In diesen Tagen gehen Hunderttausende in Deutschland gegen Rechtsextremismus und neuen Faschismus auf die Straßen, doch eine Studie aus Rheinland-Pfalz zeigt: Das Wissen um den Alltag in der NS-Zeit schwindet. Im Landtag und in Gedenkstunden in der Stadt Mainz erinnerte die Politik heute, am 27. Januar, an die Opfer der Nationalsozialisten. Dabei stand auch die Frage im Raum: Wie hält man die Erinnerung an die Verbrechen der Nazis heute wach? „Das Gift der Nazis war nie weg“, mahnte Landtagspräsident Hendrik Hering (SPD). Auch OB Nino Haase geißelte Hass und rechtsextreme Umsturzphantasien – und kündigte ein neues Konzept zum zentralen Gedenken der Stadt an.

Gedenktafel an die Opfer der Nationalsozialisten an dem ehemaligen Gestapo-Hauptquartier in der Kaiserstraße in Mainz. - Foto: gik
Gedenktafel an die Opfer der Nationalsozialisten an dem ehemaligen Gestapo-Hauptquartier in der Kaiserstraße in Mainz. – Foto: gik

Es war am 27. Januar 1945, als die Rote Armee das Konzentrationslager von Auschwitz befreite – und damit die unmenschlichen Gräueltaten der Nationalsozialisten für alle Welt sichtbar enthüllten. 1,3 Millionen Menschen wurden von den Nationalsozialisten im Zuge ihrer Rassenideologie nach Auschwitz deportiert, sagen Forscher heute – mindestens. Bis 1945 wurde allein in Auschwitz etwa eine Million Menschen ermordet – die meisten davon Juden, unter ihnen aber auch Sinti und Roma, sowjetische Kriegsgefangene und politische Häftlinge.

Seit 1996 ist deshalb der 27. Januar der zentrale Gedenktag für die Opfer des Holocausts in Deutschland, 2005 machten die Vereinten Nationen den Tag zum Internationalen Gedenktag. Initiiert hat den Gedenktag in Deutschland der damalige Bundespräsident Roman Herzog, mit der Mahnung: „Die Erinnerung darf nicht enden, sie muss auch künftige Generationen zur Wachsamkeit mahnen.“

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Studie: Wissen um Beweggründe für Nazi-Unterstützung schwindet

Doch genau das gerät allmählich in Gefahr: Das Wissen um den Alltag und damit um die Grundlagen von Faschismus und Entrechtung schwindet, stellte gerade eine Studie der Universität Koblenz im Auftrag des rheinland-pfälzischen Landtags fest. Für die Studie wurden im Januar 2024 genau 466 Rheinland-Pfälzer in einer Umfrage zu ihrem Verhältnis zur NS-Geschichte befragt, aber auch dazu, ob der Holocaust Thema in der eigenen Familie ist. Ein wichtiger Aspekt dabei war die Befragung von Familien mit Migrationshintergrund, die also nicht über Erfahrungen aus der NS-Zeit selbst in ihrer Familie zurückgreifen können.

Stolpersteine für die von den Nazis deportierte Familie des Mainz 05-Gründers Eugen Salomon. - Foto: gik
Stolpersteine für die von den Nazis deportierte Familie des Mainz 05-Gründers Eugen Salomon. – Foto: gik

Die wichtigsten Ergebnisse der Forscher: Das Interesse an Themen rund um den Nationalsozialismus sei zwar hoch, auch sei das Wissen über die Vorgänge nicht einmal so gering ausgeprägt – doch dieses Wissen konzentriere sich hauptsächlich auf eine „historisierende Erinnerungskultur“, also eine eher akademische Form des Wissens. Über die Hälfte der Befragten gab jedoch an, dass sie überhaupt nichts (1,72 Prozent), eher wenig (16,31 Prozent) oder nur teil/teils (33,48 Prozent) etwas über den Alltag der Menschen im Nationalsozialismus weiß.

„Ein ähnliches Bild zeigt sich auch bei der Einschätzung des Wissens gegenüber der Einstellung der deutschen Bevölkerung im NS-Systems“, stellten die Forscher weiter fest. das aber sei ein Problem: „Nur wer Kenntnisse darüber besitzt, wie die Menschen im Faschismus gelebt haben und wie sie über diesen gedacht und geredet haben, kann in der heutigen Gesellschaft effektiv Gefahrenzeichen autoritärer und faschistoider Lebensweisen und Gedankenguts erkennen“, warnen die Wissenschaftler.

Gift von Rassismus und Vernichtung: Vorbereitet durch Sprache

Anders gesagt: Nur wer weiß, welche Gedanken und gesellschaftlichen Vorgänge zur Entstehung von Faschismus und vor allem zur Unterstützung für faschistische und rassistische Ideen durch eine breite Bevölkerung geführt haben, kann diesen Vorgängen heute „eine Brandmauer“ entgegen setzen. Die Vernichtung der Juden, das Gift einer rassistischen Sichtweise, die Herabwürdigung von Kritikern und Andersdenkenden – sie kam indes nicht aus dem Nichts: Vor allem mit der hassdurchtränkten Rhetorik und der abwertenden Sprache der Nationalsozialisten wurde der Boden bereitet für eine Kultur der Ausgrenzung – und schließlich der Deportation und Vernichtung.

Ausstellung "Worte wie Gift und Drogen" im Jahr 2017. - Foto: gik
Ausstellung „Worte wie Gift und Drogen“ im Jahr 2017. – Foto: gik

„Worte wie Gift und Drogen“, hieß deshalb 2017 eine Ausstellung im Mainzer Landtag zum Holocaust-Gedenktag, die daran erinnerte, dass Begriffe wie „Lügenpresse“, „Schweinejude“, „Endlösung“ oder „totaler Krieg“ das Denken prägten und die Einstellungen verdrehten – Gehirnwäsche nennen wir das heute. Die Ideologisierung von Anhängern ist derzeit in erschreckender Weise in den USA unter den Anhängern von Donald Trump zu beobachten, die jede Lüge seinerseits glauben, jede andere Sicht aber ablehnen.

Doch auch Diktatoren wie der russische Präsident Wladimir Putin oder der türkische Präsident Erdogan benutzen Sprache ungemein gerne, um Wahrheit in Lüge zu verdrehen – und ihre eigene Wahrheit als ultimative Richtigkeit zu verkehren – wer Kritik daran übt, wird dann eben als „Terrorist“ gebranntmarkt, und damit zur Verfolgung und sogar zum Abschuss freigegeben. „Mit Sprache kann man töten und sich und andere so radikalisieren, dass man gegen vernünftige Argumente immun wird“, sagte etwa 2017 der Präses der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), Ulrich Oelschläger.

Entrechtung von Menschen: Unter Beifall der Öffentlichkeit

„In Worten und Haltungen sehen wir heute mit erschreckender Klarheit die Parallelen zwischen den Nationalsozialisten von damals und den Rechtsextremisten von heute“, warnte am Samstag im Mainzer Landtag Landtagspräsident Hendrik Hering: Demokratieverachtung, Verschwörungslügen, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit, ja sogar Hass auf Minderheiten bis hin zu Deportationsphantasien – „all das lässt erahnen, wie schnell demokratische Errungenschaften, die wir für gefestigt halten, verloren gehen können“, betonte Hering.

Landtagspräsident Hendrik Hering am Rednerpult des Mainzer Landtags. - Foto: Landtag RLP
Landtagspräsident Hendrik Hering am Rednerpult des Mainzer Landtags. – Foto: Landtag RLP

Die Entrechtung von Menschen, die als Außenseiter und Geächtete galten, „spielte sich damals unter dem ausdrücklichen Beifall der Öffentlichkeit ab“, mahnte Hering weiter – das betraf beileibe nicht nur Juden, sondern auch Arbeits- und Wohnungslose, Bettler, Prostituierte und unangepasste Jugendliche.

Wenn Rechtsextreme „jetzt wieder die Vertreibung und Deportation von Millionen Menschen planen, sehen wir: das Gift der Nazis war nie weg, das Unsagbare ist wieder sagbar geworden“, kritisierte der Landtagspräsident – und es stoße auch noch auf Zustimmung in Teilen von Politik und Gesellschaft. Wer aber „Remigration“ sage, meine die „Deportation“ von allen, die ihnen nicht passten, egal ob sie Deutsche seien oder nicht. „Wir dürfen nie wieder zulassen, dass dies wieder geschieht“, betonte Hering: „‚Nie wieder‘ darf keine Floskel werden.“

Holocaust in Familien immer seltener Thema

Doch in den Familien in Deutschland sind der Holocaust, aber auch die Frage von Haltung und Einstellung in der NS-Zeit immer seltener Thema: Zwar gaben die Hälfte der in der Koblenzer Studie Befragten an, dass in ihrer Familie über den Zweiten Weltkrieg gesprochen wurde, in mehr als 50 Prozent der Familien ist der Holocaust jedoch heute „selten“ (43,23%) bis „nie“ (10,11%) Gesprächsthema. Dazu trägt natürlich auch bei, dass die Generation der Großeltern, die die NS-Zeit noch selbst erlebt hat, schwindet – dabei wolle die Enkelgeneration gerne mehr über diese Zeit wissen.

Der rheinland-pfälzische Landtag will seine Erinnerungsarbeit nun neu justieren. - Foto: Torsten Silz
Der rheinland-pfälzische Landtag will seine Erinnerungsarbeit nun neu justieren. – Foto: Torsten Silz

Der Landtag will die Ergebnisse der Studie nun für eine Neujustierung seiner Erinnerungsarbeit nutzen: „Wir werden nun neue, spezielle Module für unsere Besuchergruppen zu dieser Thematik anbieten, und in diesem Frühjahr damit beginnen, Orte der Demokratiegeschichte im Land auszuzeichnen“, kündigte Hering bei der Vorstellung der Studie an. Zudem sollen die Inhalte des jährlichen Schulbesuchstag des Landtags, bei dem die Abgeordneten die Schulen im Land besuchen, überarbeitet werden.

Und auch in Mainz will man in Sachen Erinnerungskultur nun weiter denken: „Der 27. Januar mahnt uns, dass eine demokratische und achtsame Gesellschaft keine Selbstverständlichkeit ist, sondern eine dauernde Aufgabe, der wir uns aktiv und engagiert stellen wollen und müssen“, betonte hier der Mainzer Oberbürgermeister Nino Haase (parteilos). „Es bestürzt mich, dass diese Mahnung ist heute wieder aktueller und drängender denn je ist“, sagte Haase weiter. Davon zeugten Hassbotschaften, Angriffe und Attacken in der Gesellschaft, aber auch Begriffe wie „Remigration“ und „Deportation“, „rechte Rhetorik und Geheimtreffen mit Umsturzphantasien.“

Mainz: Neues Konzept für Erinnerungskultur rund um den 27. Januar

Haase nahm am Samstag an gleich zwei Gedenkveranstaltungen in Mainz Teil: Bei der Enthüllung einer neuen Stele der Dokumentationsreihe „Historisches Mainz“ auf dem Jüdischen Friedhof in Mainz-Ebersheim und an der Gedenk-Stele für verfolgte Schwule, Lesben und andere Mitglieder der queeren Community auf dem Ernst-Ludwig-Platz. Haase kündiget auch an die Stadtverwaltung arbeite mit großem Engagement und gemeinsam mit vielen Institutionen in der Stadt an einem neuen Konzept zu einem zentralen Gedenken am 27. Januar – der Stadtrat hatte am 29. November 2023 in einem gemeinsam Antrag aller demokratischer Parteien die Stadtverwaltung dazu beauftragt.

So soll der "Gedenkort Deportationsrampe" an der Mombacher Straße aussehen. - Grafik: Schmelzer Weber SW Architekten
So soll der „Gedenkort Deportationsrampe“ an der Mombacher Straße aussehen. – Grafik: Schmelzer Weber SW Architekten

Derweil aber ist die lange geplante Gedenkstätte an der ehemaligen Deportationsrampe noch immer nicht realisiert. 2017 war ein Siegerentwurf eines Ideenwettbewerbs für die Gestaltung der Gedenkstätte an der Mombacher Straße gekürt worden, im März 2022 kündigte die Stadt dann endlich an: Das Mahnmal für die Deportation von rund 1.100 Juden, Sinti und Roma und auch Homosexuellen aus Mainz in die Todeslager im Osten solle nun endlich realisiert werden – Spatenstich und Baubeginn waren zuletzt für Frühjahr 2024 angekündigt.

„Es ist an der Zeit, für die Demokratie aufzustehen und sich klar zu ihren Werten zu bekennen“, betonte im Landtag am Samstag die stellvertretende Ministerpräsidentin Katharina Binz (Grüne): „‚Nie wieder‘ heißt zu widersprechen, wenn wir antisemitische oder rassistische Aussagen hören. ‚Nie wieder‘ bedeutet, sich den lauter werdenden Feinden der Demokratie und einer offenen, vielfältigen Gesellschaft entgegenzustellen. ‚Nie wieder‘ ist jetzt!“

Info& auf Mainz&: Mehr zu der Studie des Landtags zur Erinnerungskultur in den Familien findet Ihr hier im Internet. In Mainz erinnern inzwischen mehr als 300 „Stolpersteine“ an jüdischen Mainzer Mitbürger, die von den Nationalsozialisten deportiert und ermordet wurden – eine Liste dazu findet Ihr hier im Internet.