Drei Monate nach der Flutkatastrophe im Ahrtal, stehen die Zeichen auf Wiederaufbau, doch die Menschen vor Ort stehen weiter vor einer Herkulesaufgabe: Die Infrastruktur ist allenfalls notdürftig wiederhergestellt, tausende von Häuser haben keine Heizung und stehen weitgehend leer – die Angst vor dem Winter ist groß. Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) sprach am Donnerstag von „ersten positiven Zeichen“ in Richtung Wiederaufbau, die CDU-Opposition schimpfte, von schönen Bildern und Schönrednerei allein würden keine Wohnungen warm.
Vor genau drei Monaten, am Abend des 14. Juli, wälzte sich in den Abendstunden eine riesige Flutwelle wie ein Tsunami durch das Ahrtal. Bis zu zehn Meter hoch türmte sich die Flutwelle an manchen Stellen auf, überschwemmte an anderen Orten Flächen, die vorher Jahrhunderte lang kein Hochwasser gesehen hatten. Die meisten Menschen wurden von der Flut überrascht, viele kämpften in den Nachtstunden um ihr Leben, andere verloren den Kampf: 133 Menschen wurden allein im Ahrtal von den reißenden Fluten mitgerissen, starben in Kellern, Wohnungen oder Autos. Manche wurden gar samt ihrem Haus in den Tod gerissen.
Der nächste Tag bot ein Bild der Verwüstung, das selbst langjährige Katastrophenschützer fassungslos machte: Autos, Bäume, ganze Campingplätze und Häuser hatte die Flut mir sich gerissen, Tankstellen und Heizöltanks schwammen in der Ahr, Weinfässer und alles nur denkbare an Hausrat. Mehr als 40.000 Menschen erlebten dramatische Stunden, viele verloren ihr gesamtes Hab und Gut. Rund 9.000 Häuser wurden beschädigt oder zerstört, Schulen, Kindergärten, Geschäfte und Unternehmen überflutet, Straßen und fast alle Brücken im Tal weggerissen.
62 Brücken und zahlreiche Straßen sowie Bahnlinien wurden zerstört, dazu 40 Schulen, 55 Kitas und fünf Krankenhäuser, bis zu 3000 Unternehmen wurden durch die Fluten geschädigt, von 68 Weinbaubetrieben blieben nur drei verschont. 32,5 Hektar Rebfläche wurden komplett und teilweise metertief weggespült, weitere 15 Hektar Rebanlagen wurden vom Hochwasser so überspült, dass die Reben von einer Schlammschicht überzogen waren – die Ahr verlor in einer Nacht rund zehn Prozent ihrer Anbaufläche. Betroffen von Schäden sind entlang der Ahr aber auch landwirtschaftliche Flächen von knapp 60 Hektar Grünland, 48 Hektar Ackerflächen sowie 3,5 Hektar Gemüse und Kartoffeln.
Hilfe kam in den Tagen danach fast ausschließlich von privaten Helfern: Landwirte, Lohnunternehmer und Tausende privater Helfer seien als erstes mit Maschinen, Tatkraft und Knowhow zur Stelle gewesen, bilanzierte der stellvertretende Landrat von Ahrweiler, der CDU-Landtagsabgeordnete Horst Gies schon Ende August im Mainzer Landtag klar: sie hätten „die Fäden in der Hand gehalten“, „sie haben uns in dieser Situation Kraft und Stärke gegeben“, unterstrich Gies in einer Sondersitzung des Landtags. Der Krisenstab wiederum, „der hatte schon Probleme dabei, die Strukturen vor Ort zu erkennen“, sagte Gies.
„Die Beschwerden über die Organisation und die Arbeit des Krisenstabs sind Legion“, stellte damals auch der Fraktionschef der Freien Wähler, Joachim Streit, klar: Bürokratie, schlechte Kommunikation und ausbleibende Bezahlung der Lohnunternehmer zählte Streit auf, das schlimmste aber sei, dass vorhandene Einsatzkräfte nicht ins Tal geschickt worden seien – das sei „die eigentliche Katastrophe nach der Katastrophe.“
„Ich kann Ihnen nur sagen: die Wut vor Ort wird jeden Tag größer, da besteht die Gefahr, die Menschen zu verlieren“, mahnte auch CDU-Fraktionschef Christian Baldauf in derselben Sondersitzung, die Menschen fühlten sich alleine gelassen und bräuchten „endlich klare Strukturen und einen klaren Plan“, betonte Baldauf: „Der Winter steht vor der Tür, und die Verzweiflung ist groß.“ Die Landesregierung müsse „endlich für Planungssicherheit“ in Sachen Wiederaufbau sorgen, „erhöhen Sie das Tempo für einen wirklichen Zukunftsplan“, forderte Baldauf.
Zehn Wochen nach der Flut stellte der Landtag dann Ende September die Weichen für den Wiederaufbau und seine Finanzierung mit der Einrichtung eines Sondervermögens Aufbauhilfe sowie einem Wiederaufbauerleichterungsgesetz. Damit wurde ein Sonderfonds zur Verwaltung der Fluthilfegelder eingerichtet, die zuvor auf Bundesebene von Bundestag uns Bundesrat abgesegnet worden waren. Rheinland-Pfalz bekommt zunächst 16 Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt, das Geld soll noch in diesem Jahr an den Nationalen Solidaritätsfonds „Aufbauhilfe 2021“ fließen.
Seit Ende September können die Betroffenen nun Hilfen aus dem Aufbaufonds beantragen, Privathaushalte können dabei eine Pauschale für Schäden am eigenen Hausrat oder auch Wiederaufbauhilfe für zerstörte Gebäude erhalten – bis zu 80 Prozent der Neubaukosten sollen dabei erstattet werden. 9.550 Anträge zur Wiederaufbauhilfe seien bereits bei der Investitions- und Strukturbank Rheinland-Pfalz gestellt worden, teilte die Landesregierung dieses Woche mit, 2.175 Anträge hätten das Verfahren bereits komplett durchlaufen – in Auszahlung sind bislang allerdings erst 300 Anträge. Rund 600 Unternehmen haben zudem bereits Anträge auf Wiederaufbauhilfe gestellt, ein 35-köpfiges Team des Landesbetriebs Mobilität hat in einem eigenen Büro im Ahrtal die Arbeit aufgenommen.
Die Landesregierung sah denn auch zum Tag, an dem die Flut ein Vierteljahr her ist, vor allem positive Zeichen in Richtung Wiederaufbau: 90 Tage nach der Flutkatastrophe seien „erste positive Zeichen erkennbar“, sagte Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD). Die Flutkatastrophe habe ungeheures Leid über die betroffenen Menschen gebracht, nun aber gebe es zunehmend Hoffnung und Zuversicht. „Unser Land ist stark und wird den Wiederaufbau schaffen, das hat für die Landesregierung oberste Priorität“, betonte Dreyer.
„Die Zerstörungen und das Leid der betroffenen Menschen sind unvorstellbar groß und haben eine Dimension, die es in der Geschichte unseres Landes so noch nie gab“, sagte Dreyer in einer gemeinsamen Bilanz mit Klimaschutzministerin Anne Spiegel (Grüne) und Wirtschaftsministerin Daniela Schmitt (FDP). Die erste Zeit nach der Katastrophe sei geprägt gewesen von Leid und gigantischen Zerstörungen, aber auch von einer Welle der Hilfsbereitschaft, die es so noch nicht gegeben habe. „Unser Land steht in der Not fest zusammen“, betonte die Ministerpräsidentin.
Die außergewöhnliche Hilfs- und Spendenbereitschaft habe maßgeblich mit dazu beigetragen, dass enorme Kräfte für den Aufbau der Katastrophenregion mobilisiert werden konnten, sagten Dreyer, Spiegel und Schmitt weiter: „Schutt wurde weggeschafft, Notbrücken erstellt, die Versorgung mit Wasser und Lebensmittel gesichert, die Abwassersysteme wurden wieder aufgebaut, die Region ist wieder erreichbar und wir können ihren Aufbau und ihre Zukunft nun mit ganzer Kraft in den Blick nehmen.“
Der Wiederaufbau kommt allerdings einer wahren Herkulesaufgabe gleich: Erst sechs Wochen nach der Flutkatastrophe waren alle Orte im Ahrtal wieder über eine qualifizierte Straße erreichbar, auch ist die Abwasserversorgung bei Weitem noch nicht wiederhergestellt: Erst 50 Prozent der zerstörten Kanäle sind wieder angeschlossen, oft nur provisorisch. In der Kläranlage in Sinzig werden bislang nur 80 Prozent der Abwässer aufgefangen und geklärt, in anderen teilen des Tals wie bei Dümpelfeld sind es gerade einmal 50 Prozent. Das Wasser der Ahr ist weiter an vielen Stellen hochgradig durch Fäkalien belastet und weist nach Messungen des Landes Rückstände von Heizöl, Teer und anderen Belastungen auf. Im zuständigen Klimaschutzministerium hofft man, bis Ende des Jahres Abwasserleitungen und die gesamte Trinkwasserversorgung wieder herstellen zu können.
Von den gesammelten Millionenspenden ist derweil im Tal bisher wenig angekommen, vielfach kämpfen die Organisationen noch mit Vorschriften zu Spendenauszahlungen, die oftmals eine schnelle, unbürokratische Hilfe verhindern. Große Sorgen bereitet vor allem der Blick auf den kommenden Winter: In Tausenden Haushalten gibt es keine Heizung mehr, in den meisten Orten gähnen leere Ruinen in den Erdgeschossen, in denen kein Mensch wohnt. Licht findet sich in vielleicht jedem zehnten Haus, die meisten Bewohner des Ahrtals wohnen weiter außerhalb. Wer vor Ort geblieben ist, muss meist in Duschcontainern duschen, da heißes Wasser weiter Mangelware ist.
Die Angst vor dem Winter ist deshalb groß, der Energieversorger EVM musste im August mitteilen, dass weite Teile etwa der Kreisstadt Bad Neuenahr-Ahrweiler voraussichtlich bis März 2022 nicht mit Gas versorgt werden können. Das Land Rheinland-Pfalz nahm am Donnerstag eine mobile Flüssiggasanlage in Betrieb, mit der im Norden von Bad Neuenahr-Ahrweiler rund 1.100 Haushalte mit Gas versorgt werden könnten, teilte das Klimaschutzministerium mit. In Mayschoß und Müsch zudem zehn Heizzentralen in in Betrieb genommen, mehr als 80 Einzelöfen aufgestellt worden.
Reichen wird das nicht, die CDU-Opposition kritisierte denn auch am Donnerstag, die Hilfen liefen viel zu schleppend an. „Viel mehr als Bilder hat die Landesregierung zur Aufarbeitung der Flutkatastrophe noch nicht produziert“, schimpfte CDU-Generalsekretär Jan Zimmer, das Land müsse schleunigst mehr Personal zur Bearbeitung der Anträge einsetzen. „Wir stehen vor der kalten, dunklen Jahreszeit“, betonte Zimmer zudem, angesichts hunderter Menschen, die noch immer keine Heizungen oder Strom in ihren Häusern hätten, müsse man sich ernsthaft fragen, woher das Land seine positive Einschätzung der Lage nehme.
Zimmer kritisierte vor allem auch den Sonder-Landesbeauftragten Günter Kern, der im Interview mit der Rhein-Zeitung von „lächelnden Menschen“ im Tal berichtet hatte, die „frohen Mutes und in Aufbruchstimmung“ seien. „Das ist eine einzige Schönmalerei und hilft keinem Betroffenen“, schimpfte Zimmer. Der Vor-Ort-Beauftragte sei ganz offensichtlich „nicht der Macher, der so dringend gebraucht würde“, sondern „ein reiner Vor Ort-Gesprächsbeauftragter“, schimpfte Zimmer, „aber vom Reden allein werden eben keine Wohnungen warm.“
Der Mainzer Landtag setzt inzwischen eine Enquete Kommission ein, die Konsequenzen aus der Flutnacht für Katastrophenschutz, Hochwasser und Bauen aufarbeiten soll. Echte Aufklärung aber versprechen sich die Menschen im Ahrtal von einem anderen Gremium: Ende September nahm der Untersuchungsausschuss „Flutkatastrophe Ahrtal“ seine Arbeit auf, das parlamentarische Gremium kann sich Akten von Landesbehörden kommen lassen und wie ein Gericht Zeugen und Sachverständige vernehmen. Die CDU, auf deren Antrag das Gremium eingesetzt wurde, will damit aufklären, was genau im Vorfeld der Flutnacht unternommen wurde, um die Gefahr abzuwenden und die Menschen im Ahrtal zu warnen.
„Wann wurde aus den Ahnungen die Gewissheit, dass eine lebensgefährliche Flut das Ahrtal heimsuchen würde“, fragte CDU-Obmann Gordon Schnieder in der Landtagsdebatte zur Einsetzung des Untersuchungsausschusses, „und warum wurde aus der Gewissheit keine wirkliche Warnung, die auch gehört wurde?“ Meteorologen sagten, die Katastrophe sei „sehr wohl vorhersehbar gewesen“, deshalb gehe es nun um die politische Verantwortung, „und zwar auf allen Ebenen“, betonte Schnieder: „Politische Verantwortung ist nicht delegierbar.“
Im Zentrum der Aufmerksamkeit wird dabei nicht nur der inzwischen in den Ruhestand versetzte Ahrweiler Landrat Jürgen Pföhler (CDU) stehen, sondern auch Landesminister – allen voran der für Katastrophenschutz zuständige Innenminister Roger Lewentz (SPD) sowie die für Hochwasser zuständige Klimaschutzministerin Spiegel. Die Regierungskoalitionsfraktionen von SPD, Grüne und FDP mochten dem Untersuchungsausschuss denn auch nicht zustimmen – sie enthielten sich lediglich.
Die Menschen im Ahrtal bräuchten „fokussierte Antworten“, der Einsetzungsantrag des Ausschusses sei zu weit gefasst, das sei für die Aufklärung „nicht zielführend“, argumentierte SPD-Fraktionschefin Sabine Bätzing-Lichtenthäler (SPD) – und verwies auf die Enquete-Kommission als geeignetes Gremium. Die Kommission, die weder Zeugen vernehmen noch Akten einsehen kann, will ihren Abschlussbericht frühestens Mitte 2023 vorlegen. In dem Untersuchungsausschuss gehe es darum, den furchtbaren Tod vieler Menschen aufzuklären, betonte hingegen Schnieder: „Wäre das zu verhindern gewesen – das ist die Kernfrage, um die sich unsere Arbeit drehen wird“, sagte er: „War diese Jahrtausendflut einfach Schicksal – oder trugen auch menschliche Fehler dazu bei, dass Bürger an Leib und Leben Schaden nahmen? Die Aufarbeitung sind wir den Menschen im Ahrtal schuldig.“
Info& auf Mainz&: Mehr zur Hochwasserkatastrophe an der Ahr könnt Ihr hier bei Mainz& lesen, eine erste Bilanz der Schäden hatten wir Ende Juli hier gezogen. Eine Reportage aus den ersten Tagen aus dem Ahrtal könnt Ihr hier bei Mainz& lesen: „Wer warnte die Menschen an der Ahr?“. Zum Vierteljahr Flutkatastrophe berichtet Mainz& mit einem ganzen Paket an Berichten – morgen geht es hier um die Weinlese an der Ahr nach der Flut, am Wochenende lest Ihr einen Bericht über das erste Buch von der Flutkatastrophe: „Es war doch nur Regen?“