Corona-Untersuchungen im Abwasser sind einfach und könnten aktuell besonders hilfreich sein bei der Einschätzung der aktuellen Corona-Sommerwelle. In Köln stellte das Gesundheitsamt nun anhand solcher Abwasser-Untersuchungen fest: Die aktuelle Zahl der aktiven Coronafälle ist doppelt so hoch wie offiziell gemeldet. Die offizielle Inzidenz liege bei rund 800, „durch die Abwasser-Analyse wissen wir aber, dass sie tatsächlich bei über 1.500 liegt“, sagte der Chef des Gesundheitsamtes, Johannes Nießen. Amtsärzte fordern nun Abwasser-Untersuchungen in allen Kommunen – in Mainz wurde das Projekt Ende 2021 eingestellt. Hessen fördert das Corona-Abwassermonitoring der TU Darmstadt hingegen weiter.

Omikron-Sublinien in Deutschland im Juni 2022. - Grafik: RKI
Omikron-Sublinien in Deutschland im Juni 2022. – Grafik: RKI

Seit gut zwei Wochen rauscht eine massive Corona-Welle durch die Republik, die Zahl der Infizierten und Erkrankten explodiert derzeit regelrecht: Noch nie habe es so viele Corona-Erkrankten in ihren Praxen gegeben, wie derzeit, stöhnen Ärzte. Kliniken müssen derweil sogar Stationen schließen – die Uniklinik Kiel meldete gar 400 kranke Kollegen gleichzeitig. Der Grund: Corona. Die Lage sei „desolat“, sagte ein Pfleger im ZDF. Auch Kitas müssen schließen, weil Erzieher krank sind, in manchen Schulklassen fehlen zwei Drittel der Kinder – infiziert mit Corona.

Derweil verharren die offiziellen Corona-Zahlen seit Wochen an genau der gleichen Stelle: In Mainz meldet das Landesgesundheitsamt seit Wochen eine Sieben-Tage-Inzidenz, die hartnäckig zwischen 700 und 800 verharrt. das sind zwar auch immer noch zwischen rund 1.400 und 1.700 neuen Fällen pro Tag, doch die Inzidenz steigt einfach nicht an – trotz massiv zunehmender Corona-Erkrankungen. Fachleute gehen deshalb derzeit von einer massiven Untererfassung der tatsächlichen Fallzahlen aus.

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Die Dunkelziffer der wirklichen Coronafälle könnte zwei- bis drei Mal so hoch sein, sagte etwa der Coronaexperte Professor Thorsten Lehr aus dem Saarland gerade gegenüber ZDF Heute. Lehr modelliert seit Beginn der Corona-Pandemie die Ausbreitung des Coronavirus und sagte nun: Wenn das Robert-Koch-Institut rund 147.000 Neuinfektionen an einem Tag melde, müsse man davon ausgehen, dass die wirklich Zahl eher bei mehr als 440.000 Fällen liege – pro Tag.

Wie hoch sind die Corona-Zahlen wirklich? Die Zahl der Corona-PCR-Tests ist massiv gesunken. - Foto: gik
Wie hoch sind die Corona-Zahlen wirklich? Die Zahl der Corona-PCR-Tests ist massiv gesunken. – Foto: gik

Der Grund für die hohe Dunkelziffer: Es wird kaum noch getestet. In Schulen und Kitas wurden die flächendeckenden Coronatests längst eingestellt, damit werden Coronafälle an Schulen und in Kitas gar nicht mehr erfasst. Wer nach einem positiven Schnelltest noch einen PCR-Test machen will, muss das selbst organisieren – viele scheuen Zeit und Mühe dafür. In die offizielle Statistik gehen aber nur Fälle ein, bei denen ein positiver PCR-Test vorliegt und dem Gesundheitsamt gemeldet wurde. Dazu schaffte die Politik gerade die kostenlosen Corona-Bürgertests großflächig ab – das Ergebnis: Es wird deutlich weniger getestet.

Nun belegt eine Untersuchung des Kölner Gesundheitsamtes: In der Domstadt am Rhein liegt die tatsächliche Zahl der Coronafälle doppelt so hoch, wie in der offiziellen Statistik ausgewiesen. Herausgefunden hat man das – über Untersuchungen im Abwasser. Dabei habe man festgestellt, dass derzeit die Hälfte der Coronafälle nicht erkannt würden, sagte Johannes Nießen, Leiter des Kölner Gesundheitsamtes und Vorsitzender des Bundesverbands der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, den Zeitungen der Funke-Mediengruppe.

 

Nießen ist nicht irgendwer, der Leiter des Kölner Gesundheitsamt ist außerdem Mitglied im Corona-Expertenrat der Bundesregierung. Nun sagte er im Interview: „Die offizielle Inzidenz liegt aktuell bei rund 800, durch die Abwasser-Analyse wissen wir aber, dass sie tatsächlich bei über 1.500 liegt.“ Nießen und der Verband der Amtsärzte fordern nun solche Abwasser-Untersuchungen in allen Kommunen, um das Infektionsgeschehen besser einschätzen zu können. Die Abwasser-Analyse koste wenig und der Aufwand sei gering, betonte Nießen – die Untersuchung sei „ein hervorragendes Instrument für die Pandemiekontrolle.“

Probenentnahme für Corona-Untersuchungen in der Mainzer Kläranlage im Sommer 2021. - Foto: gik
Probenentnahme für Corona-Untersuchungen in der Mainzer Kläranlage im Sommer 2021. – Foto: gik

Die Aussagen sind nicht ohne Brisanz, hatte es in Mainz doch ein ebensolches Pilotprojekt in der Mainzer Kläranlage gegeben. Von Mai 2021 bis Ende Dezember 2021 wurde dabei das Abwasser der Landeshauptstadt auf Coronaviren untersucht, die Ergebnisse waren eindeutig: „Wir konnten zeigen, dass sich das Infektionsgeschehen quantitativ im Abwasser abbildet”, bilanzierte der Virologe René Kallies vom Leipziger Helmholtz-Institut für Mikrobiologie der Umwelt. Auch Vorhersagen seien möglich: “Man kann auch sagen, inwieweit die Infektionen nach oben gehen werden oder nicht.“

Tatsächlich werden solche Vorhersagen in anderen Ländern schon lange zur Pandemie-Überwachung eingesetzt – in Mainz dagegen stellte das Umweltministerium das Projekt ein. Zur Fortsetzung des Projektes gebe es „keine Planungen“, teilte das Umweltministerium auf Mainz&-Anfrage im Januar 2022 mit: „Weil kein neuer Erkenntnisgewinn zu erwarten ist, wird auf die Verlängerung verzichtet.“ Im Februar hatte die ÖDP im Mainzer Stadtrat noch kritisiert, es sei völlig unverständlich, warum das Projekt nicht fortgeführt werde – doch auch die Stadt Mainz lehnte eine Fortsetzung ab.

 

In Wiesbaden hingegen wurde das Abwasser weiter untersucht – und dort wurde bereits Anfang Juni die neue Omikron-Variante BA.5 im Abwasser nachgewiesen. Gesundheitsdezernent Oliver Franz (CDU) warnte, die derzeit milderen Infektionsverläufe könnten „zu einer Untererfassung der Fälle beitragen“, damit werde der neuen Variante weiter Vorschub geleistet. Inzwischen hat die BA5-Sommerwelle die Republik fest im Griff – mit Hilfe der Abwasser-Untersuchungen war sie offenbar absehbar.

In der Kläranlage Wiesbaden wird weiter das Abwasser auf Coronaviren untersucht. - Foto: Autobahn GmbH
In der Kläranlage Wiesbaden wird weiter das Abwasser auf Coronaviren untersucht. – Foto: Autobahn GmbH

Gerade erst hat eine Kommission zur Evaluierung der Corona-Maßnahmen in Deutschland scharf eine fehlende Datengrundlage in Deutschland in Sachen Corona kritisiert, die Abwasser-Untersuchungen könnten hier Abhilfe schaffen: Die Untersuchungen erfassen zuverlässig die aktuellen Virenmengen in der Bevölkerung, und zwar auch von solchen Menschen, die keine oder noch keine Symptome haben – und somit von Corona-Tests noch gar nicht erfasst werden. Die Europäische Kommission empfahl bereits im März 2021 flächendeckende Abwasser-Untersuchungen in den Ländern – auch und gerade zum Aufspüren neuer Corona-Varianten. In Mainz hielt man das sogar 2022 nicht für nötig.

Hessen hingegen kündigte nun an, das Projekt zur Abwasseruntersuchung der TU Darmstadt noch bis Ende 2022 fortführen zu wollen. „In der derzeitigen Phase der Pandemie mit hohen Infektionszahlen und einer Anpassung der nationalen Teststrategie, gewinnt die Beprobung und Analyse von Abwasser weiter an Bedeutung“, sagte Gesundheitsminister Kai Klose (Grüne) am Dienstag in Wiesbaden. Er gehe „von wichtigen zusätzlichen Erkenntnissen insbesondere mit Blick auf den Herbst aus.“

 

„Mit der Untersuchung des Abwassers können wir die Virusvariantenentwicklung für große Teile Hessens sehr gut beobachten – auch in Situationen wie der aktuellen, in der nur relativ wenige positive PCR-Tests im Labor sequenziert werden“, betonte Klose weiter. Auch könne die Genomanalyse von Abwasserproben wichtige zusätzliche Informationen über die Ausbreitung von Mutationen und Varianten liefern, sagte die Projektverantwortliche des Fachgebiets Wasser- und Umweltbiotechnologie an der TU Darmstadt, Professor Susanne Lackner.

Das Abwasser-Monitoring in der Kläranlage Mainz wurde Ende 2021 eingestellt. - Foto: gik
Das Abwasser-Monitoring in der Kläranlage Mainz wurde Ende 2021 eingestellt. – Foto: gik

Wegen der Vielzahl an Mutationen, die mittlerweile vor allem in den neuen Varianten auftauchten, müsse die Auswertung der Daten stetig angepasst und optimiert werden, betonte Lackner zudem. So sei es aber möglich gewesen, bereits im Mai erste Hinweis auf die neuen Varianten BA.4 und BA.5 zu erfassen – die derzeit die aktuelle Sommerwelle verursachen. Derzeit sehe man „eine zunehmende Ausbreitung vor allem von BA.5 in Hessen“, sagte Lackner: Schon im Juni habe man mit den Abwasser-Untersuchungen in allen hessischen Kläranlagen bis zu 50 Prozent BA.4 und BA.5 nachweisen können.

Info& auf Mainz&: Mehr zum Thema Corona im Abwasser, und wie die Untersuchungen funktionieren, haben wir hier bei Mainz& aufgeschrieben. Die Kölner Analyse haben wir nach dem WDR zitiert, weil wir leider den Originaltext der Funke Mediengruppe nicht gefunden haben – die ganze WDR-Geschichte lest ihr hier. Mehr zur Bilanz des Mainzer Abwasser-Monitoring und zur Einstellung des Projektes lest Ihr hier bei Mainz&:

Corona im Abwasser: Messungen in Mainz spiegelten Verlauf der Pandemie gut wieder – Projekt eingestellt