Wie kann man Corona-Infektionswellen schneller erkennen und ihnen vorbeugen? Seit Beginn der Corona-Pandemie vor über einem Jahr arbeiten Wissenschaftler fieberhaft an der Frage, und dabei greifen sie auch ins Abwasser: Coronaviren werden nicht nur per Aerosolen in die Luft gepustet, sie werden auch mit dem Urin und den Fäkalien ausgeschieden. Die Mainzer Kläranlage ist nun Teil eines Forschungsprojekt, mit dessen Hilfe ein bundesweites Frühwarnsystem entwickelt werden soll, ein Abwasser-Dashboard inklusive.
„Im Abwasser kann die Virenlast mit dem Sars-CoV2-Virus festgestellt werden, damit können wir einen Beitrag leisten zur Bekämpfung der Corona-Pandemie“, sagte die rheinland-pfälzische Klimaschutzministerin Anne Spiegel (Grüne) am Montag beim Besuch der Kläranlage in Mainz. „Wir erhoffen uns auch, ein Frühwarnsystem zu etablieren“, betonte die Ministerin zudem, dieses Frühwarnsystem könne auch nach dem Ende der Corona-Pandemie wichtige Rückschlüsse über Krankheiten in der Bevölkerung geben.
„Abwasser ist ein wichtiges Vorhersageinstrument für die Gesundheit der Bevölkerung“, sagte die Chefin des Mainzer Wirtschaftsbetriebes, Jeanette Wetterling: „Als Betreiber der größten Kläranlage des Landes sind wir froh und auch ein bisschen stolz, dass wir uns an so einem bedeutenden und zukunftsweisenden Projekt beteiligen können.“ Die Mainzer Kläranlage reinigt pro Tag 50 Millionen Liter Abwasser von rund 250.000 Einwohnern, und in den Abwassermengen können auch Krankheitskeime oder Antibiotika festgestellt werden. Das bietet große Chancen für die Pandemie-Vorbeugung: Viele SARS-CoV-2-Infizierte würden in der Statistik gar nicht erfasst, weil sie entweder gar keine oder keine typischen Symptome aufwiesen, und deshalb nicht getestet und gemeldet werden, heißt es beim Leipziger Helmholtz-Institut.
Dort begannen sie vor mehr als einem Jahr, im ersten Lockdown 2020, mit der Erforschung von Coronaviren im Abwasser. „Wir messen das Erbgut in der Probe und können dadurch die Viruslast quantifizieren“, sagte Virologe René Kallies vom Leipziger Institut für Mikrobiologie der Umwelt am Montag in einer Videokonferenz. Das Verfahren sei über den Sommer 2020 hinweg entwickelt und verfeinert worden, ein Praxistest erfolgte im Herbst 2020: 50 Kläranalage wurden im Oktober und November bundesweit beprobt, auch die Kläranlage in Mainz.
„Wir konnten zeigen, dass sich das Infektionsgeschehen quantitativ im Abwasser abbildet“, berichtet Kallies, auch Vorhersagen seien möglich: „Man kann auch sagen, inwieweit die Infektionen nach oben gehen werden oder nicht.“ Die Messungen könnten aber von Tag zu Tag stark schwanken, und das trotz gleich bleibender Corona-Inzidenz, deshalb werde ein Wochen-Mittelwert gebildet, sagte Kallies weiter.
Anfang Mai startete das Helmholtz-Institut gemeinsam mit der Deutschen Vereinigung für Wasserwirtschaft, Abwasser und Abfall (DWA) und der TU Dresden ein Langzeitprojekt an etwa 20 Kläranlagen bundesweit. Über einen Zeitraum von sieben Monaten sollen einmal die Woche Proben in Kläranlagen genommen und ausgewertet werden. In Mainz werden dafür 12 Behältnisse alle zwei Stunden für zwei Minuten aus dem Zulauf der Kläranlage befüllt, die Probenentnahme findet nach der mechanischen Reinigung statt, in der feste Teile herausgefiltert werden.
Die gesammelten Abwässer aus einem Zeitraum von 24 Stunden werden dann zur Untersuchung in ein Labor in Speyer geschickt. Dort werden die Proben zunächst darauf abgeklärt, ob sich überhaupt Coronaviren im Wasser finden, ist die Probe positiv, wird mittels PCR-Technologie die Konzentration der Viren im Abwasser ermittelt – das lässt Rückschlüsse auf die Virenlast in der Bevölkerung zu. Auch eine Vorhersage sei denkbar, etwa mittels eines simplen Ampelsystems, sagte Kallies weiter: „Wenn ich das Abwasser ab einem bestimmten Zeitpunkt positiv teste, merke ich: die Infektionen nehmen zu“, erklärte der Mikrobiologe. Feststellbar sei auch, ob von der Politik festgelegte Grenzwerte wie etwa eine Inzidenz von 35 oder 50 überschritten würden.
Deutschland ist damit spät dran: Vorhersagesysteme anhand von Abwasser gibt es bereits in Österreich, der Schweiz und den Niederlanden, in Österreich kann man die Ergebnisse etwa in einem wochenaktuellen Dashboard nachlesen. In Hessen entwickelte bereits 2020 die Professorin Susanne Lackner von der TU Darmstadt bereits 2020 ein Nachweisverfahren, eingesetzt wurde es bisher in Frankfurt und April 2021 für sieben Wochen in Wiesbaden: Die wöchentlich entnommenen Proben der städtischen Kläranlagen wurden auch dabei auf die Anzahl vorhandener SARS-CoV-2-Viren überprüft und Virusvarianten sequenziert. „Durch regelmäßige Abwasserproben können wir das Infektionsgeschehen unabhängig von Testangeboten und der Testbereitschaft der Bevölkerung gut einschätzen“, sagte Gesundheitsdezernent Oliver Franz (CDU): „Zusätzlich erhalten wir weitere Erkenntnisse über die tatsächliche Verbreitung der kritischen Virusvarianten im Stadtgebiet.“
Das Erforschen der Dunkelziffer von Corona-Infektionen in der Bevölkerung sei „ein wichtiger Schlüsselparameter für die epidemiologische Bewertung einer Pandemie sowie die Prognose dafür, wie sie sich weiterentwickeln wird“, betont man beim Helmholtz-Zentrum. An dem Projekt arbeiteten ein Team von mehr als 20 Abwasserfachleuten, Mikrobiologen, Virologen und Modellierern „Die aktuelle Verunsicherung über die Möglichkeiten von Lockerungsmaßnahmen liegt auch in der weiterhin unklaren Datenlage über die Dunkelziffer an Infizierten“, sagte der Präsident der Deutschen Vereinigung für Wasserwirtschaft, Abwasser und Abfall, Uli Paetzel, Anfang Mai.
Die Idee des Abwassermonitorings sei im Übrigen nicht neu, ähnliche Untersuchungen habe es bereits im Rahmen des Drogenscreenings und im Zusammenhang mit Polio-Impfmaßnahmen gegeben, heißt es weiter. In Bezug auf das SARS-Coronavirus-2 berichteten bereits im Februar dieses Jahres niederländische Kollegen, dass sie wenige Infizierte pro 100.000 Personen anhand des Erbguts von SARS-CoV-2 in Abwässern aus sechs Kläranlagen – darunter die des Flughafens Schiphol – mit hoher Empfindlichkeit detektiert haben, so die Forscher weiter.
Das Abwasser selbst sei im Übrigen nicht mehr ansteckend, beruhigen die Experten: „Ganz genau wissen wir es nicht, aber wir gehen davon aus, dass es in der Umwelt nicht mehr infektiös ist“, sagte Kallies – die Virusmenge ist dafür vermutlich zu niedrig. Ein Teil der Untersuchungen solle deshalb auch der Frage nachgehen, ob das Virus nach den Klärstufen der Aufbereitungsanlagen noch nachweisbar ist, fügte Kallies hinzu. Die Ergebnisse sollen Anfang 2022 vorgelegt werden.
Info& auf Mainz&: Mehr zu dem Projekt Corona im Abwasser findet Ihr hier beim Leipziger Helmholtz-Zentrum, wie ein Abwasser-Dashboard aussehen kann, könnt Ihr Euch hier am Beispiel von Österreich ansehen. Ein großes Dossier zum Thema Corona, Pandemie und allen Entwicklungen findet ihr hier auf Mainz&.