Früher bauten hier die Amerikaner Panzer, heute ist die Halle 45 eine Veranstaltungshalle mit viel altem Industriecharme. In ausgesprochen passender Kulisse fand am Mittwochabend der Jahresempfang der Wirtschaft in Mainz statt, zum inzwischen 20. Mal. 15 Kammern aus ganz Rheinland-Pfalz, von den Apothekern über die Zahnärzte bis hin zu Ingenieuren, Steuerberatern und Rechtsanwälten, beteiligen sich inzwischen an dem von der Industrie- und Handelskammer (IHK) Rheinhessen organisierten Jahresauftakt, mit über 2.000 Besuchern ist es das größte Treffen dieser Art bundesweit. Gastredner war in diesem Jahr Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD), doch statt über Solizuschlag, Unternehmenssteuern oder Grundsteuer-Neuordnung ließ sich der Vizekanzler über ein ganz anderes Thema aus – über Europa.
Seit 20 Jahren gibt es den Jahresempfang der Wirtschaft bereits, und was einst als rein rheinhessisches Event begann, ist längst zum wichtigsten Wirtschaftstreffen des Bundeslandes geworden. 3.000 Besucher verzeichnet das Event gerne schon mal – in diesem Jahr war die Zahl der Gäste allerdings auf rund 2.000 begrenzt. Der Grund: Der Empfang musste wegen der Renovierung der Rheingoldhalle erstmals in ein Ausweichquartier umziehen. Die Halle 45, die frühere Phoenixhalle, erwies sich als ausgesprochen passender Rahmen: Wo früher die Amerikaner an Panzern schraubten, feiert und tagt man heute in modernem Industrieambiente. Und so mancher Wirtschaftslenker staunte doch tatsächlich, er sei ja noch nie hier gewesen…
Dagewesen hingegen ist beim Jahresempfang der Wirtschaft auch in diesem Jahr wieder alles, was in der Wirtschaft des Bundeslandes Rang und Namen hat, dazu Landesminister, Stadtpolitiker und natürlich auch Medienschaffende. Der Empfang gilt als das größte Treffen der mittelständischen Wirtschaft, entsprechend hochkarätig sind seit Jahren die Redner: Hier redeten schon Bundesbankpräsident Jens Weidmann und Bundestagspräsident Norbert Lammert, Friedrich Merz war in früheren Zeiten da und sogar Kanzlerin Angela Merkel (CDU) persönlich gab sich schon die Ehre.
In diesem Jahr war Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) geladen, und der Mann, der sich jüngst selbst zum geeigneten Kanzlerkandidaten ausrief, gab den großen Europäer. 2019 sei für die Europäische Union ein richtungsweisendes Jahr, und Europa müsse deutlich mehr Zusammenstehen und mit einer Stimme sprechen, mahnte Scholz. Derzeit wirke die Europapolitik „wie 27 Monologe, Strategien über Ländergrenzen hinweg haben wir noch nicht erreicht“, sagte Scholz selbstkritisch. Europa müsse aber als technikoffenes und fortschrittsoffenes Europa agieren und auftreten und vor allem eigene politische Lösungen entwickeln und sich in Streitfragen „zu einer gemeinsamen Haltung durchringen.“
Der Vizekanzler plädierte zudem für eine gemeinsame europäische Verteidigung mit einheitlichen Waffensystemen: derzeit leiste sich Europa 180 verschiedene Waffensysteme, in den USA seien es nur 30. Gemeinsame Systeme und gemeinsame Beschaffung könne viel Geld sparen und Synergien schaffen, betonte Scholz. Und er forderte ein Voranschreiten in der Reform des Euros, ein Eurozonen-Budget und europäische Stabilisierungsmechanismen als Rückversicherung für Krisenzeiten. „Wer nicht fähig ist zum Kompromiss, ist ein schwacher politischer Führer und kein starker“, mahnte Scholz, und fügte mit Blick auf Italien hinzu: „Wir brauchen nicht den Frühling des Herrn Salvini, wir brauchen einen Aufbruch für ein starkes, gerechtes Europa.“
Bei so viel Europa blieb der Bundesfinanzminister allerdings Antworten zur Wirtschaft in Deutschland schuldig. Dabei hätte es an Themen wahrlich nicht gemangelt: Die stockende Mit-Finanzierung des Bundes der Bildung in den Ländern, die anstehenden Reform der Grundsteuer, die Debatte um die Abschaffung oder Umwandlung des Solidarzuschlags – Scholz verlor über all diese Themen kein Wort. Eine Unternehmenssteuerreform und deutlich mehr Bürokratieabbau hatte der Präsident der Handwerkskammer Rheinhessen, Hans-Jörg Friese, zuvor vom Minister gefordert.
„Unsere Betriebe könnten beim Soli oder bei Abschreibungen entlastet werden, ohne eine Schieflage des Staates auszulösen“, mahnte Friese: „Angesichts der hervorragenden Einnahmesituation hätte der Bund deutlichere Entlastungen für Unternehmen und Steuerzahler vorsehen müssen.“ Stattdessen gebe der Bund Geld mit vollen Händen für Arbeitsmarkt, Rente und Gesundheit aus, eine nachhaltige Politik sei das nicht. Besonders kleine Unternehmen seien von der überbordenden Bürokratie zunehmend überfordert. „Die Entlastung von Kleinstbetrieben muss endlich Priorität haben“, schrieb Friese Scholz ins Stammbuch.
Auch bei der Bildung und der Fachkräftesicherung müsse dringend Geld in die Hand genommen werden für Investitionen in Kitas und Schulen, die Ausstattung der Berufsschulen, die Digitalisierung. Deutschland stehe hervorragend da, das Wachstum habe 2018 ungebrochen angehalten, in Rheinhessen bestehe annähernd Vollbeschäftigung. Doch das bringe auch neue Probleme mit sich: Der Wirtschaft fehlen Fachkräfte, die Wirtschaftsleistung könne gar noch höher sein. „Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz muss ohne Verzögerung beschlossen werden“, forderte Friese deshalb. Auch die Dieselkrisenpolitik des Bundes kritisierte er scharf: „Es bleibt unverständlich, dass die Industrie nicht in die Verantwortung genommen wird“, sagte Friese: „Wenn in einer Stadt wie Mainz eine Woche lang kein 7,5 Tonner mehr Brötchen in die Innenstadt bringt, die meisten würden verhungern – oder sich Brötchen in Wiesbaden holen.“
IHK-Präsident Engelbert Günster forderte zudem mehr Industrie- und Gewerbeflächen im Land, es fehlten vor allem große, zusammenhängenden Areale. Günster regte an, ein Gutachten gemeinsam mit Kammern und Land zu erstellen, etwa welche Militärkonversionsflächen es noch gebe. „Der Wunsch ist uns bekannt“, sagte Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) und kündigte an: „Wir können in wenigen Wochen auf Sie zukommen und Ihnen etwas anbieten.“
Für Irritationen sorgte hingegen Landwirtschaftspräsident Norbert Schindler mit einer unmotiviert erscheinenden Tirade gegen das Fernsehprogramm des ZDF im allgemeinen, dessen politische Berichterstattung und die Kabarettsendung „Die Anstalt“ im Besonderen. Was Schindler ritt, blieb unklar, der Landwirtschaftsfunktionär und langjährige CDU-Bundestagsabgeordnete kritisierte schließlich noch die Billigproduzenten für Obst und Gemüse aus den südlichen Ländern wie Italien und Spanien, wo oft Flüchtlinge zu Dumpinglöhnen auf den Feldern arbeiten: „Es kann nicht sein, dass Obst und Gemüse zu Sklavenlöhnen aus Südeuropa hier die Preise diktieren“, schimpfte Schindler – da war Europa auf einmal wieder ganz nah.