Am morgigen Samstag endet in Deutschland eine Ära – zumindest vorerst: Nach 66 Jahren werden in Deutschland die letzten drei noch laufenden Kernkraftwerke abgeschaltet. Mehr als 70 Prozent der Deutschen findet das Umfragen zufolge falsch. Auch im politischen Mainz wird das Thema heftig diskutiert: Während die rheinland-pfälzische SPD die Abschaltung „gut und richtig“ findet, kritisiert die Landes-CDU: Die Rettung des Klimas werde nur mit einer modernen Nutzung der Kernkraft gelingen. Und die Freien Wähler Mainz fordern: Erst wenn es ein zuverlässiges und umweltverträgliches Gesamtkonzept gebe, könne man über das Aus der Atomkraftwerke reden.

Das AKW Mülheim-Kärlich bei Koblenz 2006 nach seiner Stilllegung, und vor seinem Rückbau. - Foto: gik
Das AKW Mülheim-Kärlich bei Koblenz 2006 nach seiner Stilllegung, und vor seinem Rückbau. – Foto: gik

36 Kernkraftwerke wurden zwischen 1957 und 2004 in Deutschland gebaut, das waren bereits deutlich weniger als in anderen europäischen Ländern. Das einzige Atomkraftwerk in Rheinland-Pfalz, das AKW Mülheim-Kärlich, war ganze elf Monate in Betrieb: Die Betreiber hatten den Meiler auf einer Erdbebenspalte gebaut – 2001 wurde es nach jahrelangen Gerichtsprozessen endgültig stillgelegt.

2011 beschloss die Bundesregierung unter der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel(CDU) unter dem Eindruck der Atomkatastrophe im japanischen Fukushima den endgültigen Ausstieg aus der Atomindustrie – acht AKWs wurden damals sofort stillgelegt. Die Atomkraft galt in Deutschland nicht länger als sicher und beherrschbar, die Angst vor einem GAU mitten in Deutschland war mit Blick auf die vielen deutschen Altmeiler zu groß. Auch zwölf Jahre nach dem GAU leide Japan unter kontaminiertem Wasser, signifikant erhöhten Krebszahlen, dauerhaft vertriebenen Anwohnern und finanziellen Schäden von über 170 Milliarden Euro, betont man bei der Deutschen Umwelthilfe.

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Licht aus bei letzten AKWs trotz drastisch veränderter Energielage

Seit 2015 wurden die verbliebenen neun Atomblöcke in Deutschland sukzessive abgeschaltet – bis auf die letzten drei AKWs: Isar 2, Emsland und Neckarwestheim 2. An diesem Samstag kommt nun auch das Aus für diese drei letzten AKWs, doch die Debatte um das Abschalten ist neu aufgeflammt: Der Krieg in der Ukraine hat die Energielage in Deutschland seit Februar 2022 drastisch verändert. Der Wegfall des billigen Gases aus Russland hat eine Energiekrise ausgelöst, die bislang nicht gebannt ist. Die Bundesnetzagentur warnt mit Blick auf den kommenden Winter erneut vor Engpässen, dazu musste Deutschland im vergangenen Winter mehr Gas verstromen als geplant – und Kohlekraftwerke wieder ans Netz nehmen, die als Hauptverursacher beim CO2-Ausstoß gelten.

Aus für die Atomkraft in Deutschland: Wie hier am AKW Mülheim-Kärlich beginnt am Samstag die "Abbautour" für die restlichen deutschen AKWs - oder? - Foto: gik
Aus für die Atomkraft in Deutschland: Wie hier am AKW Mülheim-Kärlich beginnt am Samstag die „Abbautour“ für die restlichen deutschen AKWs – oder etwa doch nicht? – Foto: gik

Auch im politischen Mainz wird das Thema heftig diskutiert: Während SPD und Grüne den Atomausstieg feiern, kritisieren CDU, AfD und Freie Wähler das Abschalten als voreilig oder sogar als falsch und schädlich für die Wirtschaft. „Weder Industrie noch Gesellschaft brauchen die Atomkraft für eine sichere und bessere Zukunft“, betonten die rheinland-pfälzischen Grünen bereits am 10. März, kurz vor dem Jahrestag der Fukushima-Katastrophe: „Atomkraft ist brandgefährlich und nicht beherrschbar“, sagte die Grünen-Landtagsabgeordnete Jutta Blatzheim-Roegler.

Der Wegfall der Atomenergie mache nun „Platz für das Einspeisen Erneuerbarer Energien“, sagte Blatzheim-Roegler weiter: „Nur ein zielstrebiger Ausbau der Erneuerbaren Energien kann uns aus bestehenden Abhängigkeiten fossiler Energien befreien. Nur die Erneuerbaren können uns eine sichere, klimaneutrale und kostengünstige Energieversorgung gewährleisten.“ Experten jedoch warnen: Womit wolle Deutschland seinen Strombedarf decken, wenn der Wind nicht wehe, und die Sonne nicht scheine?

Wochen der Dunkelflaute im Winter 2022

Tatsächlich erlebte Deutschland im Winter 2022-2023 mehrere Wochen lang eine sogenannte „Dunkelflaute“ – also eine Wetterlage, in der Windkraft und Solarenergie nur wenig zur Deckung des Strombedarfs beitragen konnten. 80 Prozent des Strombedarfs wurde in dieser Zeit durch Kohle und Gas gedeckt – im Herbst 2022 waren „mindestens 16 Kohlekraftwerksblöcke wieder am Netz oder nicht in die Reserve gegangen“, wie das ZDF berichtete. Schon im dritten Quartal 2022 stammte nach Angaben des Statistischen Bundesamtes mehr als ein Drittel (36,6 Prozent) der hierzulande erzeugten Strommenge aus Kohlekraftwerken – das war ein Anstieg um 13,3 Prozent im Vergleich zu 2022.

Warnung in der App „StromGedacht“ vor einer Netzüberlastung im Januar 2023. – Screenshot: gik
Warnung in der App „StromGedacht“ vor einer Netzüberlastung im Januar 2023. – Screenshot: gik

Um seine Energieprobleme zu lösen, musste Deutschland also massiv wieder auf Braunkohle und Steinkohle setzen. Gleichzeitig fürchten Netzexperten um die Stabilität des Stromnetzes – im Winter 2022-2023 warnten Experten und Stromversorger gleich reihenweise vor einem Blackout. In Baden-Württemberg warnt inzwischen die App „StromGedacht“ die Bürger vor einer angespannten Lage im Stromnetz wegen schwankender, wetterabhängiger Energien – und bittet die Bürger um Mithilfe durch Stromverbrauchsreduzierungen, um das Stromnetz zu entlasten.

„Der Atomausstieg macht unser Land sicherer“, sagt dennoch Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne), und versichert: „Die Versorgung mit Energie wird weiterhin gewährleistet sein – auch ohne die AKW.“ Gleichzeitig verteidigte in Mainz der Energiepolitische Sprecher der SPD-Landtagsfraktion, Patric Müller, den Streckbetrieb für die drei letzten AKWs im vergangenen Herbst durch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD): Die Entscheidung von Scholz, drei Atomkraftwerke vorläufig weiterlaufen zu lassen, sei „angemessen“ gewesen, denn die Kraftwerke könnten „unter bestimmten Umständen einen Beitrag zur Stabilisierung des Stromnetzes leisten“, sagte Müller.

Drei AKWs, sechs Prozent Stromproduktion – 10 Millionen Haushalte

Die verbliebenen drei Atomkraftwerke hätten nur „einen Anteil von circa fünf Prozent an der deutschen Stromproduktion“, wehrt Lemke ab – tatsächlich sind es nach offiziellen Angaben sechs Prozent. Das klingt wenig, doch es ist die Hälfte des Stroms in Deutschland, der im vergangenen Jahr 2022 durch Gas erzeugt wurde – das waren 12,5 Prozent. Mehr noch: Eine Grafik der Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen zeigt auch: Damit lieferten die drei verblieben Atommeiler in Deutschland sogar mehr Strom als Steinkohle-Kraftwerke – und versorgten rund zehn Millionen Haushalte mit Strom.

Grafik Bruttostromerzeugung in Deutschland 2022 nach Energieträgern. - Quelle: Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen
Grafik Bruttostromerzeugung in Deutschland 2022 nach Energieträgern. – Quelle: Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen

Damit müssen die nun wegfallenden sechs Prozent der Stromproduktion entweder durch Gas- oder Kohleverstromung ersetzt werden – und das dürfte Auswirkungen auf den Strompreis haben: Zwar ist Strom aus Erneuerbaren Energien in der Tat billig, doch die Verbraucher profitieren davon kaum – der Marktpreis am Strommarkt wird jeweils durch die Erzeugungskosten des letzten, gerade noch benötigten Kraftwerks bestimmt. Und das waren in diesem Winter Gaskraftwerke, die mit horrend teurem Gas bestückt werden mussten. Die Folge: Die Energiekosten explodierten geradezu, zahlreiche kleinere Geschäfte wie Bäckereien, aber auch Restaurants oder andere kleine Unternehmen mussten reihenweise aufgeben.

Trotzdem feierte man bei Grünen und SPD den Atomausstieg: „Es ist gut und richtig, dass der Atomausstieg nun in Deutschland vollendet wird, und die drei letzten Atomkraftwerke vom Netz gehen“, sagte die SPD-Fraktionschefin im Mainzer Landtag, Sabine Bätzing-Lichtenthäler am Freitag. Die verschiedenen schrecklichen Atomkatastrophen in den vergangenen Jahrzehnten belegten, „dass auch die zivile Nutzung der Atomkraft letztlich nicht beherrschbar ist“, betonte Bätzing-Lichtenthäler, die Abschaltung sei „eine wichtige Wegmarke der Energiewende, die Deutschland derzeit vollzieht.“

SPD: Atomausstieg „wichtige Wegmarke“ – Bezahlbarkeit: offen

Gleichzeitig räumte die Sozialdemokratin auch ein, „dass noch viel Arbeit vor uns liegt: Wir müssen den Umbau des Energiesystems mit Hochdruck voranbringen, um von fossilen Energieträgern weg zu kommen, und um das Ziel der Klimaneutralität zu erreichen.“ Dabei müsse man „immer auch die ärmeren Menschen und die Personen mit kleinerem Geldbeutel im Blick haben“, betonte Bätzing-Lichtenthäler: Die Energiewende müsse „etwa über Zuschüsse und Ausgleichszahlungen sozialverträglich gestaltet werden.“

SPD-Fraktionschefin Sabine Bätzing-Lichtenthäler während ihrer Amtszeit als Gesundheitsministerin. - Foto: gik
SPD-Fraktionschefin Sabine Bätzing-Lichtenthäler während ihrer Amtszeit als Gesundheitsministerin. – Foto: gik

Wie das gehen soll, ist indes weiter völlig unklar: Der Strompreis in Deutschland kennt seit Jahren nur eine Richtung – nach oben. Im Winter 2022 explodierten die Preise weiter, Gas- und Strompreisbremsen griffen jedoch erst in diesem März, als die Preise an den Märkten bereits wieder fielen – meist sogar unter die Preisbremse-Marke. Die Regelungen sind kompliziert, die Gelder vielfach noch gar nicht angekommen, die Wirkungen bei den Bürgern: unklar. Beim Paritätischen Wohlfahrtsverband in Berlin etwa befürchtet man einen deutlichen Anstieg von Stromsperren und Kündigungen – es werde „viele Situationen geben“, wo die Unterstützungsleistungen nicht ausreichten.

Die Energieversorgung in Deutschland sei sicher, betont man bei der SPD – dass sie auch bezahlbar ist, davon redet man lieber nicht. Stattdessen kritisierte Bätzing-Lichtenthäler die CDU in Rheinland-Pfalz: Deren Landeschef Christian Baldauf agiere „als AKW-Hardliner“, die CDU müsse klären, ob das die Richtung der rheinland-pfälzischen CDU sei, wollte die SPD-Fraktionschefin wissen.

Baldauf: Klimakrise ohne Atomenergie nicht aufzuhalten

Baldauf hatte in der Tat den Atomausstieg als falsch kritisiert: Es sei „falsch, die Atomkraft zu verteufeln“, sagte Baldauf. „Wenn wir die Folgen des Klimawandels und der Erderwärmung aufhalten wollen, werden wir nicht um die Nutzung der Atomkraft herumkommen“, unterstrich der CDU-Landechef – er werbe „für einen ideologiefreien und ehrlichen Umgang mit der Kernenergie.“ Forschung und Technologie eröffneten heute ganz neue Möglichkeiten, eine neue Generation kleinerer Kraftwerke könnte schon in zehn Jahren zu einer sicheren und sauberen Energieversorgung beitragen, argumentierte Baldauf weiter.

CDU-Landeschef Christian Baldauf in einem SWR-Fernsehinterview. - Screenshot: gik
CDU-Landeschef Christian Baldauf in einem SWR-Fernsehinterview. – Screenshot: gik

Die Bundesregierung setze stattdessen weiter auf Gasverstromung und auf dreckige Kohlekraftwerke, kritisierte Baldauf. „Das schadet dem Klimaschutz!“ Es gebe eine neue Generation von Kernkraftwerken, sogenannten „Small Modular Reactors“ (SMR), die deutlich seien und auch weniger radioaktiven Müll produzierten. „Wir müssen die erneuerbaren Energien massiv ausbauen, aber wir dürfen auch Technologien der Kernspaltung und Kernfusion nicht sofort verteufeln, sondern müssen vielmehr die Chancen in den Blick nehmen“, betonte Baldauf. Ziel müsse eine sichere und bezahlbare Energie für die Bürger, aber auch für die Industrie sein – dabei werde es um den richtigen Mix an Energieträgern gehen.

Der Atomausstieg schade Bürgern und Wirtschaft, kritisierte denn auch die AfD: Ein sicherer, bezahlbarer und umweltfreundlicher Strommix sei „nur unter Einbeziehung der Kernenergie zu gewährleisten, weshalb weltweit und auch in Europa immer mehr Länder auf diese Technologie setzen.“ Tatsächlich waren im Januar 2023 laut Statistischem Bundesamt weltweit 102 neue Kernkraftwerke geplant, 57 Reaktoren nach Angaben der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEA) im Bau.

Insgesamt sind weltweit laut IAEA 422 Reaktoren mit einer installierten elektrischen Gesamtnettoleistung von rund 393,333 Gigawatt (GWe) in Betrieb. Länder wie Schweden und Finnland kippten ihre einstmals getroffenen Ausstiegsbeschlüsse wieder, und bauen neue Atomkraftwerke – die schwedische Umweltaktivistin Greta Thunberg kritisierte erst kürzlich Deutschland gerade deutlich für seinen Atomausstieg und seinen massiven Anstieg der Kohlenutzung.

Freie Wähler: Erst Erneuerbare ausbauen, dann AKW abschalten

Die Freien Wähler in Mainz kritisieren derweil, Deutschland habe zu „den führenden Nationen im sicheren Kernkraftwerksbau“ gehört, nun werde „ein ganzer, sehr erfolgreicher Industriezweig ohne Not abgewickelt.“ In Zeiten hoher Inflation werde eine günstige Stromerzeugung gekippt, das bedrohe „Deutschland und den Wohlstand des Einzelnen“, sagte der Vorsitzende des Mainzer Kreisverbands der Freien Wähler, Christian Weiskopf, und forderte: „Wir brauchen ein Gesamtkonzept für Energieerzeugung und mit belastbaren Speicherlösungen für Deutschland, bevor wir Atomkraftwerke abschalten.“

Christian Weiskopf, Vorsitzender des Kreisverbands der Freien Wähler in Mainz. - Foto: Freie Wähler
Christian Weiskopf, Vorsitzender des Kreisverbands der Freien Wähler in Mainz. – Foto: Freie Wähler

70 Prozent der Deutschen hielten den Atomausstieg zum jetzigen Zeitpunkt für falsch, mindestens jeder Vierte fordere sogar mehr Atomkraft, betonte Weiskopf mit Verweis auf  eine aktuelle Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa. Laut dem Trendbarometer von RTL und ntv hätten 43 Prozent der Befragten für eine längere Nutzung der AKWs für die Stromerzeugung, 25 Prozent forderten sogar, bereits stillgelegte Atomkraftwerke wieder hochzufahren.

„Nur 28 Prozent der Bürgerinnen und Bürger finden die Abschaltung der Kernkraftwerke Isar 2, Neckarwestheim und Emsland am Samstag richtig“, betonte Weiskopf – allein die Anhänger der Grünen befürworten mehrheitlich (65 Prozent) eine endgültige Abschaltung. An eine sichere Stromversorgung ohne Nutzung der Kernenergie glauben mehrheitlich lediglich die Anhänger der Grünen (81 Prozent) und der SPD (59 Prozent). „Man fragt sich: Warum wird dieser Wille der Bürger ignoriert“, fragte Weiskopf. Das Credo für die Energiewende müsse doch sein: „Erst ausbauen und aufbauen, dann abschalten“, fügte er hinzu.

Info& auf Mainz&: Wie andere Länder mit dem Thema Atomenergie umgehen, was Experten für Energienetze zum Ausstieg sagen, und welche modernen Entwicklungen es in Sachen Atomkraftwerke gibt – etwa AKWs, die mit Atommüll betrieben werden können – könnt Ihr hier in der ARD-Doku „Deutschland schaltet ab – Der Atomausstieg und die Folgen“ sehen – wir empfehlen die nachdenkenswerte Doku ausdrücklich. Mehr zum Thema Vorsorge gegen Blackouts lest Ihr zudem hier bei Mainz&.