UPDATE&: Die Geschwindigkeitsbeschränkung Tempo 30 auf den Hauptverkehrsachsen in Mainz ist unwirksam. Der Stadtrechtsausschuss erklärte die Anordnung der Stadt Mainz am Mittwochmorgen für rechtswidrig – und setzte das Tempolimit mit sofortiger Wirksamkeit aus. Der Vorsitzende des Stadtrechtsausschusses, Rolf Merk, gab damit einem Widerspruch des Mainzers Friedemann Kobusch Recht, der 2021 gegen die Anordnung interveniert hatte. Der Stadtrechtsausschuss ist ein unabhängiges Schiedsgremium der Stadt Mainz, seine Anordnung ist bindend und muss sofort vollzogen werden. Die Stadt Mainz kündigte am Mittag an, sie werde nun mit dem Abbau beziehungsweise dem Verhüllen der Schilder beginnen. Zugleich arbeitet die Stadt an einer neuen Begründung für Tempo 30 – dieses Mal wegen Lärmbelastung.

Die Stadt Mainz hatte zum 1. Juli 2020 Tempo 30 auf den Hauptverkehrsachsen Parcusstraße-Kaiserstraße und Rheinallee-Rheinstraße verfügt, um die Schadstoffgrenzwerte beim NO2-Ausstoß einhalten zu können. Die Schadstoffe wurden aber bereits seit dem Jahr 2020 an keiner einzigen Messstelle in Mainz mehr überschritten. Ein Gutachten der Stadt Mainz, das seit vier Wochen vorliegt, hatte zudem aufgezeigt, dass auch mit einer Rückkehr zu Tempo 50 keine Grenzwertüberschreitungen drohen – auch nicht in den kommenden Jahren.
Der Stadtrechtsausschuss hatte an diesem Mittwoch über den Einspruch des Mainzers Friedemann Kobusch entschieden – und erklärte die Anordnung von Tempo 30 auf der Achse Parcusstraße-Kaiserstraße sowie auf der Rheinachse zwischen Kaiser-Karl-Ring und Holzhofstraße für unwirksam. „Tempo 30 gilt mit sofortiger Wirkung nicht mehr“, sagte Kobusch am Mittwoch gegenüber der Internetzeitung Mainz&. Es sei offensichtlich, dass durch Tempo 50 keine Verletzungen der Grenzwerte mehr zu befürchten seien. „Der Vorsitzende hat selbst gesagt, er sei befremdet, dass die Schilder nicht bereits abgehängt oder verhängt sind“, berichtete Kobusch: „Wir sind hier im Bereich von Recht und Gesetz, das muss nun eigentlich sofort vollzogen werden.“
Einspruch: Stadt hätte neue Schadstoffprognosen vorlegen müssen
Kobusch hatte die Stadt darauf hingewiesen, dass ihre eigenen Schadstoffprognosen für den NO2-Ausstoß in Mainz nur bis Ende 2021 berechnet waren – danach hätte die Stadt zur Aufrechterhaltung von Tempo 30 auf den Hauptverkehrsstraßen neue Berechnungen zur Notwendigkeit vorlegen müssen. Das aber geschah nicht – damit entfiel faktisch seither die Begründung für die Anordnung von Tempo 30 in diesen Bereichen, das Tempolimit war faktisch rechtswidrig.

Hintergrund ist, dass Tempo 30 auf Hauptverkehrsachsen und insbesondere auf Bundesstraßen in der Straßenverkehrsordnung grundsätzlich nicht erlaubt ist. Sinn der Anordnung sei, dass Hauptverkehrsachsen sonst ihre Funktion zu verlieren drohten, den Verkehr gebündelt und zügig durch eine Region zu lenken, erklärten Experten des ADAC schon 2021 gegenüber Mainz&. Während Tempo 30 in Wohngebieten und auf Nebenstrecken völlig unstrittig ist, entzündet sich an Tempo 30 auf Hauptverkehrsachsen immer wieder scharfe Kritik: Die deutlich reduzierte Geschwindigkeit bremse den Verkehrsfluss erheblich und sorge für deutlich mehr Stopps an roten Ampeln – was für mehr Lärm und mehr Abgase sorge. Zudem werde auch der ÖPNV ausgebremst.
Ende 2024 wurde das Straßenverkehrsgesetz aktualisiert, seither haben Kommunen zwar etwas mehr Rechte bei der Einführung von Tempo 30-Zonen, „ein Freibrief ist das aber nicht“, mahnte der ADAC. Seither dürfen Kommunen einfacher Tempo 30 an Kindergärten, Spielplätzen, Schulen, hochfrequentierten Schulwegen, Alten- und Pflegeheimen oder Krankenhäusern einrichten, und das auch auf Bundes-, Land- oder Kreisstraßen – aber immer nur punktuell. Zugleich erlaubt das neue Straßenverkehrsrecht auch, Lücken von bis zu 500 Metern zwischen bestehenden Tempo-30-Strecken zu schließen – das könnte in Mainz noch wichtig werden. Tempo 30 kann ferner zum Schutz der Bürger vor Lärm angeordnet werden.
Gutachten: Auch bei Tempo 50 wird Grenzwert klar eingehalten
Tatsache aber ist eben auch: Die Mainzer Anordnung für Tempo 30 auf der Achse Parcusstraße-Kaiserstraße sowie der Rheinachse zwischen Kaiser-Karl-Ring und Holztorstraße war in den vergangenen zwei Jahren rechtswidrig – beide Achsen sind Bundesstraßen und zudem mehrspurige Hauptverkehrswege mit vielen Kreuzungen. Verkehrsdezernentin Janina Steinkrüger (Grüne) musste am Mittag einräumen, die Anordnung der Stadt für Tempo 30 auf diesen Strecken „verliert ihre Gültigkeit mit der Begründung, dass die Grenzwerte für Stickstoffdioxid (NO2) auch ohne Tempo 30 eingehalten und sogar unterschritten werden.“

Genau das aber hatte ein Gutachten eines renommierten Verkehrsplanungsbüros der Stadt Mainz gerade erst bescheinigt. Aus dem Gutachten, das Mainz& exklusiv vorliegt, gehen mehrere Dinge klar hervor: Schon im Jahr 2020 und in allen Jahren danach – einschließlich dem Jahr 2024 – wurde der gesetzlich festgelegte Grenzwert von 40 Mikrogramm Stickoxiden pro Kubikmeter an keiner einzigen Messstation in Mainz überschritten. Im Gegenteil: Selbst an den 2019 noch hoch belasteten Messstationen, wurden 2024 nur noch Grenzmittelwerte von 28 oder 29 Mikrogramm, höchstens aber 31 Mikrogramm gemessen – und damit weit unter dem Grenzwert.
Mehr noch: Das Gutachten bescheinigte sogar, dass auch in den kommenden Jahren keine Gefahr besteht, dass die Messwerte auch nur in die Nähe des Grenzwertes kommen – und zwar auch dann nicht, wenn die Stadt Tempo 30 aufhebt und zu Tempo 50 zurückkehrt. Denn diese Rückkehr zur Regelgeschwindigkeit mache einen Unterschied von gerade einmal 1,2 bis maximal 1,5 Mikrogramm aus, rechneten die Experten vor, und konstatieren: Konflikte mit dem Grenzwert seien „auch für das Prognosejahr 2028“ nicht zu erwarten, und zwar auch nicht bei aufgehobenem Tempolimit.
Steinkrüger: „Haben keine Handlungsnotwendigkeit gesehen“
„Wir können die Argumentation des Stadtrechtsausschusses nicht nachvollziehen“, sagte Steinkrüger am Mittwoch auf einer kurzfristig anberaumten Pressekonferenz. Die Stadt habe eine Verpflichtung für die Gesundheit ihrer Bürger zu sorgen, „ich bin überzeugt, dass Tempo 30 auch weiterhin die Luftqualität auf den Hauptverkehrsachsen verbessert“, betonte die Dezernentin dabei. „Ich werde vom Gesetzgeber aufgefordert, die Messwerte und die Belastung der Bevölkerung so gering wie möglich zu halten“, sagte Steinkrüger weiter: „Mit Tempo 50 geht eine Verschlechterung einher, da ist ein Mikrogramm schlechter auch schlechter.“

Wegen der neuen EU-Richtwerte sei die Entscheidung „aus unserer Sicht nicht absehbar“, sagte Steinkrüger zudem, die Stadt habe „aufgrund der jetzigen Situation keine Handlungsnotwendigkeit gesehen.“ Handlungsnotwendigkeit hätte allerdings spätestens ab dem Vorliegen des neuen Gutachtens bestanden, nach Mainz&-Informationen lag das bereits Ende Februar dem Verkehrsdezernat vor. Zu diesem Zeitpunkt hätte die Stadtverwaltung reagieren, die Dezernentin den Abbau der Tempo 30-Schilder anordnen müssen – das geschah aber nicht.
Nun räumte Steinkrüger ein, die Stadt werde die Tempo 30-Schilder schnellstmöglich abbauen oder verhüllen – das hatte der Stadtrechtsauschuss am Morgen angeordnet. Zur Frage, was mit seit den 2023 ergangenen Bußgeldern wegen zu schnellen Fahrens in den Tempo 30-Zonen sei, sagte Steinkrüger lediglich, diese seien nicht rückwirkend änderbar: „Man kann nicht rückwärts Recht sprechen.“
Tatsächlich hat die Europäische Union Mitte Dezember 2024 eine überarbeitete europäische Luftqualitätsrichtlinie in Kraft gesetzt, die einen deutlich strengeren Grenzwerte von 20 Mikrogramm vorsieht. Nur: Dieser strenge Grenzwert gilt noch nicht, er muss noch in nationales Recht umgesetzt werden – und gilt frühestens ab dem 1. Januar 2030. Der Leiter des Grün- und Umweltamtes, Kai-Simon Gerber, sagte nun, man müsse auf diesen Grenzwert „schon einmal hinarbeiten“: „Tempo 30 wird auch weiterhin einer dieser Maßnahmen sein müssen, um diese Werte zu erreichen.“
Steinkrüger hält an Tempo 30 fest: Jetzt Antrag wegen Lärm
Trotzdem betonte Steinkrüger, ihr Verkehrsdezernat halte an Tempo 30 auch auf den Hauptverkehrsstraßen fest: Die Stadt habe vor zwei Wochen beim Landesbetrieb für Mobilität (LBM) einen Antrag gestellt, Tempo 30 zum Schutz vor Lärm auf denselben Strecken anordnen zu dürfen – man hoffe auf möglichst schnelle Zustimmung. „Da wir davon ausgehen, dass wir in wenigen Wochen wieder Tempo 30 haben werden, passen wir die Ampeln jetzt erst einmal nicht an“, sagte Steinkrüger zudem. Eine Antwort des LBM zu dem Thema lag am Mittwochabend noch nicht vor.

Zur Beurteilung der Lärmbelastung in den betroffenen Abschnitten habe man ein zusätzliches Gutachten erstellen lassen, aus dem hervorgehe, „dass es zu erheblichen Überschreitungen der zumutbaren Lärmwerte kommt“, und somit Tempo 30 auch aus Lärmschutzgründen notwendig sei, sagte Steinkrüger weiter. Damit könnte in der Parcusstraße, der Kaiserstraße und der Rheinallee von dem Kaiser-Karl-Ring bis zur Diether-von-Isenburg-Straße sowie in der Rheinstraße zwischen der Quintinsstraße und der Holzhofstraße in wenigen Wochen erneut Tempo 30 gelten.
Zudem erhöhe Tempo 30 auch auf den Hauptachsen die Sicherheit und die allgemeine Lebensqualität in der Innenstadt, betonte Steinkrüger, und berief sich dabei auf die Unfallstatistik der Mainzer Polizei: Die habe 2019 vor der Einführung von Tempo 30 auf den genannten Strecken 382 Unfälle mit 15 schwerverletzten Personen aufgenommen, 2021 seien das nur noch 192 Unfälle mit einem Schwerverletzten gewesen. Allerdings war 2021 wegen der anhaltenden Corona-Pandemie und mehrerer Lockdowns der Verkehr in der Mainzer Innenstadt deutlich reduziert. Zahlen für die zeit nach 20221 legte die Dezernentin auch auf Nachfrage nicht vor: Die habe sie „gerade nicht parat“, sagte Steinkrüger.
Verkehrsunfälle im Stadtgebiet Mainz: Anstieg trotz Tempo 30
Ein Blick in die Verkehrsunfallstatistik des Jahres 2024 zeigt aber auch: 2023 war die Zahl der Verkehrsunfälle im Stadtgebiet Mainz von 5.778 im Jahr 2022 auf 5.882 angestiegen – trotz Tempo 30. 2024 sank die Zahl der Verkehrsunfälle insgesamt minimal auf 5.862. Eine Auswertung nach bestimmten Strecken sieht die Statistik nicht vor. Bei den Unfällen mit Personenschaden im Stadtgebiet insgesamt gab es 2022 mit 533 sogar mehr als 2024, als es 514 solcher Unfälle gab, das sei ein Rückgang von 2,36 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gewesen, heißt es von Seiten der Polizei.
Die Zahl der Schwerverletzten lag dabei mit 61 auf demselben Niveau wie 2021, ebenso die Zahl von drei Toten. So verstarb ein Fußgänger durch eine Kollision mit einem KFZ beim Überqueren eines Fußgängerüberwegs, dazu „starben zwei Radfahrende jeweils in Folge eines Unfall- oder Sturzgeschehens“, heißt es in dem Bericht weiter. Überhöhte Geschwindigkeit war in keinem einzigen der Fälle Ursache für die tödlichen Kollisionen.
Info& auf Mainz&: Mehr zu dem Gutachten zu Schadstoffausstoß bei Tempo 50 versus Tempo 30 sowie zum Einspruch des Mainzer Bürgers lest Ihr ausführlich hier bei Mainz&.
