Zwei Jahre nach der verheerenden Flut gedenkt das Ahrtal an diesem Wochenende der Jahrhundertkatastrophe – am Jahrestag selbst war es ein stilles Gedenken. Neben der großen Gedenkfeier im Kurpark von Bad Neuenahr und Gottesdiensten in verschiedenen Kirchen, gab es an vielen Stellen im Tal kleinere Treffen, gemeinsame Essen, viele Gespräche – und manch einen leisen Gang zum Ufer der Ahr. Auch Kerzen wurden angezündet, oft waren es genau 136 – eine für jedes der Toten der Flut im Ahrtal. Mainz& hat neue Gedenkorte aufgesucht und der Stimmung im Tal nachgespürt.

Das Ahrufer in Dernau am Abend des 14. Juli 2023. - Foto: gik
Das Ahrufer in Dernau am Abend des 14. Juli 2023. – Foto: gik

„19.33 Uhr. Genau jetzt um die Zeit vor zwei Jahren fing es an“, sagt Alfred Sebastian. Der Bürgermeister von Dernau sitzt vor einem Restaurant an der Hauptstraße seines Ortes, der Blick geht in Richtung Ahr, wo der Bahndamm noch immer wie eine Wüstenei daliegt. Vor zwei Jahren, am 14. Juli 2021, begannen just um diese Zeit die Fluten der Ahr anzuschwellen. „Die Ahr war noch in ihrem Bett, leckte gerade einmal an der Straße“, erinnert sich Sebastian: „Da haben wir noch Sandsäcke gepackt. Dass die Ahr noch fünf Meter höher gehen würde – das konnte sich keiner vorstellen.“

Es ist Freitagabend, und Sebastian sitzt gemeinsam mit einigen anderen Dernauern vor einem Restaurant, das inzwischen wieder an der Dernauer Hauptstraße eröffnet hat. Die Terrasse mit Blick in Richtung Ahr ist gut besucht, und doch liegt eine besondere Stimmung über dem Tal: Melancholie vielleicht, Gedenken auf jeden Fall – Trauer sicherlich. Die Gedanken schweifen zurück zu jenem 14. Juli 2021, als das zauberhafte Ahrtal unter einer bis zu zehn Meter hohen Flutwelle verschwand – und 136 Menschen in den Fluten starben. 135 sind inzwischen offiziell bestätigt, ein Mensch wird noch vermisst – unwahrscheinlich, dass er noch einmal wieder auftaucht.

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Ahrtal: Zwischen #wiederbunt und Ruinenabbruch

Es ist kein einfacher Tag, dieser zweite Jahrestag, zu groß sind die Unterschiede im Ahrtal auch heute noch. Gerade Dernau gehörte zu den am schwersten getroffenen Orten im Ahrtal, lange hatte der Ort zu kämpfen – bis vor wenigen Monaten war Dernau vom ersten Stock abwärts noch immer ein Geisterdorf: Leere Räume gähnten hinter verbretterten Fenstern oder gar durchlöcherten Fassaden von Fachwerkhäusern, die Straßen lagen nachts im Dunkeln – die Straßenbeleuchtung ist bis heute ein Provisorium.

Bürgermeister Guido Orthen bei seiner Rede auf der Gedenkfeier am Freitag im Kurpark von Bad Neuenahr. - Foto: gik
Bürgermeister Guido Orthen bei seiner Rede auf der Gedenkfeier am Freitag im Kurpark von Bad Neuenahr. – Foto: gik

Langsam wandelt sich das Bild, auch in Dernau gibt es jetzt immer mehr frisch renovierte Häuser mit strahlenden Farben und Blumenschmuck am Balkon oder im Vorgarten. Die Farben kehren zurück in die Orte, das Aufbaumotto #wiederbunt wird langsam mit Leben gefüllt. Doch dazwischen stehen noch immer verbretterte Ruinen oder ganze Gebäudekomplexe wie die Winzergenossenschaft Dagernova, die weiter dem Wiederaufbau harrt – und entlang der Ahr wuchert Unkraut über Steinwüsteneien.

Von „zwei Jahre Dauerbelastung“ spricht Guido Orthen, Bürgermeister von Bad Neuenahr bei der offiziellen Gedenkfeier am späten Nachmittag: „Der Weg zur Normalität ist noch weit.“ Er spricht von jenen, für die sich das Leben „noch schwer anfühlt“, auch das gelte es beim Namen zu nennen, auch wenn sich viel getan habe. „Wir sollten auch nicht alles in rosaroter Farbe beschreiben, als sei nach zwei Jahren alles in Butter, als gehe alles reibungslos“, sagt Orthen: „Nein, es muss noch vieles geändert werden, die Verfahren des Wiederaufbaus angepasst werden – damit es bürokratiearm und schneller wird.“

Orthen: „Wir sind auf dem Weg zu einer neuen Normalität“

Im Kurpark von Bad Neuenahr sitzen die Gäste dicht an dicht, praktisch jeder Sitzplatz ist besetzt – einige Hundert sind gekommen. Sie sitzen stumm und reglos, lauschen den Reden, eine Reglosigkeit liegt über dem Platz, die weit über andächtiges Zuhören hinaus geht. „Mich freut am meisten, dass Sie, die Einwohner da sind“, betont Orthen, und damit meine er nicht nur heute, nicht nur hier – sondern „dass so viele die Herausforderung des Neuanfangs mitgehen.“ Es seien gerade viele Junge, die sich auf neue Herausforderungen stürzten, aber auch Ältere, die zurückgekehrt seien. Das alles „macht Mut und gibt Perspektive“, betont Orthen: „Wir sind auf dem Weg zu einer neuen Normalität.“

Gedenkfeier zum zweiten Jahrestag der Flutkatastrophe im Ahrtal im Kurpark von Bad Neuenahr. - Foto: gik
Gedenkfeier zum zweiten Jahrestag der Flutkatastrophe im Ahrtal im Kurpark von Bad Neuenahr. – Foto: gik

Doch von Normalität ist das Ahrtal noch immer weit entfernt. Es wirkt, als würde das Tal an diesem Tag Normalität proben: Autos fahren von A nach B, Handwerker sprechen mit Bauherren, Besucher stehen Schlange an der Eisdiele. Doch der Firnis ist dünn an diesem 14. Juli, der Weg zu einer neuen Normalität – er ist noch weit.

Die Belastung für die Menschen im Ahrtal sei riesig, den Menschen, die ins Traumahilfezentrum im Ahrtal kämen, gehe es „wirklich schlecht und zunehmend schlechter“, sagte dessen Leiterin Katharina Scharping am Freitag dem ZDF: „Viele sind verzweifelt, traurig, ängstlich, haben Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung, sind deutlich eingeschränkt in ihrem Alltagsleben.“

Psychologin: „Gereizte, verbitterte frustrierte Stimmung“

Erwischt habe es „einfach alle“, in unterschiedlichen Abstufungen – 28 Prozent zeigten aber Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung, das sei sehr viel, sagte Scharping weiter. Dazu gehe die Schere im Tal immer weiter auf, zwischen denen, die mit dem Wiederaufbau ihrer Häuser fast fertig seien – und denen, die noch auf einer Baustelle sitzen oder deren Haus gar gerade erst abgerissen wird. „Das macht eine gereizte, eine verbitterte, frustrierte Stimmung“, sagte Scharping: „Es gibt Menschen, die sagen: Ich kann mich an gar nichts mehr freuen. Eigentlich will ich nicht mehr. Bis hin zu: Eigentlich will ich nicht mehr leben. Das hört man immer mehr.“

Harald Knieps vor der Flutkapelle oberhalb von Walporzheim. - Foto: gik
Harald Knieps vor der Flutkapelle oberhalb von Walporzheim. – Foto: gik

„Viele wollen heute nur ihre Ruhe haben, nicht reden“, sagt auch Harald Knieps, es seien meist die, die einen geliebten Menschen in der Flutnacht in den Wassermassen verloren. Wir stehen im Steilhang oberhalb von Walporzheim, umringt von Weinbergsterassen.

Die Weinreben stehen in vollem Saft, der Blick reicht weit über das Ahrtal bis hin zum Kloster Kalvarienberg und weiter zur Autobahnbrücke bei Bad Neuenahr. Von hier oben sind die Wunden des Tals kaum zu sehen, doch gerade für die Verwundeten ist diese Stelle gedacht: Hinter uns am Hang steht der Neubau der kleinen Flutkappelle, dem neuen Erinnerungsort für die Region.

Flutkapelle: Magischer Erinnerungsort hoch über dem Ahrtal

„Es gibt nichts, was an dieser Kapelle normal ist“, sagt Harald Knieps mit leisem Stolz. Der Walporzheimer, Mitglied im Vorstand des Freundeskreises der Kapelle St. Josef, war einer der Hauptinitiatoren der Gedenkkappelle. Die Idee entstand, als vier  Handwerker und Unternehmer, zur Hilfe im Ahrtal unterwegs, Knieos auf die Idee einer Flutkapelle brachten – gerade einmal einen Monat nach der Katastrophe. Unter den vieren war auch ein Architekt, der das kleine Kapellchen mit dem kühnen und spitzen Giebel entwarf. Die schallgedämmten Wände sind aus Holz, der Boden aus Natursteinen, das Dach mit Schiefer eingedeckt.

Harald Knieps im Inneren der Flutkapelle oberhalb von Walporzheim. - Foto: gik
Harald Knieps im Inneren der Flutkapelle oberhalb von Walporzheim. – Foto: gik

Innen wartet ein schmuckloser, aber edler Raum auf die Gäste: Ein kleiner Steinaltar, zwei Holzbänke aus edlem Holz, ein Kreuz aus Cortenstahl. Die steinerne Säule in der linken Ecke wartet noch auf ihren neuen Bewohner: eine Statue des heiligen Donatus, der gelte nämlich als Schutzheiliger bei Unwettern und Katastrophen, erklärt Knieps. Finanziert wurde das Kapellchen aus Spenden der Initiatoren sowie von Helfern im Ahrtal, ein Restbetrag ist noch offen – vielleicht komme der ja bei der offiziellen Einweihung an diesem Samstag, dem 15. Juli zusammen, hofft Knieps.

Entstanden ist in jedem Fall ein magischer Ort: Mitten in den Weinbergen, hoch über dem Tal, und genau an dem Übergang von den schroffen Felsen der „Bunten Kuh“ zu dem sich zur Rheinebene hin öffnenden Ahrtal, lädt die Flutkapelle zum Verweilen und Meditieren ein. Gewidmet sei sie den 136 Menschen, die in der Flutnacht ihr Leben ließen, sagt Knieps, der Trierer Bischof Josef Ackermann wird sie am Samstag feierlich weihen. Besonders berührt Knieps dabei, dass unter den Toten auch Kinder waren. „Sie haben kaum ihren Fußabdruck hier auf unsere Erde gesetzt, und mussten schon gehen“, sagt Knieps.

„Solange wir für uns Lichtblick sind…“

Eine Tafel zur Erinnerung an die Flutopfer soll unten am Hang, am Aufgang zur Kapelle angebracht werden, die Seitenwand des Eingangs schmückt eine Tafel mit dem Verlauf des Ahrtals. Aber auch Touristen und Wanderer sollen hier heraufkommen und verweilen, wünscht sich Knieps – die Kapelle steht genau am Schnittpunkt von Wanderwegen.

Weinberge oberhalb von Walporzheim mit Blick Richtung Autobahnbrücke und Rheinebene. - Foto: gik
Weinberge oberhalb von Walporzheim mit Blick Richtung Autobahnbrücke und Rheinebene. – Foto: gik

Quer durch das Ahrtal finde sich inzwischen Gedenksteine und Erinnerungsorte, manche auf Friedhöfen, andere im privaten Rahmen. In Sinzig wurden am Abend 136 Kerzen am Ufer der Ahr in einem privaten Gedenken entzündet, von einem der Fluthelfer und fast in Sichtweite der Lebenshilfe, wo noch um 2.00 Uhr morgens 12 Menschen in dem Behindertenwohnheim starben. Und in Müsch wurde gar die Einweihung eines Inklusionsgartens zum Ort für Erinnerung – aber auch für Zuversicht.

Und da war das Ahrtal dann wieder ganz bei dem, was Bürgermeister Orthen am Nachmittag sagte: „Wenn wir weiter füreinander Lichtblick sind, weiter in Solidarität zusammenstehen“, sagte er: „Wenn wir uns weiter gegenseitig Halt und Heimat geben – dann wird der Wiederaufbau auch gelingen.“

Info& auf Mainz&: Eigentlich ist es im Journalismus Standard, dass politische Funktionsträger jeweils mit ihrer Parteizugehörigkeit genannt werden – wir haben heute in diesem Text bewusst darauf verzichtet. Wir fanden: Das hat hier und heute in diesem Text, bei diesem Thema einfach nichts zu suchen. Und aus dem gleichen Grund haben wir auch die Rede von Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) außen vor gelassen – die Bilanz aus landespolitischer Sicht zum zweiten Jahrestag der Flutkatastrophe im Ahrtal lest Ihr kommende Woche bei Mainz&.

Privates Gedenken mit 136 Kerzen an die Opfer der Flutnacht im Ahrtal am Ahrufer in Sinzig. - Foto: gik
Privates Gedenken mit 136 Kerzen an die Opfer der Flutnacht im Ahrtal am Ahrufer in Sinzig. – Foto: gik