Es sind monströse Vorwürfe in unglaublichem Ausmaß: In einer Mainzer Kita haben Kindergartenkinder andere Kindergartenkinder über Monate hinweg bedroht, erpresst, geschlagen – und sie zu sexuellen Handlungen gezwungen. Das Bistum Mainz bestätigte am Donnerstag die Vorwürfe, die seit Mittwoch durch Mainz kursierten. „Wir stehen dem fassungslos gegenüber“, sagte ein sichtlich erschütterter Generalvikar Dietmar Giebelmann am Nachmittag gegenüber der Presse. Und der Kirchenmann entschuldigte sich ausführlich für die Vorfälle. Der Kindergarten bleibt bis zum September geschlossen.
Es sind Vorgänge, wie sie selbst Experten im Bereich Kinder nur selten gehört haben: Da werden Mädchen gezwungen, ihren Po zu entblößen, kleine Jungen ihren Penis. Und dabei bleibt es nicht: Es kommt zu gewalttätigen sexuellen Übergriffen, von Kindern an Kindern, über Monate hinweg. Die Erzieher – sehen weg, behaupten, sie hätten nichts gemerkt.
Mainz& hat sich Zeit genommen, wir haben mit Eltern gesprochen, mit der Staatsanwalt und mit Experten vom Kinderschutzbund und von Zartbitter in Köln. Wir haben die Briefe des Bistums an die Eltern gelesen und beim Bistum ausführlich nachgefragt. Und wir haben gewogen, was von den Vorwürfen wir schreiben und welche nicht. Wir haben uns entschieden, die wichtigsten Vorwürfe zu benennen, um das Ausmaß deutlich zu machen. Die wirklich heftigen Übergriffe haben wir nicht geschildert.
Und wir müssen sagen: Das Bistum Mainz hat in keinster Weise gemauert. Generalvikar Giebelmann hat uns wirklich jede Frage beantwortet, offen und rückhaltlos, die Antworten: plausibel. „Nur die Wahrheit kann hier weiter helfen“, sagte Giebelmann.
Giebelmann: massive und große Zahl von Übergriffen
„Wir haben“, sagte Giebelmann vor der Presse, „von einer massiven und großen Zahl von sexuellen Übergriffen von Kindern an Kindern, von Bedrohungen, Erpressungen und Gewalt mit großer Bestürzung gehört.“ Der Kindergarten Maria Königin in Mainz-Weisenau gehört der katholischen Kirche, doch Giebelmann beteuert, weder Träger noch Bistum seien von den Vorfällen informiert worden. Erst ein Brief eines Elternpaars an den Pfarrer machte die Vorfälle bekannt, sagt Giebelmann.
„Wir müssen uns in aller Form bei allen Eltern und Kindern entschuldigen“, betonte Giebelmann, „auch im Namen des Kardinals“ Karl Lehmann. Den Kindern sei „großes Unrecht“ geschehen, auch gebe es „eine tiefe Betroffenheit und Verletztheit bei den Eltern.“
„Wir stehen fassungslos davor, wie solche Vorfälle vom Personal nicht wahrgenommen werden konnten“, betonte Giebelmann weiter. Hinweise von Eltern, die vier bis fünf Monate zurückgingen, seien vom Personal entweder falsch gedeutet oder falsch umgesetzt worden. „Wir stehen dem fassungslos gegenüber“, betonte Giebelmann.
Hinweise auf sexuelle Übergriffe seit Dezember 2014
Im Dezember 2014 erfuhren Erzieher und Leitung des Kindergartens laut Bistum Mainz von sexuellen Übergriffen, es geschah – nichts. 55 Kinder hatte der Kindergarten, betroffen waren laut Giebelmann bis auf zwei Kinder alle „in irgendeiner Form“. Zuerst wuchs die Aggressivität unter den Kindern, Eltern berichten, es habe drei, vier Rädelsführer gegeben, Jungen im Alter von sechs Jahren, andere Kinder hätten mitgemacht.
„Wir wussten nichts von den Vorgängen“, sagte eine Mutter Mainz&. Manche Kinder wurden offenbar nur wenig belästigt, andere unter Mordandrohung erpresst, Spielsachen von zuhause mitzubringen. Beim gemeinsamen Besuch mit Erziehern im Supermarkt wurde geklaut – völlig unwahrscheinlich, dass die Erzieher von all dem nichts mitbekamen.
Denn offenbar verselbständigte sich die Sache, immer mehr Kinder machten mit, die Vorfälle wurden schlimmer. Da wurden Objekte in den Anus eingeführt, wiederholt und über einen längeren Zeitraum, wie es in einem Brief des Bistums an die Eltern heißt, der Mainz& vorliegt. In einem Fall konnten sich Mädchen die Hilfe einer Erzieherin holen, in einigen Fällen landeten Kinder sogar beim Arzt oder im Krankenhaus – einmal wegen eines Loches im Kopf.
Erzieher: keine Betroffenheit, kein Unrechtsbewusstsein, keine Fehler
Warum aber stoppten die Erzieher die Vorfälle nicht? „Wir haben keine Erklärung“, sagte Giebelmann: „Wir haben weder eine wirkliche Betroffenheit, noch den Versuch einer Erklärung bekommen.“ Ein Unrechtsbewusstsein gebe es auch jetzt nicht bei den Mitarbeitern, diese behaupteten, man habe „nichts gemerkt“ und keine Fehler gemacht.
Giebelmann spricht von einem „geschlossenen System“, in dem die sechs Mitarbeiter der Einrichtung plus Leiterin alles hinter verschlossenen Türen hielten. Er sei vor Ort gewesen, habe mit den Erziehern und allen Eltern gesprochen, sagte Giebelmann, eine Erklärung habe er nicht. Laut Präventionsvorschrift des Bistums hätten sich der Kindergarten beim ersten Hinweis auf sexuelle Übergriffe externe Hilfe holen müssen. „Das ist nicht geschehen“, sagt Giebelmann, „dass die Einrichtung sich keine Hilfe holte, gehört zu dem geschlossenen System.“
Hohe Personalfluktuation, Vieles Schleifen gelassen
Eltern berichten aber auch, es habe viel Personalfluktuation in dem Kindergarten gegeben. „Es gab sicher Personalnotstand, es war immer ein großer Wechsel“, berichtet eine Mutter, die Leiterin sei lange krank, viele Praktikanten in der Einrichtung gewesen. „Es wurde Vieles einfach schleifen gelassen“, berichtet sie. Giebelmann bestätigt, „dass viele Mitarbeiter kamen und gingen“, warum, auch das wisse das Bistum nicht.
Sexuelle Handlungen kämen bei kleinen Kindern immer mal wieder vor, „weil Kinder Dinge ausprobieren“, sagt Ursula Enders, Leiterin der Kölner Einrichtung Zartbitter und selbst Traumatherapeutin. Enders forscht bereits seit den 1980er Jahren im Bereich sexuelle Übergriffe unter Kindern, Anfragen zu diesem Bereich machen heute 40 Prozent der Anfragen bei Zartbitter aus. Bei solch massiven Handlungen bei so jungen Kindern sei das „Ausdruck einer pädagogischen Verwahrlosung“, sagte Enders im Gespräch mit Mainz&.
Expertin: orientierungslose Kindergruppe mit verwahrloster Gruppenstruktur
Reichten Mahnungen von Erwachsenen nicht aus, Übergriffe zu stoppen, „dann haben sie eine orientierungslose Kindergruppe mit verwahrlosten Gruppenstrukturen“, erklärt die Expertin. Dann könne es auch sein, dass sich die Gewalt primär in der Einrichtung entwickelt habe – und sich die Kinder in einem anderen Umfeld ganz normal verhielten. Auch könne es sein, dass die übergriffigen Kinder selbst zuvor Opfer von Gewalt waren, sagt Enders – in der Einrichtung oder außerhalb.
„Solch massive sexuelle Übergriffe sind nicht selten ein Hinweis darauf, dass Kinder vorher von ehemaligen Mitarbeitern missbraucht wurden“, sagt Enders weiter. Das könne auch jemand vor längerer Zeit gewesen sein, ein Erzieher, der nicht mehr da sei. Vom Fernsehen oder Medienkonsum allein entwickele sich so etwas hingegen nicht, betont sie, „das ist eine klassische Ausrede.“ Entscheidend sei wohl vielmehr gewesen, „dass es in der Kita keinen Schutz von Seiten der Pädagogen und kein pädagogisches Konzept gab“, sagt Enders.
Die Einrichtung sofort zu schließen, sei genau die richtige Reaktion, lobt Enders weiter. Die
Kirche müsse nun dafür sorgen, dass es ausreichend Traumatherapieplätze für die Kinder gebe. Genau das hat das Bistum Mainz bereits getan: In der Uniklinik Mainz, der Poliklinik für Psychiatrie, gibt es für alle Kinder und Eltern, die dies wollen, therapeutische Beratung und Hilfe, sagte Giebelmann. „Wir wissen, dass Kinder auch traumatisiert sind“, sagte er.
Bistum bezahlt Therapieplätze, Erzieher werden entlassen
Für traumatisierte Kinder gebe es auch Hilfe in der Rheinhessen-Fachklinik Mainz, der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Die Kosten übernehme selbstverständlich das Bistum, betonte Giebelmann. Für die 55 Kinder seien Notplätze in anderen katholischen Kindergärten gefunden worden, auch wolle das Bistum dafür sorgen, dass übergriffige Kinder und die von den Übergriffen Betroffenen nicht später in der Grundschule nebeneinander sitzen müssten.
Die sieben Mitarbeiter des Kindergartens werden nun fristlos entlassen, das Bistum will aber auch mit ehemaligen Mitarbeitern sprechen, um die Vorfälle weiter aufzuklären. Aufklären, das soll nun auch die Staatsanwaltschaft Mainz: An diesem Mittwoch ging dort die Mitteilung des Bistums über die Vorfälle ein. „Es wurde noch am gestrigen Mittwoch ein Ermittlungsverfahren eingeleitet“, sagte uns Oberstaatsanwalt Gerd Deutschler: „Es bestehen konkrete Anhaltspunkte, dass es zu strafbaren Handlungen gekommen sein könnte.“
Kindergarten soll im September mit neuen Team und Konzept wieder öffnen
Ermittelt wird natürlich nur gegen die Erzieher, es geht um die Verletzung von Erziehungs- Aufsichts- und Fürsorgepflichten. Hinweise auf ehemalige Mitarbeiter oder Eltern gebe es momentan nicht, sagte Deutschler, aber die Ermittlungen stünden auch erst am Anfang. „Derzeit können wir mangels Erkenntnissen noch nicht sagen: sind es Einzelne, sind es alle, ist es nur einer?“, sagte der Staatsanwalt weiter. Klar sei aber, dies sei „kein alltäglicher Vorgang – vollkommen singulär ist er nicht.“ Und noch eines ist klar, das betonten auch alle Experten: Die Kinder sind keine Täter.
Der Kindergarten in Weisenau bleibt nun in jedem Fall bis zum neuen Kindergartenjahr geschlossen. Im September soll die Einrichtung mit einem neuen Team wieder starten – und mit einem neuen Konzept, wie Giebelmann betonte. Dabei werde sich das Bistum von externen Fachleuten begleiten lassen. „Wir haben die Aufgabe, ein neues pädagogisches Team zusammenzustellen und das Konzept zu überarbeiten“, sagte Giebelmann, „Wir wissen, dass das eine anspruchsvolle Aufgabe sein wird.“