Fast ein Jahr ist es nun her, dass eine riesige Flutwelle das Ahrtal in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli verwüstete. Am Mittwoch stellte sich der Landtag der Frage: Wie steht es um den Wiederaufbau? Seit Tagen zeichnet die Landesregierung ein leuchtendes Bild und spricht von „beachtlichen Fortschritten“ – Horst Gies, CDU-Landtagsabgeordneter aus Ahrweiler, hielt dem am Mittwoch ein Bild der Realität entgegen: „Über vielen Orten liegt wie ein Nebel eine Stimmung aus Verzweiflung, Wut und Frust“, sagte Gies. Es fehle an Hoffnung, es fehle an einem klaren Fahrplan – und es fehle an genau der „schnellen und unbürokratischen Hilfe“, die vor einem Jahr versprochen worden sei.
Geht der Wiederaufbau im Ahrtal quälend langsam voran, oder macht der Aufbau große Fortschritte? Ein Jahr nach der Flutkatastrophe stritt der Landtag am Mittwoch über diese Frage. „Unser Land war nach der Katastrophe ein anderes und ist es bis heute“, sagte Landtagspräsident Hendrik Hering zu Beginn der Sitzung. Leben, Existenzen, alles sei von den Wassermassen weggerissen worden. „Wir als Gesellschaft dürfen nicht vergessen, was im Juli 2021 geschehen ist“, betonte Hering, bevor sich der Landtag zu einer Schweigeminute für die 134 Opfer der Flut erhob.
Doch was ist seither geschehen, wie läuft der Wiederaufbau im Tal? Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) sprach in ihrer Regierungserklärung von „beachtlichen Fortschritten“ und nannte als Meilensteine unter anderem die Wiederherstellung einer Gashochdruckleitung 100 Tage nach der Katastrophe. Sechs Wochen nach der Katastrophe seien „alle Ortschaften wieder an das klassifizierte Straßennetz angebunden“ gewesen, nach vier Monaten habe die Ahrtalbahn wieder zwischen Remagen und Ahrweiler fahren können.
„Wer am ersten Tag nach der Flut im Ahrtal war, sieht den bis heute erreichten Fortschritt.“, sagte Dreyer, und räumte zugleich ein: „Wer jedoch nicht das ganze Ausmaß der Zerstörung kennt, erschrickt beim Anblick der vielen Häuser, die noch einem Rohbau gleichen.“ Sie verstehe, dass sich „bei manchen das Gefühl einstellt, es ginge nichts oder zu wenig voran“, sagte die Ministerpräsidentin weiter. Es gebe Engpässe bei Handwerkern und Gutachtern, dazu kämen teils langwierige Auseinandersetzungen mit Versicherungen. „Ich verstehe, wie sehr das zermürben kann“, betonte Dreyer.
Was die Ministerpräsidentin aber nicht sagte: Zermürbt und frustriert sind die Menschen im Ahrtal vor allem aber wegen des Ausbleibens der versprochenen Hilfen vom Land Rheinland-Pfalz. Besonders die Antragsverfahren bei der landeseigenen Investitions-und Strukturbank gelten als ungeheuer langwierig und bürokratisch. Betroffene berichten reihenweise, dass ständig Gutachten nachgefordert würden, die man aber gar nicht liefern könne – etwa weil es die zu begutachtenden Maschinen gar nicht mehr gebe oder der entsprechende Hausrat längst entsorgt sei.
15 Milliarden Euro stellte der Bund allein für die Beseitigung der Schäden im Ahrtal bereit – ausgezahlt sind davon nach einem Jahr gerade einmal rund eine halbe Milliarden Euro. 42.000 Menschen wurden durch die ungeheure Flutwelle im Ahrtal in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 geschädigt, mehr als 9.000 Gebäude beschädigt, rund 150 davon komplett durch die Fluten zerstört. 134 Menschen kamen durch die Fluten im Ahrtal ums Leben, zwei Menschen werden bis heute vermisst.
Bei der ISB gingen nach der Flutkatstrophe insgesamt rund 12.300 Anträge auf Entschädigungszahlungen ein, davon der Löwenanteil für Hausratsschäden: Rund 9.800 Anträge auf Entschädigung in Sachen Hausrat gingen bei der ISB ein, teilte die Förderbank auf Mainz&-Anfrage mit, 9.200 seien bewilligt worden. Volumen der bewilligten Gelder: 114,2 Millionen Euro, ausgezahlt: 113,4 Millionen Euro.
Von 15 Milliarden Euro erst 500 Millionen ausgezahlt
„Schnelle und unbürokratische Hilfe“ habe die Politik vor einem Jahr den Flutgeschädigten versprochen, erinnert denn auch der Fraktionschef der Freien Wähler im Landtag, Joachim Streit, am Mittwoch – bei den Soforthilfen für den Hausrat habe das funktioniert, denn diese Summen seien pauschaliert gewesen. „Bei den übrigen Hilfen sehe ich das nicht“, kritisierte Streit. Komplex und bürokratisch gestalten sich vor allem die Hilfen für den Wiederaufbau von Gebäuden, hier wurden bei mehr als 9.000 geschädigten Gebäuden aber überhaupt erst rund 2.510 Anträge eingereicht.
Von diesen Anträgen wiederum lägen inzwischen rund 1.910 vollständig vor, teilte die ISB mit – darunter versteht die Förderbank, dass die Anträge vollständig ausgefüllt und samt Unterlagen eingereicht wurden. Ob die Unterlagen vollständig sind, werden nun geprüft, die „zur Bewilligung vorbereitet“. Bewilligt wurden demnach knapp 1.580 Anträge mit einer Fördersumme von 220,5 Millionen Euro – ausgezahlt wurden Stand 6. Juli aber bisher nur 46,7 Millionen Euro.
Bei den Unternehmen im Ahrtal sieht es noch düsterer aus: Im Rahmen der Aufbauhilfe für Unternehmen seien rund 440 Anträge eingereicht worden, davon lägen 265 Anträge vollständig vor, so die ISB. Davon seien wir 182 Anträge mit einem Volumen von 203,7 Millionen Euro bewilligt worden – ausgezahlt wurden aber erst 46,5 Millionen Euro. Welche Hürden dabei den Antragstellern in den Weg gelegt werden, macht diese Auskunft beispielhaft deutlich: „Die Auszahlung wird erst vorgenommen, wenn der im Antragssystem zur Verfügung gestellte Bewilligungsbescheid durch den Kunden abgerufen wurde.“
CDU, AfD und FW fordern Abschlagszahlungen von 40 Prozent
Die ausgezahlten Summen sind zudem so gering, weil Rheinland-Pfalz bei Gebäudeschäden nach Bewilligung des Antrags lediglich eine Abschlagszahlungen in Höhe von 20 Prozent auszahlt. „Für die weiteren Mittelabrufe braucht es eine Belegliste, in der die angefallenen Rechnungen aufgeführt sind“, heißt es weiter. Das stieß am Mittwoch im Landtag auf scharfe Kritik: CDU, AfD und Freie Wähler forderten, die Abschlagszahlungen auf 40 Prozent anzuheben – wie es das Nachbarland Nordrhein-Westfalen auch tue.
Es habe eine Absprache zwischen den beiden Bundesländern gegeben, „im Gleichschritt zu marschieren“, betonte Streit: „aber Rheinland-Pfalz bleibt hier zurück.“ Deutlicher wurde der Obmann der AfD im Untersuchungsausschuss zur Flutkatastrophe, Michael Frisch: „Die Menschen fühlen sich von der Politik im Stich gelassen, sie haben den Eindruck, zum zweiten Mal Opfer zu werden“, hielt er der Landesregierung vor. Lediglich ein Prozent der Gelder seien bisher ausgezahlt, die Hilfen kämen bei den betroffenen Menschen eben nicht an.
„Sonntagsreden und Schönreden von Problemen“
„Mit Sonntagsreden, großspurigen Versprechungen und einem Schönreden von Problemen, wie wir es heute wieder von der Ministerpräsidentin und den Regierungsfraktionen gehört haben, ist den Opfern nicht geholfen“, schimpfte Frisch, und forderte: „Es wird Zeit, den Worten endlich Taten folgen zu lassen.“
Tatsächlich hatte Dreyer zuvor davon gesprochen, wie beeindruckt sie sei, „von den Menschen, die die sich den großen Herausforderungen stellen, die anpacken und zusammenhalten.“ Sie zeigten „tagtäglich etwas sehr Wertvolles: Zukunftsmut“, sagte die Ministerpräsidentin. Auch der kommunale Wiederaufbau nehme mit mehreren Tausend Einzelmaßnahmen „Fahrt auf“, es gebe Vergabeerleichterungen für öffentliche Auftraggeber, auch der Tourismus im Tal laufe schrittweise wieder an. „Besuchen Sie uns im Ahrtal“, lud die Ministerpräsidentin ein.
„Die Zuversicht kommt heute, ein Jahr später, vielen Bewohnern abhanden“, hielt ihr hingegen Horst Gies, CDU-Abgeordneter aus dem Ahrtal entgegen. 6.000 Menschen hätten haben bereits ihre alte Heimat verlassen, jeder zehnte überlege fort zu ziehen – „zu bedrückend die Erinnerungen, zu groß die Angst vor neuen Hochwasser, vor der ungewissen Zukunft“, berichtete Gies. Ja, es werde im Ahrtal aufgeräumt und renoviert, es gebe Fälle, wo der Wiederaufbau gut laufe.
„Aber anderen geht die Puste aus“, berichtete Gies: „Ob Privat- oder Geschäftsleute, sie sind mit der Kraft und den Nerven am Ende – weil sie sich von der Landesregierung, von Behörden im Stich gelassen fühlen.“ Die Menschen hätten „den Versprechungen, die am Anfang gemacht wurden, vertraut, nun sind sie tief enttäuscht.“ Wer heute durch das Ahrtal fahre, sehe auch ein Jahr nach der Katastrophe „gewaltige Schäden“, er sehe „kaputte Straßen und Radwege, Spanplatten statt Fenster und Türen, verschlossene Gaststätten und Restaurants.“
Nach einem Jahr tröpfelten die staatlichen Hilfen, anstatt zu fließen, dass erst ein Bruchteil ausgezahlt worden sei, „das ist doch beschämend, das ist ein Schlag ins Gesicht der Betroffenen“, heilt Gies der Regierung entgegen. „Zu viel Bürokratie auf dem Tisch bei zu wenig Geld in der Hand“, brachte der Ahrtaler das Gefühl auf den Punkt: „Wir haben das Gefühl, dass es nicht weiter geht. „Es reicht nicht, was Ihre Regierung unternimmt, da fehlt Steuerung, Frau Ministerpräsidentin“, sagte Gies: „Über vielen Orten liegt wie ein Nebel eine Stimmung aus Verzweiflung, Wut und Frust.“
Dreyer kündigt Vorauszahlung von bis zu 40 Prozent an – „bei Bedarf“
Dreyer hatte zuvor versucht, der Kritik der Opposition entgegen zu kommen, und kündigte eine Erhöhung der Vorauszahlung an – allerdings nur unter Bedingungen: Betroffenen könne „bei Bedarf“ ein erhöhter Abschlag von bis zu vierzig Prozent ausgezahlt werden, kündigte Dreyer an. Ein solch erhöhter Abschlag werde aber als vorweggenommene Härtefallregelung nur dann gewährt, „wenn den Antragstellern ein erhöhter Liquiditätsbedarf durch eine anstehende Zahlungsverpflichtung entsteht, und eine Zwischenfinanzierung nicht möglich ist.“
„Ihre Härtefallregelung ist doch wieder mit Bürokratie behaftet“, kritisierte Gies, und forderte: „Hören Sie endlich auf, den Flutgeschädigten zu misstrauen.“ Die ISB sei doch schließlich eine 100-prozentige Tochter der Landes Rheinland-Pfalz, „also sorgen Sie endlich dafür, dass die ISB über ihren eigenen bürokratischen Schatten springt – Sie haben es doch in der Hand“, betonte Gies. Die CDU hatte im Vorfeld auch mehr Personal bei der ISB für die Bearbeitung der Anträge gefordert, bei der Förderbank teilte man nun auf Anfrage mit: Rund 120 Personen seien derzeit „in unserem Haus mit der Aufbauhilfe befasst, davon 60 Personen in der Bearbeitung“ – hier werde derzeit noch weiter aufgestockt.
Gies kritisierte zudem, die Betriebe im Ahrtal stünden dazu nun auch noch vor dem Wegfall des Kurzarbeitergeldes für flutgeschädigte Betriebe. „Die Bundesregierung ist nicht bereit, eine Härtefallregel für das Ahrtal zu ermöglichen“, kritisierte Gies – nun seien mehrere tausend Arbeitsplätze in Kliniken und Betrieben in Gefahr. Das werde verheerende Folgen haben, warnte er, es drohten Entlassungen, Insolvenzen und Abwanderung. „Frau Ministerpräsidentin – warum haben Sie denn nicht mehr Druck in Berlin gemacht?“, fragte Gies: „Sehen Sie nicht, dass sich hier eine neue Katastrophe anbahnt?“
SPD-Fraktionschefin Sabine Bätzing-Lichtenthäler hielt Gies hingegen vor: „Es ist unpassend, welches Bild Sie gezeichnet haben.“ Der CDU-Mann könne doch „nicht behaupten, dass hier irgendetwas liegen geblieben wäre“, sein düsteres Bild eines bürokratischen Dschungels sei falsch. Das Ahrtal werde „wider aufblühen“, betonte Bätzing-Lichtenthäler – Streit hielt der Regierung hingegen vor, in Sachen Wiederaufbau geschlafen zu haben.
Das Land habe es versäumt, sich an die Spitze einer Zukunftsbewegung zu setzen, kritisierte Streit: „Wir sprechen heute eben nicht von einer großen Modellregion, die anderen als Blaupause dienen könnte.“ Und auch das Fazit von Gies fiel eher bitter aus: „Nein, Frau Dreyer“, sagte er: „Es fehlt an Hoffnung, es fehlt an einem klaren Fahrplan – es fehlt an schneller und unbürokratischer Hilfe.“
Info& auf Mainz&: Mehr zu den gewaltigen Schäden im Ahrtal an Gebäuden, Brücken, Straßen und Infrastruktur haben wir hier bei Mainz& aufgeschrieben. Informationen zur Bewältigung der Aufbauhilfen im Ahrtal veröffentlicht die ISB zudem jeden Montag auf ihrer Internetseite, genau hier findet Ihr die Grafik. Eine ausführliche Bilanz des ersten Jahrs des Wiederaufbaus im Ahrtal hat die Landesregierung in einer Broschüre zusammengefasst, die Ihr hier im Internet herunterladen könnt.