Es ist still geworden um die Lesselallee, doch vergessen sind die gefällten Baumriesen keineswegs: Vor genau zwei Jahren kreischten Kettensägen, fiel binnen weniger Stunden, was ein Jahrhundert lang gewachsen war. 70 große Baumriesen ließ die Stadt Wiesbaden fällen, angeblich wegen Krankheiten. Doch bis heute stehen Kastanien dort, wo einst die Lesselallee war, jene geliebte Allee entlang des Mainufers, die einst die Stadt Mainz dem Stadtteil Kostheim zur Eingemeindung schenkte. Experten halten die Fällung bis heute für unnötig und für einen Frevel. Die an ihrer Statt gepflanzten Flatterulmen können die romantische Allee bis heute nicht ersetzen. Mainz& gedenkt heute der getöteten Kastanienallee – und erinnert mit unserem Text vom 4.11.2015.
Der Anruf kam morgens um 7.00 Uhr. „Sie fällen die Lesselallee!!!“ rief die Informantin ins Telefon. Es war also so weit. Die Stadt Wiesbaden ignorierte Bürgerbegehren und Strafermittlungen, Oberbürgermeister Sven Gerich (SPD) drei persönliche Appelle an seine Person. Die 100 Jahre alte Lesselallee, eine einmalige Allee stolzer Kastanienbäume am Ufer des Mains auf der Maaraue bei Kostheim, fiel in wenigen Stunden der Säge zum Opfer. Das war am 4. November 2014. Vor einem Jahr. „Es tut immer noch weh“, sagt Elli Weishaupt.
„Halbdunkel. Kerzen leuchten rot. Ein Mädchen, vielleicht 13 oder 14, kommt mit dem Fahrrad angefahren. Rumms. Rumms. Sie fährt gegen den Zaun. Und schreit. Sie ist außer sich…“ Es ist ein unscheinbarer Zettel, ein Stück Papier, herausgerissen aus einer Tapete, auf dem diese Zeilen stehen. Sie hängen im Atelier von Elli Weishaupt mitten in Mainz-Kostheim, baumeln von der Decke wie ein verlorenes Blatt im Wind.
„… erlebt am 4. November 2014, Kostheim, ehemalige Lesselallee“, hat der Autor der Zeilen darunter notiert. Es ist eine Erinnerung, aufgeschrieben am 2. November 2015, ein Jahr nach der Fällung der Allee. „Die Fällung ist in Kostheim immer noch Thema“, sagt Weishaupt, bildende Künstlerin, in deren Atelier am Montag eine kleine Ausstellung zur Erinnerung an den Tod der Bäume am Mainufer eröffnet wurde.
„Hier wurden gesunde Bäume gefällt“
Eine Galerie Fotos hängt an der Wand, viele kleine Schnappschüsse. Sie zeigen vitale Bäume in sattem Grün, große Baumriesen – und sie zeigen die Zerstörung, „Schlachtfeld“ hat es ein Kostheimer später genannt. „Uns war das alles noch sehr präsent“, berichtet Weishaupt, „vor allem, dass hier gesunde Bäume gefällt wurden. Veränderung muss manchmal sein – aber die Bäume mussten eben nicht alle weg.“
71 Bäume fällte die Stadt Wiesbaden an jenem 4. November, und Ordnungsdezernent Oliver Franz (CDU) sagte an jenem Tag mitleidsvoll in die Fernsehkameras, „alle Bäume sind krank“ und müssten deshalb gefällt werden. Die Stadt hatte an den Bäumen den Wurzelpilz Phytophthora festgestellt, Franz behauptete am Fälltag einfach, alle Bäume seien davon befallen. Der Wurzelpilz kappe die Versorgungsleitungen des Baumes nach oben, der Baum sterbe ab und werde instabil – deshalb müsse die Allee gefällt werden. So die Lesart der Stadt.
Doch das war falsch – und Dezernent Franz wusste das. Nicht einmal der städtische Gutachter Roland Dengler hatte je behauptet, alle Bäume der Allee seien krank. Vielmehr hatte auch Dengler 50 (!) Bäumen der Allee bescheinigt, gesund zu sein – die Stadt Wiesbaden ließ mithin 50 gesunde Bäume fällen. Mindestens. Der renommierte Baumprofessor Ulrich Weihs aus Göttingen bescheinigte in einem Gutachten nach der Fällung sogar 53 Bäumen, nicht vom Wurzelpilz Phytophthora befallen gewesen zu sein. Weihs hatte anhand von Fotos die Schnittflächen aller gefällten Bäume begutachtet.
Sein Urteil war eindeutig: An den strahlend weißen Schnittflächen der gefällten Bäume könne man sehen, dass „kein Pilzbefall die Leitungsbahnen verstopft hat, anderenfalls wären hier dunkel gefärbte, abgestorbene Bereiche zu erkennen gewesen.“ Nur acht Bäume wiesen starke Befallssymptome auf, nur diese hätten nach Einschätzung Weihs‘ gefällt werden müssen. 8 statt 71.
„Die Allee zu fällen, war ein Baumfrevel“, sagte Weihs, „aber die Stimmen, die sich für die Allee einsetzen, werden ja gar nicht gehört.“
„Es stößt heute noch mehr auf, dass es eine Machtdemonstration war“, sagt Weishaupt.
Am 27. März tauchte der Zaun auf
Es war der 27. März 2014, als auf der Maaraue bei Mainz-Kostheim auf einmal ein Zaun auftauchte. Er sperrte großflächig die Kastanienallee auf der Maaraue ab – inklusive der benachbarten Wiese und Hecke. Die Stadt Wiesbaden sprach schon damals vom Befall der ganzen Allee mit dem Pilz – und rückte in der Folge keinen Millimeter davon ab. Experten wurden befragt, Professor Weihs gab Gutachten ab, ebenso der Baumsachverständige Marko Wäldchen. Mindestens sechs Experten für Umwelt und Baumkrankheiten, mit denen Mainz& sprach, wiesen die Behauptung der Stadt Wiesbaden von den kranken Bäumen als unsinnig zurück.
Die Stadt focht das nicht an, die Gegengutachten von Weihs wurden schlicht ignoriert, andere Expertisen auch. Mehr noch: Ordnungsdezernent Franz ertrickste sich im Umweltausschuss der Stadt Wiesbaden das JA von CDU und SPD in Wiesbaden zur Fällung durch die Hintertür. Der Ausschuss lehnte nämlich lediglich den Erhalt der Allee ab – Franz machte daraus im Anschluss einen Fällbeschluss. Aus einem Nein wurde ein Ja – und niemand der Wiesbadener Politiker musste sich vorwerfen lassen, Ja zur Fällung gesagt zu haben…
Kreativer Protest gegen die Fällung der Allee mit Gedichten und Demo
Zu diesem Zeitpunkt war der Protest gegen eine Fällung der Allee bereits in vollem Gange: Eine Bürgerinitiative „Rettet unsere Kastanien“ hatte sich gebildet, es wurde argumentiert und mit kreativen Aktionen protestiert. Da tauchten gelbe Bänder der Solidarität an den Bäumen auf, später drohende schwarze Kreuze. Am 20. Oktober 2014 fand eine Demonstration für den Erhalt der Kastanienallee statt, die in Mainz am Dom startete und über die Theodor-Heuss-Brücke auf die Maaraue zur Lesselallee führte. Rund 300 Teilnehmer forderten lautstark und nachdrücklich den Erhalt der Allee, für den sich inzwischen auch die Mainzer Grünen stark machten. Oberbürgermeister Michael Ebling (SPD) hingegen sprach sich nie für den Erhalt der Allee aus – das sei Sache Wiesbadens zu entscheiden.
Aber nicht nur Mitglieder der Bürgerinitiative, auch Spaziergänger und Bürger machten sich am Zaun zur Lesselallee Luft. „Freiheit für die Bäume“, stand da zu lesen, „dieser Baum ist gesund“. „Habt Ehrfurcht vor dem Baum, er ist ein einziges großes Wunder“, lautete eine Zettel, jemand anders hatte ein Gedicht von Rainer Maria Rilke angeheftet: „Begegnung in der Kastanienallee.“
„Das ist als würde man den Dom fällen“
„Die Allee ist der Stolz von Kostheim, das ist, als würde man den Mainzer Dom fällen“, sagte Marion Mück-Raab, Sprecherin der Bürgerinitative und Mitglied im Kostheimer Ortsbeirat für die AUF damals zu Mainz&. 1910 wurde die Kastanienallee gepflanzt, als Geschenk der Mainzer für das frisch eingemeindete Kostheim. Seither gehörte die Allee zu dem Stadtteil und zu Mainz, Generationen von Kostheimern spielten hier als Kinder, gingen spazieren, schoben Kinderwagen, führten Hunde aus. „Es ist, als würde man den Kostheimern ihre Geschichte nehmen“, sagte Mück-Raab.
Derweil übte sich die Stadt Wiesbaden in Geheimniskrämerei: Eine geplante Begehung der Lesselallee durch die Stadt samt Experten wurde zur geheimen Staatsaktion. Die Stadt gab eine Untersuchung auf den Pilz Pseudomonas in Auftrag – und verheimlichte sie. Es gebe kein „Geheimgutachten“, behauptete Franz, doch die Pseudomonas-Untersuchung wurde erst aufgrund der Recherchen von Mainz& veröffentlicht. Das Ergebnis: kein Fund, keine Schädigung. Was die Untersuchung kostete und wer sie in Auftrag gab – diese Fragen wurden Mainz& nie beantwortet.
Und so ging es weiter: Das Gerücht von geplanter Bautätigkeit auf der Maaraue tauchte auf und wurde nur halbherzig dementiert. Der Architektursommer präsentierte auf einmal Pläne für eine Umgestaltung der Maaraue, „Visionen“ habe man entwickelt für die „unentwickelte Brache“ der Maaraue, hieß es von den Architekten. Wird über eine Umsetzung nachgedacht? Keine Antwort. Warum müssen bei maximal 24 kranken Bäumen alle Bäume fallen? Keine Antwort.
Ein Maulkorb der Stadt für den Gutachter
Der städtische Gutachter Roland Dengler bekam von der Stadt einen Maulkorb verpasst – er dürfe „nichts ohne Einverständnis der Stadt sagen.“ Nein, einen Maulkorb gebe es nicht, behauptete die Stadt Wiesbaden daraufhin. Trotzdem wurde Mainz& eine Erlaubnis zum Interview mit Dengler nicht erteilt.
Dezernent Franz sagte daraufhin Mainz&: „Ich habe in der Frage gar nichts entschieden. Das ist eine Frage, die Sie an den Sachverständigen richten müssen. Ich kann dem ohnehin nicht den Mund verbieten, es gibt auch keinen Grund dafür.“ Warum dann die Erlaubnis zum Interview nicht erteilt wurde? Keine Antwort.
Ausgewichen, getäuscht, Bürgerbegehren ignoriert
Und so ging es weiter: Es wurde ausgewichen, getäuscht und getrickst – bis zum Schluss. Ein Flashmob an der Lesselallee wurde von der Stadt verboten, ein Brief von Dezernent Franz an die eigenen CDU-Mitglieder enthielt nur Informationen pro Fällung und unterschlug Gegenexpertisen sowie Gegenvorschläge zum Erhalt der Allee völlig. Der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) hatte inzwischen nämlich vorgeschlagen, der Allee eine dreijährige Denkpause zu gewähren und sie in dieser Zeit wissenschaftlich zu begleiten. Antwort: keine.
Ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Wiesbaden zur Frage, ob die mit Bauschaum verschlossenen Höhlen in der Lesselallee Umweltschutzbestimmungen verletzten und möglicherweise Tiere getötet hatte – ignoriert. Ein wenige Tage vor der Fällung gestartetes Bürgerbegehren pro Erhalt der Bäume – ignoriert. Die Stadt Wiesbaden startete zu gleicher Zeit eine Initiative zu mehr Bürgerbeteiligung in Wiesbaden.
Und als Mainz& am Freitag, den 31. Oktober 2014, bei Franz‘ persönlichem Referenten Thomas Hoffmann explizit die Frage stellte, ob die Fällgenehmigung für die Lesselallee vorliege, sagte dieser: „Nein, bislang liegt mir noch keine Genehmigung vor.“ Dezernent Franz aber sagte Mainz& persönlich am Dienstag, den 4. November: „Die Fällgenehmigung wurde uns am Donnerstag zugestellt.“
Alternativvorschläge ignoriert, Bürgereinwände vom Tisch gewischt, die Presse falsch informiert, dem Gutachter einen Maulkorb verpasst, die Fällgenehmigung ertrickst – es waren diese Methoden, die die Kostheimer zum Schluss fast mehr empörten als die gefällten Bäume. „Jedes Vertrauen in die Stadt Wiesbaden ist dahin, das wird Folgen haben für die Demokratie“, sagte Mück-Raab zu Mainz&. Die Stadtspitze lasse es zudem zu, „dass hier ein Ordnungsdezernent eine Machtprobe durchzieht.“ Franz und die Stadt Wiesbaden beschädigten damit den Rechtsstaat. „Das ist nicht mehr unsere Stadt“, sagte Mück-Raab.
Im Morgengrauen am 4. November rollten die Maschinen an
Da waren am 4. November im Morgengrauen die Bagger und Sägen auf der Maaraue angerollt und hatten damit begonnen, die 71 Kastanien zu fällen. Mit mehr als 100 Polizisten war die Maaraue komplett abgeriegelt worden, nicht einmal der Briefträger wurde auf die Halbinsel gelassen, ein Polizeiwagen so positioniert, dass die Sicht auf die Fällaktion versperrt war. Pressevertreter wurden am Betreten der Maaraue und der Ausübung ihrer Arbeit gehindert – die Stadt wollte keine Fotos, keine Berichte.
In diesem Fall hatte sie damit aber keinen Erfolg: Nachdem Mainz& beim Polizeipräsidium Wiesbaden Einspruch eingelegt hatte, sorgte die dortige Pressestelle umgehend dafür, dass die Presse ihre Arbeit machen konnte. Den Kostheimern am Zaun blieb derweil nur noch das fassungslose Zusehen. „Ich bin total schockiert, mir geht das total an die Nieren“, sagte eine Anwohnerin, stellvertretend für viele: „100 Jahre alte Bäume in einem Tag niederzulegen, das kann einfach nicht sein.“ Im Umweltamt knallten am gleichen Abend die Sektkorken – man feierte die gelungene Aktion der Fällung.
„So unerbittlich Tabula Rasa zu machen, hat für mich eine neue Qualität“, kritisierte der Grüne Ronny Maritzen, Vorsitzender des Umweltausschusses der Stadt Wiesbaden: „Eine solche Unerbitterlichkeit hat nichts mehr mit Demokratie zu tun.“
Die Mainzer Grünen-Bundestagsabgeordenete Tabea Rößner nannte das Vorgehen „eine riesengroße Schweinerei“ – aber was nützte das noch? Alle Rufe nach Aufklärung verhallten im Nachhinein, ein Akteneinsichtsausschuss der Grünen im Wiesbadener Rathaus wurde von der Großen Koalition aus SPD und CDU systematisch blockiert.
Im Dezember kleine Flatterulmen gepflanzt
Am 18. Dezember 2014 wurde an derselben Stelle, an der die Lesselallee gestanden hatte, eine Allee junger Flatterulmen gepflanzt, eine Baumart, vor der sämtliche Baumexperten eindringlich gewarnt hatten. Ulmen in Deutschland sterben derzeit massenhaft wegen eines Schädlings, des Ulmensplintkäfers, die neuen Bäume wurden trotzdem gepflanzt: sieben Meter hoch und mit einem Stammumfang von 30 Zentimetern. Damit sei „das Ziel, Wiesbadens Bürgern schnell eine neue Allee zu übergeben, erreicht“, sagte Franz bei der Aktion.
„Man sieht überhaupt nicht, dass da Bäume stehen“, sagt eine Kostheimerin drei Monate später, am 27. März. Die neuen Bäume sind mikrig, zudem hatten sie bereits im Frühjahr ihren ersten Schädling. „Es sieht immer noch aus wie ein Kriegsgebiet“, sagte Mück-Raab im März, die einstige Lesselallee, „das ist eine zerstörte Landschaft.“
„Leute, die früher dort spazieren gingen, laufen heute die Straße entlang“, sagt Elli Weishaupt, „der Weg wird gemieden.“ Die Lesselallee – mit den kleinen Ulmen verbindet das hier niemand, die Vorgänge um die Fällung, die seien „trotzdem noch in den Köpfen.“
Die Anwesenheit der Abwesenheit
Weishaupt hat als Künstlerin daraus zwei kleine Arbeiten gemacht, die eine ist ein Umriss auf dem Boden, in dem ein kleines Stück Baumscheibe liegt – und viel freie Fläche. „Die Anwesenheit der Abwesenheit“ hat Wieshaupt ihr kleines Kunstwerk genannt.
Das zweite ist die Installation mit den Erinnerungsfetzen der Kostheimer an den Tag der Fällung – eine Aufforderung an die Besucher, ihre Gedanken zur Allee aufzuschreiben. „Wir haben den Wunsch, die Geschichten der Kostheimer zur Lesselallee zu sammeln“, sagt Weishaupt. Erinnerungen an die stolze Allee, Geschichten von verliebten Pärchen unter den Bäumen, Berichte vom Tag der Fällung – alles ist willkommen. „Vielleicht wird ja ein Buch daraus“, sagt Weishaupt.
In Wiesbaden sind im März 2016 Kommunalwahlen. Im Schaufenster der Ausstellung hängt ein Plakat: „Keine Stimme für die Fällparteien“ steht darauf. Nein, die Lesselallee ist in Kostheim nicht vergessen.
Info& auf Mainz&: Die Ausstellung „Unvergessen: Die Lesselallee“ ist noch bis zum 8. November einschließlich im „Kunstwerk Kostheim“ zu sehen, Wilhelmstraße 33a, Mainz-Kostheim. Öffnungszeiten: Do. 5. November, 10.00 – 12.00 Uhr, Fr. 6. November, 17.00 – 19.00 Uhr, Sa. 7. November, 16.00 – 18.00 Uhr und So. 8. November, 11.00 Uhr – 14.00 Uhr. Zum Abschluss der Ausstellung am Sonntag, ab 14.00 Uhr, werden bei Kaffee und Kuchen die ersten gesammelten Erinnerungen an die Lesselallee präsentiert.