In der Affäre um ein menschenverachtendes Flugblatt fordern die Freien Wähler in Rheinland-Pfalz nun Aufklärung von ihrem Bundesvorsitzenden Hubert Aiwanger. Das Flugblatt sei „widerlich und abstoßend“, sagte der Landeschef der Freien Wähler, Stephan Wefelscheid, am Montag: Er wolle wissen, wie das Flugblatt in Aiwangers Schultasche gekommen sei. Unterdessen gibt es aber auch scharfe Kritik an der Berichterstattung der „Süddeutschen Zeitung“: Sie behandele anonyme Aussagen wie Tatsachen und verwechsele Journalismus mit Aktivismus, kritisiert etwa die Neue Züricher Zeitung.

Schwere Vorwürfe gegen den Bundeschef der Freien Wähler, Hubert Aiwanger, hier bei einer Rede. - Foto: Freie Wähler Bayern
Schwere Vorwürfe gegen den Bundeschef der Freien Wähler, Hubert Aiwanger, hier bei einer Rede. – Foto: Freie Wähler Bayern

Vergangenen Samstag hatte die „Süddeutsche Zeitung“ unter der Überschrift „Das Ausschwitz Pamphlet“ über ein Flugblatt berichtet, das im Jahr 1988 am Burkhart-Gymnasium in Mallersdorf-Pfaffenberg aufgetaucht sein soll. Urheber, behauptet die SZ, sei Hubert Aiwanger, heute stellvertretender Ministerpräsident in Bayern und Bundesvorsitzender der Freien Wähler. Aiwanger „soll sein eigenes Preisausschreiben erfunden haben“, behauptet die Süddeutsche – einen eindeutigen Beleg für die Urheberschaft präsentiert die Zeitung indes nicht.

Hubert Aiwanger sei „als Urheber des antisemitischen Pamphlets zur Verantwortung gezogen worden“, sollen frühere Lehrkräfte und Klassenkameraden ausgesagt haben. Ein damaliger Lehrer wird mit der Aussage zitiert, er habe „Aiwanger als überführt betrachtet, da in seiner Schultasche Kopien des Flugblatts entdeckt worden waren.“ Konkretere Belege präsentiert die Zeitung nicht, ein Widerspruch der Freien Wähler wird nur am Rande erwähnt: Er könne „weitergeben, dass Hubert Aiwanger so etwas nicht produziert hat“, zitiert die SZ lediglich einen Sprecher Aiwangers.

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Flugblatt: Judenvernichtung in Auschwitz als „Satire“

Der Bericht schlug umgehend hohe Wellen, denn das ebenfalls abgedruckte Flugblatt zitiert in widerlichster Form Elemente der Judenvernichtung aus dem Dritten Reich. Gedacht war das Flugblatt offenbar als eine Art Satire auf einen Bundeswettbewerb in Geschichte, nun heißt es hier unter dem Titel „Wer ist der größte Vaterlandsverräter?“, Bewerber sollten sich „im Konzentrationslager Dachau zu einem Vorstellungsgespräch“ melden. Als erster Preis wird „Ein Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz“ versprochen, weitere „Preise“ nennen „einen Platz im Massengrab“ oder „Genickschuss“. Juden oder das Judentum selbst kommen in dem Pamphlet nicht vor, ihre Vernichtung wird nicht propagiert – trotzdem nennt die Süddeutsche es „antisemitisch“, weil es die Vernichtung des Holocaust satirisch relativiert.

Hubert Aiwanger bei einer Rede mit schwungvoller Gestik. - Foto: Freie Wähler Bayern
Hubert Aiwanger bei einer Rede mit schwungvoller Gestik. – Foto: Freie Wähler Bayern

Hubert Aiwanger reagierte am Wochenende deutlich: „Ich habe das fragliche Papier nicht verfasst und erachte den Inhalt als ekelhaft und menschenverachtend“, teilte Aiwanger persönlich mit: „Der Verfasser des Papiers ist mir bekannt, er wird sich selbst erklären. Weder damals noch heute war und ist es meine Art, andere Menschen zu verpfeifen.“

Tatsächlich meldete sich nur Stunden später Helmut Aiwanger, der ältere Bruder des Bayrischen Politikers zu Wort, und übernahm die Verantwortung für das Flugblatt: Er sei der Verfasser, und habe das Flugblatt damals verfasst, weil er „total wütend“ gewesen sei, weil er in der Schule durchgefallen war. „Ich distanziere mich in jeder Hinsicht von dem unsäglichen Inhalt, und bedauere sehr die Folgen dieses Tuns“, betonte Bruder Helmut ausdrücklich.

Aiwanger-Bruder übernimmt Verantwortung und entschuldigt sich

Hubert Aiwanger gab zudem an, bei ihm seien damals „ein oder wenige Exemplare in meiner Schultasche gefunden“ worden. Daraufhin sei er zum Direktor einbestellt worden, ihm sei mit der Polizei gedroht und am Ende als Ausweg ein Referat über das Dritte reich aufgebrummt worden. „Dies ging ich unter Druck ein, damit war die Sache für die Schule erledigt“, seine Eltern seien nicht eingebunden worden, betonte Aiwanger zudem. Er distanziere sich aber „auch nach 35 Jahren vollends von dem Papier.“ Beide Aiwanger-Brüder waren damals eigenen Angaben zufolge noch minderjährig.

Hubert Aiwanger (2.v. links) 2019 bei den Freien Wählern in Groß-Gerau. Ganz links: Stephan Wefelscheid. - Foto: FW
Hubert Aiwanger (2.v. links) 2019 bei den Freien Wählern in Groß-Gerau. Ganz links: Stephan Wefelscheid. – Foto: FW

Die Erklärung lässt aber diverse Fragen offen, unter anderem, warum damals nicht Aiwangers Bruder Helmut zur Verantwortung gezogen wurden, warum die Eltern nicht eingebunden wurden, und was das Pamphlet in Aiwangers Schultasche machte. Genau das wollen nun auch die Freien Wähler in Rheinland-Pfalz von ihrem Bundesvorsitzenden wissen: „Beweise für eine andere Urheberschaft liegen nicht vor, es gilt die Unschuldsvermutung“, betonte FW-Landeschef Stephan Wefelscheid am Montag.

Tatsächlich aber habe sich „der Landesvorstand aber die Frage gestellt, warum sich ein bis mehrere Flugblätter in seiner Schultasche befanden“, sagte Wefelscheid weiter. Diese Frage habe man Hubert Aiwanger übermittelt, eine Antwort liege aber – Stand Montagmittag – noch nicht vor. Aiwanger soll sich am Dienstag im Koalitionsausschuss in Bayern und gegenüber Ministerpräsident Markus Söder (CSU) erklären: Die Vorwürfe seien zu gravierend und zu ernst, als dass eine schriftliche Erklärung Aiwangers ausreiche.

Wefelscheid: „Antisemitismus hat bei Freien Wählern keinen Raum“

Aiwangers Bruder Helmut erklärte unterdessen in einem Zeitungsinterview, Hubert habe „die Flugblätter wieder einsammeln wollen, um zu deeskalieren“, deshalb habe er sie bei sich getragen. „Ich habe das Schriftstück nicht erstellt, um Nazis zu verherrlichen, den Holocaust zu leugnen oder Hass und Gewalt zu schüren“, betonte Helmut Aiwanger zudem gegenüber er der Mediengruppe Bayern. Er habe es für  eine „stark überspitze Form der Satire“ gehalten, heute „schäme ich mich für diese Tat, und bitte vor allem meinen Bruder um Verzeihung für die damals verursachten Schwierigkeiten, die auch noch nach 35 Jahren nachwirken.“

Wahlkampf-Plakat Hubert Aiwangers. Anfang Oktober ist Bayernwahl. - Foto: Freie Wähler
Wahlkampf-Plakat Hubert Aiwangers. Anfang Oktober ist Bayernwahl. – Foto: Freie Wähler

Die Affäre wirft deshalb so hohe Wellen, weil in Bayern am 8. Oktober ein neuer Landtag gewählt wird – auch Hessen wählt am gleichen Tag einen neuen Landtag. Zeitgleich findet kommendes Jahr die Europawahl statt, der Fraktionschef der Freien Wähler im Mainzer Landtag, Joachim Streit, ist dabei einer der Spitzenkandidaten FW-

Landeschef Wefelscheid betonte denn auch, der Zeitpunkt der Veröffentlichung in der SZ zum Beginn der Briefwahl sei „sehr auffällig.“ Umso wichtiger sei es nun aber, „dass eine vollständige Aufklärung schnell stattfindet“, betonte der Rheinland-Pfälzer: „Es darf kein Zweifel daran bestehen, dass Antisemitismus in der Partei Freie Wähler keinen Raum hat. So steht es in unserem Wahlprogramm und so wird es auch von uns politisch gelebt.“

Der Landesvorstand sei „schockiert darüber, dass jemand dazu in der Lage ist, ein derart widerliches und abstoßendes Flugblatt zu verfassen und in Umlauf zu bringen. Wir verurteilen dies auf das Schärfste.“ In Rheinland-Pfalz finden im Juni 2024 Kommunalwahlen statt, die Freien Wähler machen sich Hoffnungen auf starken Wähler-Zuspruch, nachdem in den vergangenen Monaten bereits mehrere ihrer Kandidaten Bürgermeister-Posten erringen konnten.

Scharfe Kritik an Berichterstattung der SZ: unsauber, zu wenig Fakten

Derweil gibt es aber auch scharfe Kritik an der Berichterstattung der Süddeutschen, wie das Medienmagazin Kress berichtet: „Die SZ macht vor, wie man nicht über einen Fall wie Aiwanger berichten sollte“, schreibt etwa der bekannte Medienjournalist Stefan Niggemeier auf „Übermedien.de“: Die Seite-3-Geschichte sei „problematisch, weil sie nicht nüchtern über die Vorwürfe berichtet, sondern all jenen Munition gibt, die ihr unterstellen, eine Agenda zu haben: Aiwanger kurz vor der Wahl wegzuschreiben. Es ist ein Text, dem jede Distanz zu sich selbst fehlt“, kritisiert Niggemeier deutlich.

Hubert Aiwanger (ganz rechts) 2023 bei der Kür der Europawahl-Kandidaten - ganz links der Fraktionschef der Freien Wähler in Rheinland-.Pfalz, Joachim Streit. Foto: FW
Hubert Aiwanger (ganz rechts) 2023 bei der Kür der Europawahl-Kandidaten – ganz links der Fraktionschef der Freien Wähler in Rheinland-.Pfalz, Joachim Streit. Foto: FW

Tatsächlich beginnt der Text nicht etwa mit den Fakten, sondern mit länglichen Beschreibungen von Hubert Aiwanger in Bierzelten und bei Wahlkampf-Auftritten. bemüht werden dabei Bilder vom schwitzenden, pöbelnden Bierzelt-Redner, von einer Erfolgswelle Aiwangers in den Umfragen ist die Rede, die den Verfassern des Textes offensichtlich unheimlich ist. Bereits zu Beginn nehme der Text „seine eigene erwartete Wirkung schon vorweg: Er geht davon aus, dass diese Recherche, die eigene Recherche, die Macht haben kann, die riesige „Welle“ zu brechen, die Aiwanger gerade reite“, analysiert Niggemeier.

Der Journalist konstatiert: „Die Botschaft: Der Chef der Freien Wähler erlebt gerade einen Höhenflug, der nicht gut ist und der eigentlich längst hätte enden müssen. Aber ich, dieser Text, diese Recherche, diese Zeitung, kann ihn jetzt stoppen.“ Der Berlin-Korrespondent der Neuen Züricher Zeitung, Alexander Kissler, wirft der SZ deshalb unsauberen Kampagnen-Journalismus vor, das sei das Geschäft von Aiwangers politischer Konkurrenz: „Die «SZ» aber behandelt anonyme Aussagen wie Tatsachen und verwechselt Journalismus mit Aktivismus“, kritisiert Kissler.

Die SZ behandele die Aussagen ihrer anonymen Quellen wie Gewissheiten und mache dabei aus ihrer Absicht keinen Hehl, Aiwangers Höhenflug kurz vor der Landtagswahl zu stoppen, kritisiert Kissler, und konstatiert: „‚Das Auschwitz-Pamphlet‘ ist ein ‚SZ»-Pamphlet‘. Es markiert einen Zusammenbruch handwerklicher, presserechtlicher und medienethischer Grundsätze.“ Auch Medienrechtsanwälte kritisieren die Berichterstattung scharf: Die Zeitung habe nicht genügend Fakten berichtet, um eine Verdachtsberichterstattung zu rechtfertigen – und habe zudem Aiwangers Dementi zunächst hinter der Paywall „versteckt“.

Wefelscheid betonte derweil gegenüber dem SWR: Sollte Aiwanger an der Erstellung oder Verbreitung des antisemitischen Flugblatts mitgewirkt haben, könne er weder Spitzenkandidat der Freien Wähler für die bayerische Landtagswahl, noch stellvertretender Ministerpräsident von Bayern bleiben.

Info& auf Mainz&: Den ganzen Artikel auf KRESS mit der kritischen Auseinandersetzung mit dem SZ-Artikel und allen Links zu den Quellen lest Ihr hier im Internet.