressekonferenz vor wenigen Tagen, als der US-Präsident mal eben einen Par-Force-Ritt durch die Weltpolitik absolvierte. Ohne Manuskript. Aus dem Kopf heraus – fantastisch.
Druck auf Biden wuchs: Nancy Pelosi, Barack Obama für Rückzug
Und trotzdem war klar: Das war es für Joe Biden. Der Eindruck, dass dieser Mann auf gar keinen Fall vier weitere Jahre durchsteht, war schlicht da. Und er wurde untermauert, als Boden auf dem Nato-Gipfel erst Ukraines Präsidenten Wolodymyr Selensky als „Mister Putin“ ankündigte – ausgerechnet! – und dann seine eigenen Vizepräsidentin Kamala Harris kurzerhand in „Donald Trump“ umtaufte. Die Demokraten in den USA waren entsetzt, der Druck auf Biden wuchs stündlich, sich aus dem Rennen zurückzuziehen, und einem oder einer Jüngeren das rennen zu überlassen.
Als Biden am Freitag dann auch noch eine Covid-Erkrankung öffentlich machte, und Bilder von dem US-Präsidenten, der kaum, noch die Runway seines Flugzeuges rauf oder runterkommt, um die Welt gingen, war klar: Die Entscheidung konnte nur noch Tage oder gar Stunden entfernt sein. Alt, gebrechlich, instabil – es tat regelrecht weh, Joe Biden so zu sehen. Das Besondere in den USA: Biden selbst musste diese Entscheidung treffen, da er bereits die Mehrheit der Delegiertenstimmen seiner Partei hatte. Das Hauptthema in den USA lautete denn auch nur noch: Würde Biden den Schritt gehen – und wann?
Am Sonntag machte Biden dem Rätselraten endlich ein Ende, das immer mehr seine Partei zu beschädigen drohte. Zuletzt hatten sich immer mehr führende Politiker der Demokraten Biden beschworen, den Staffelstab weiter zu geben, „Pass the Torch“ ist der amerikanische Begriff dafür. Hollywoodstar George Cloony fror Spendengelder für die Wahlkampagne der Demokraten ein, andere folgten. Mehr als zwei Dutzend Abgeordnete in Kongress und Senat forderten Biden zum Rückzug auf, zuletzt wohl auch die einflussreiche Ex-Speaker Nancy Pelosi – und Ex-Präsident Barack Obama.
Beeindruckende Erfolgsbilanz, Leader of the free World
Warum es Joe Biden so schwer fiel? Er sei der Beste, um Donald Trump noch einmal zu schlagen, hatte Biden in den vergangenen Tagen wieder und wieder betont – er glaubte es tatsächlich. Nicht ohne Grund: Biden hatte vor vier Jahren Trump besiegt, obwohl viele ihm das nicht zugetraut hatten. Biden steht für einen der angesehensten Politiker der USA, jemand, der integer, glaubwürdig und seriös für das Gute im Land kämpft, wie wenige andere – und der dabei auch noch humorvoll und selbstironisch sein kann.
Seine Erfolgsbilanz in nur vier Jahren ist absolut beeindruckend: Biden krempelte die US-Wirtschaft um, schuf Millionen von Arbeitsplätze, schaffte mit dem Inflation Reduction Act genau das, was Deutschland bis heute weder begriffen, noch getan hat: eine neue Wirtschaftsdynamik, die zudem auch noch massiv auf Erneuerbare Energien UND Wohlstand im Land setzt. Dazu war Biden ein Fels in der Brandung: Klug, geradezu weise, steuerte er die USA durch all die Krisen und Kriege der Welt, machte die USA wieder zum echten Leader of the World und verteidigte Freiheit und Demokratie in einem Ausmaß, dass die freie westliche Welt erleichtert aufatmete.
„Joe Biden hat eine Bilanz von Errungenschaften, die unerreicht von jedem anderen Präsidenten in meiner Lebenszeit ist“, schrieb Schauspieler Mark Hamill am Sonntag auf X: „Er hat nach vier Jahren Lügen, Kriminalität, Skandalen und Chaos dem Amt des US-Präsidenten Ehrlichkeit, Würde und Integrität zurückgeben. Danke für Ihren Dienst, Mr. President.“ So sehen es viele in den USA, oder, wie es die Analystin Rachel Meadow es auf dem Sender NBC vorhin ausdrückte: „Joe Biden hat dem Land Langeweile zurückgegeben, als Langeweile genau das war, was es brauchte.“
„Biden hat dem Land eine echte Chance gegeben“
Doch Biden hat noch etwas viel wichtigeres getan, er hat seinem Land womöglich einen enormen Dienst erwiesen: „Er hat dem Land eine echte Chance gegeben“, sagte Analystin Meadow – es ist die Chance, Donald Trump NICHT ins Weiße Haus einziehen zu lassen. Denn nun haben die Demokraten die Chance jemand deutlich Jüngeres, deutlich Energetischeres ins Rennen zu schicken. Jetzt wird es der 78 Jahre alte Trump sein, der sich Fragen nach seinem Alter gefallen lassen muss – und nach seiner Gesundheit.
Denn Trump präsentierte sich nach dem misslungenen Attentat auf ihn vor einer Woche als durchaus angeschlagen. Jetzt ist es Trump, der sich für wirre Reden, Verwechslungen und erratische Auftritte rechtfertigen muss – und jetzt könnte es durchaus sein, dass in den USA viele aufatmen, die keinen von beiden auch nur ansatzweise wählbar fanden. Bleibt natürlich die Frage: Wen schicken die Demokraten jetzt ins Rennen?
Die wahrscheinlichste Antwort lautet: Kamala Harris, die Vizepräsidentin. Sie ist die Nummer zwei, seine Vize – aber Harris hat die vier Jahre auch nicht wirklich nutzen können, um sich eine unabhängige Reputation als Staatslenkerin aufzubauen. Das ist nicht ungewöhnlich für einen Vizepräsidenten in den USA, in diesem Fall aber ein Problem: So hoch ist Harris‘ Ansehen bei den Wählern nicht. Biden hatte zunächst in seinem Rücktrittsschreiben auch nicht direkt Harris als seine Nachfolgerin empfohlen, holte das aber kurz danach nach: Er biete seine „volle Unterstützung für Kamala“ als neue Kandidatin an. Sie wäre die erste Frau im höchsten Amt der USA – zudem die erste Frau mit Migrationshintergrund: Harris stammt von indischen Einwanderern ab.
Übernimmt jetzt Vize Kamala Harris – oder jemand anderes?
Inzwischen versammeln sich auch andere führende Demokraten hinter Harris, garantiert ist ihre Nominierung aber deshalb nicht: Die Entscheidung wird nun auf dem Parteitag der Demokraten Mitte August fallen. Dort müssen die Delegierten nun eine echte demokratische Entscheidung treffen, wie wir sie in Deutschland gut kennen – wie sie in den USA aber unüblich ist: Dort steht der zu Nominierende vorher durch die Delegiertenstimmen fest, jetzt können sich die Delegierten frei entscheiden – womöglich auch unter weiteren Kandidaten.
Für die USA kann das einer der echtesten demokratischen Momente ihrer Geschichte werden – und das hat alles Potenzial, US-Wähler zu begeistern und mitzureißen. Denn dem absoluten Großteil der US-Bürger ist ihre Demokratie heilig, sie neu zu beleben, ihr neuen Schwung zu geben, ist eine der großen Chancen für die Demokraten jetzt. Das aber kann nicht nur die Begeisterung für die Demokratie in den US neu beleben – es kann auch Funken in die ganze Welt senden.
Die USA waren schon immer das große Vorbild in Sachen Demokratie, ein großer Erdrutsch-Sieg für die Demokraten – und der ist alles andere als ausgeschlossen – würde die Demokratie weltweit stärken. „Was Joe Biden gerade getan hat, wird in die Geschichte eingehen – und ist einer der selbstlosesten Akte jemals“, betonte Meadow gerade: „Er hat sein Ego beiseite gestellt und darauf gehört, was das Beste für sein Land ist.“
Anmerkung&: Warum diese Analyse auf Mainz&? Nun, aus mehreren Gründen: Die US-Wahl im November wird nicht nur das Schicksal der USA, sondern auch das Europas stark beeinflussen – vor allem den Ausgang des Ukraine-Krieges. In Deutschland sind so viele US-Soldaten stationiert, wie in keinem anderen Land, bekommen die USA Probleme, bekommt sie Deutschland auch.
Und Donald Trump hat bereits angekündigt, er werde „ein Diktator von Tag 1 an sein“. Glückwunsch. Wir sollten das Ernst nehmen, der Sturm aufs Kapitol zeigte es. Und: Mainz&-Chefredakteurin Gisela Kirschstein ist studierte Amerikanistin, sie hat in den USA gelebt, sie kennt das Land, sein politisches System, seine Geschichte. Deswegen leisten wir uns diesen Abstecher.
Info& auf Mainz&: Die hervorragende Berichterstattung von NBC News samt der Analysen von Rachel Maddows könnt Ihr Euch im original hier auf Youtube ansehen. Wir empfehlen zudem die Analysen und Berichte von ZDF-Washington-Korrespondent Elmar Thevesen, zum Beispiel hier im Heute Journal.