Es war vor einigen Tagen im Mainzer OB-Wahlkampf, eine lockere Runde unterschiedlich Denkender und Wählender stand zusammen, man plauderte. Über Mainz, über die Politik der vergangenen Jahre, über die Kandidaten für die Wahl am Sonntag. Das Gespräch wurde tiefer und hintergründiger – und am Ende sagte eine Frau: „Ich fühle mich, als würde mir Morpheus gerade die Matrix erklären.“ Ja, Mainz hat eine Matrix und eine dunkle Seite der Macht, der nun zu Ende gehenden OB-Wahlkampf hat das deutlich gezeigt – eine Bilanz im Mainz&-Leitartikel zur OB-Wahl 2019.
Achtung: Dieser Artikel ist ein Leitartikel. Ein Leitartikel ist die meinungsorientierte Darstellung eines Sachverhalts, einer gesellschaftllichen Entwicklung, den eine Redaktion als besonders zentrales, herausragendes Thema ihren Lesern in zugespitzer Form vor Augen halten will. Leitartikel sind KEINE Kommentare, sie beruhen auf intensiver Analyse und langer Recherche. Alle Aussagen und Zitate in diesem Text sind belegt, dies ist eine Analyse, die in zugespitzt-pointierter Form das Ergebnis längerer Beobachtungen zusammenfasst – und Stellung bezieht.
Der Kultfilm „Matrix“ erzählt die Geschichte der Erde als einer Welt, in der eine wunderschöne, glatte Oberfläche der Normalität in Wahrheit gesteuert wird von einem finsteren Reich der Maschinen. Es ist eine Welt, in der Menschenrechte und Individualität keine Rolle spielen und alles nach dem Schema funktioniert, das die Herrschenden vorgeben. Es ist eine wahrhaft düstere Welt, in der nur ein kleiner Haufen Rebellen die Wahrheit kennt und Widerstand leistet – allen voran Morpheus, der Neuen die Augen über das System öffnet.
Auch Mainz hat eine Matrix, es ist die Welt der Verdächtigungen und Gerüchte, die Welt des Rufmords und der anonymen Briefe, der Ausgrenzungen und ja, auch der Hetze. Es ist auch die Welt des gnadenloses Machtkampfes – aber dazu gleich mehr.
Die schöne Oberfläche von Mainz ist das Zauberhafte an dieser Stadt: Es ist die Stadt des einmaligen Lebensgefühls, die Stadt von bunter Lebensvielfalt, fröhlicher Fastnacht und unbeschwerten (Wein)Festen voller Genüsse bis weit in die Nacht hinein. Es ist die Welt, in der Mainz zu den lebenswertesten und attraktivsten Städten der Republik gehört. Eine Stadt, in der soziales Miteinander keine hohle Phrase ist, in der Rechtsradikalismus noch geächtet und Medien-Erfinder wie Johannes Gutenberg gerühmt werden. Alles das ist Mainz, und es macht das besondere Mainzer Lebensgefühl aus.
„Das Mainzer Lebensgefühl ist bedroht“, sagte die grüne OB-Kandidatin Tabea Rößner im Wahlkampf, und wer genau hinsah, konnte es in den vergangenen Jahren deutlich spüren: Mietenexplosion und Preiswahnsinn, Luxuswohnungen am Zollhafen und zunehmend unbezahlbare Mieten in der Mainzer Neustadt. In den Läden der Altstadt Leerstand, Neuansiedlungen von Verkaufsmärkten: Fehlanzeige. Innovative neue Läden gaben schneller wieder auf, als man hingehen konnte. An der Oberfläche feierte sich Mainz auf dem Marktfrühstück, unter den Füßen bröckelte derweil das Pflaster.
Den Mainzern schwante, dass etwas schief läuft, als die Rheinallee plötzlich zur dunklen Schlucht wurde, die die Neustadt von Licht und Frischluftzufuhr abschnitt – den Lärmriegel für die Reichen bilden Sozialwohnungen entlang der Hauptverkehrsstraße. Die schöne Oberfläche zeigte derweil die neue Marina und schicke Wohnungen am Wasser. „Es gibt einen großen Machtunterschied zwischen den alteingesessenen Menschen der Neustadt und den Investoren“, sagte Martin Ehrhardt, OB-Kandidat der „Partei“ im Mainz&-Interview: „Es gibt einen Zaun zwischen den beiden Gebieten.“
Vor 14 Jahren war die Neustadt noch ein Wohngebiet der sozial Schwachen und der alteingessenen Meenzer, heute, sagte jüngst ein Kollege: „Die Leute ziehen doch längst aus der Neustadt weg, weil sie sich die Wohnungen nicht mehr leisten können.“ Im Mainzer OB-Wahlkampf war davon nichts zu hören. Mainz habe die Trendwende geschafft, die Zahl der Sozialwohnungen steige wieder, das habe keine andere Stadt geschafft, verkündete Oberbürgermeister Michael Ebling (SPD) stolz. Er wolle keine Stadt, in der sich Ärmere die Wohnungen nicht mehr leisten könnten. „Das haben wir doch längst“, sagte ein Genosse, er sagte es nur hinter vorgehaltener Hand. Die Matrix hielt.
Es gibt viele solcher Risse in der glatten Oberfläche. Die glänzend-neue Mainzelbahn, gerühmt als epochales Erfolgsprojekt, für die parallel laufende Buslinien ausgedünnt und das Streckennetz zusammengestrichen wurde. Auch drei Jahre nach dem Start der Mainzelbahn gibt es keine Endabrechnung der Kosten, Wiedervorlage: nach den Wahlen. Auf der dunklen Seite der Matrix sitzen bis heute Anwohner in Bretzenheim in schwankenden Häusern und neben quietschenden Gleisen. Der Preis für einen Einzelfahrschein wird im Dezember auf 2,90 Euro steigen. Die Stadtspitze redet über 365-Euro-Tickets, preist die Stadtverschönerung in der Innenstadt und weiht Plätze ein, auf denen kein einziger Grashalm wächst. Die Matrix hält.
Auf der dunklen Seite steht eine sich immer weiter aufheizende Innenstadt mit einer Luft voller Dreck und Abgasen und stinkenden Kanälen in Sommermonaten. Im Mainzer Stadtrat stimmen derweil Grüne gegen Anträge zu Klimaschutz und Ökologie, Sozialdemokraten gegen soziale Initiativen, die sie selbst vertreten, und die FDP gegen eine Abschaffung der Straßenausbaubeiträge, die sie selbst fordert. Entschieden wird schon lange nicht mehr nach Inhalt und dem, was gut ist für die Stadt – entschieden wird allein nach dem, was der Partei gut tut und was man „oben“ will.
„Bei uns im Ort ist es eigentlich egal, wer welche Partei hat“, sagte gerade ein Kommunalpolitiker von einem Ort vor den Toren von Mainz: „Wir entscheiden meist gemeinsam, wie wir den Ort voran bringen wollen.“ In Mainz war das auch einmal so, vor vielen Jahren, etwa als der Sozialdemokrat Hermann-Hartmut Weyel Oberbürgermeister von Mainz war. Heute herrscht Blockbildung im Mainzer Rat, in der Welt der Mainzer Matrix gibt es nur noch „Freund“ oder „Feind“. Wer nicht meine Partei ist, ist böse, wer auf der „anderen Seite“ der Macht steht, der Feind, den es mit allen Mitteln zu bekämpfen gilt. „Abweichler“ in den eigenen Fraktionen, die sich den Luxus einer eigenen Meinung leisten, werden eingenordet, kaltgestellt und bestraft.
„Das höhlt ja die Demokratie aus“, sagte jüngst ein Gesprächspartner von außerhalb, entgeistert. „Wir brauchen eine überparteiliche Stadtpolitik, eine freie Diskussionskultur“, sagte der parteilose OB-Kandidat Nino Haase, der von CDU, ÖDP und Freien Wählern unterstützt wird, im Wahlkampf, er sagte es nicht von ungefähr: Alle drei Parteien klagen seit vielen Jahren über die fehlende Diskussionskultur im Rat, ja, über die Häme, die ihren Vorschlägen und Anträgen vielfach entgegen schallt.
Auf der hellen Seite der Matrix feiert sich Mainz als eine offene Stadt, in der man gerne feiert und Fremde willkommen heißt, in der man an einem Tisch sitzt und miteinander redet. Auf der dunklen Seite der Matrix musste sich die seit 27 Jahren in Mainz lebende Tabea Rößner im Wahlkampf anhören, sie sei ja keine „echte Mainzerin“, man wähle lieber „den echten Meenzer Bub“, der verstehe die Stadt wenigstens. In den Podiumsdiskussionen des Wahlkampfs standen die Kandidaten beinahe schon einträchtig nebeneinander, man war höflich und freundlich, gab sich gegenseitig auch mal Recht – manch Zuschauer fragte sich schon: Worin unterscheiden die sich eigentlich?
Auf der dunklen Seite der Matrix gab die SPD eine als neutral getarnte Telefonumfrage in Auftrag, die Fragen stellte, wie diese: „Wollen Sie eine Frau – oder einen kompetenten OB?“ Auf der schwärzesten Seite der Matrix wurden Gerüchte und Verdächtigungen gestreut. Mal ging es um Affären, die jemand mit der Kandidatin haben soll, mal darum, dass sich der unabhängige Millionär „die Stadt kaufen“ wolle. Haase habe sich diese Zeitung und jenen Radiosender gekauft, hieß es da – sogar Summen wurden genannt. Auch Mainz& sei natürlich „gekauft“, wurde wochenlang gestreut, immer anonym, nur im Schatten der Matrix. Erst heute wieder schrieb ein SPD-Mann unter einem Interview, das wir mit Nino Haase geführt hatten, ob wir „das nicht als Werbung kennzeichnen müssten?“
Ein objektiver Bericht, ein Porträt, ein Interview mit dem politischen Feind reichen heute aus, um verdächtig zu sein und im Internet mit Hetze und Rufmord überzogen zu werden: Das kann ja kein Journalismus sein! Wer ausgewogen berichtet, ist verdächtig, wer Fragen stellt, ist der Feind – die Mainzer Matrix macht nicht einmal vor der Pressefreiheit Halt.
Denn Fragen legen die Risse in der Matrix offen – das wurde nirgends so deutlich wie beim Bibelturm. Das wunderschöne Bild von dem bronzefarbenen Highlight bekam schneller Risse als man gucken konnte, als die Bürgerinitiative Gutenberg-Museum begann, Fragen zu stellen: nach Kosten, Bauzeit, Umfang, Material. Fragen wurden weggelächelt, kritische Fragensteller als Kulturbausen diffamiert und in öffentlichen Veranstaltungen beschimpft. Die Mainzer erahnten die Risse in der Matrix, ihre 77,3 Prozent gegen den Turmbau waren eine veritable Ohrfeige gegen eine Stadtpolitik, die ihren Bürgern nicht zuhört und Willen und Lebensgefühl der Mainzer ignoriert. „Es haben viele Leute danach Hoffnung gehabt, dass sich wirklich etwas verändert“, sagte Haase, einer der Organisatoren des Bürgerentscheids.
Doch die Matrix hielt, die Arbeitswerkstatt Gutenberg verschwand hinter einer Schweigemauer. Teilnehmer, die über Themen reden wollten, wurden abgestraft – ganz nach Rathaus-Linie. „Die Stadtspitze spricht mit einer Stimme“, heißt es auf der schönen Matrixoberfläche – wer hat diesen Satz eigentlich erfunden? Auf der dunklen Seite der Matrix reden Dezernate nicht miteinander, ergreifen Dezernenten die Flucht, weil sie „die Demütigungen nicht mehr ertragen.“ Dezernenten, die es wagen, eigenständig zu Themen ihres Fachgebiets (!) öffentlich Stellung zu nehmen, werden zum Rapport einbestellt. Die dunkle Seite der Matrix ist die, auf der sich Mitarbeiter im Rathaus bitter über rigide Befehlskultur von oben beklagen. Die dunkle Seite der Matrix ist die, auf der anonyme Briefe geschrieben werden, weil man sich öffentlich nicht traut zu sagen, was schief läuft.
„Mainz braucht einen Tritt in den Arsch“, sagte der OB-Kandidat der Linken, Martin Malcherek, im Wahlkampf unumwunden, er meinte genau diese Kultur des Umgangs miteinander. Die dunkle Seite von Mainz, sie existiert, aber niemand redet öffentlich darüber – was macht das mit einer Demokratie? „Wir haben ein Recht, das zu erfahren“, sagte ein Mainzer gestern Abend.
Was aus Mainz wird, wird jeden Tag neu verhandelt – gefährlich ist, wenn dieser Prozess nicht mehr offen stattfindet. Demokratie braucht Transparenz, sie braucht eine offene Diskussionskultur, was sie kaputt macht, sind Schatten-Welten und schöner Schein. Die Rolle der Medien ist es, über alle Seiten der Macht zu berichten, ihre wichtigste Aufgabe, die dunklen Seiten der Matrix offen zu legen, so es sie denn gibt. „Wir sind eine Gewalt, die die Öffentlichkeit so informiert, dass sie weiß, wohin es gerade mit ihrem Staat geht“, sagte die Journalistin und Schriftstellerin Jagoda Marinić vor einigen Monaten im Deutschlandfunk. Da war er wieder, der Satz mit Morpheus und der Matrix.
Info& auf Mainz&: Was die Konsequenz daraus ist? Das entscheiden die Politiker und die Bürger dieser Stadt. Nicht nur bei der Oberbürgermeisterwahl morgen, sondern jeden Tag. Deshalb gibt dieser Leitartikel nur eine einzige Empfehlung ab: Seht hin. Informiert Euch. Und geht Wählen! Am Sonntag entscheiden die Mainzer über die künftige Ausrichtung ihre Stadt in den kommenden acht Jahren, es werden wichtige Jahre für Mainz. Ihr entscheidet, wem Ihr diese wichtige Aufgabe anvertrauen wollt – alle Porträts, Interviews und Berichte zur Information findet Ihr in unserem Dossier zur OB-Wahl 2019 genau hier.