Die Kneipenfastnacht ist die Urform der Meenzer Fastnacht – und die Urform der Urform sind die „Allerscheenste“. Der närrische Stammtisch, 1986 gegründet, setzt ganz auf das freie Narrengen: die freie Rede des Narren und seinen Spaß an der Freud‘ in der Wirtschaft. Und jedes Jahr, seit 1996, küren die Allerscheenste den Aller-Allerscheenste, einen herausragenden Akteur in der Mainzer Fastnacht. In diesem Jahr gönnen sie sich gleich drei davon: drei Aprikosen aus Mombach, oder waren es doch drei Chinesen mit dem Kontrabass? Vorhang auf für die urigste Fastnachtsform tief in den Katakomben von Mainz.
„Gott Jokus ist unser Boss, der Augustinerkeller unser Schloss“ – die Regeln des Narrentreffens werden gleich zu Beginn klargestellt: „Zu Lachen, den Kummer und die ganzen Sorgen auf morgen zu verschieben – wir schwören!“ ruft der Saal: „Wir feiern heute Fassenacht, so lange bis die Schwarte kracht, und wenn einer stocke-steif da hockt, wird er wach gekloppt – Wir schwören!“ Nun, schlafen ist hier sowieso nicht angesagt, wenn gut 70 Menschen im Clownskostüm die Nacht zum Tag machen.
Ungezwungen geht es zu im historischen Gewölbe des altehrwürdigen Augustinerkellers – alles andere wäre ja auch keine Kneipenfassenacht. Sich treffen beim Wein, gereimte Reden schwingen, des Volkes Stimme erheben und sich selbst dabei gehörig auf den Arm nehmen, so waren die Anfänge der heutigen Mainzer Fastnachtstradition Mitte des 19. Jahrhunderts. Aus dem Bürgertum gründeten sich Garden und Fastnachtsvereine, aus Protest gegen Besatzung und Obrigkeit, und fest dem Gedanken von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und dem freien Wort verhaftet.
Stammtisch der „Allerscheenste“ feiert schon seit 37 Jahren
Nach außen dominieren heute, gut 180 Jahre später, die großen Prunksitzungen mit Gardeaufmarsch und großem Narrenreigen auf der Rostra, doch das ist beileibe nicht das ganze Bild der Meenzer Fastnacht: In den Kneipen, oft versteckt, laden immer öfter Stammtische und gesellige Runden zur urigen Wirtschafts-Fassenacht. So war es auch am 9. Oktober 1986, da fanden sich zehn Personen zu einem Stammtisch zusammen, daraus ging 1995 der Verein „Närrischer Stammtisch Die Allerscheenste“ hervor – da feierte der Stammtisch schon seit fast zehn Jahren Kappesitzungen in der Kneip‘.
Die Mitglieder: Altgediente Mainzer und „Zugereiste“ mit viel Liebe zum Herzensprojekt Fastnacht und ihren Traditionen. „Sehn’se, das ist Meenzerisch!“ – alte Lieder wie diese, hier erklingen sie noch. Doch das heißt mitnichten, dass die „Allerscheenste“ irgendwie altbacken wär’n: „Ich bin ein Unikat mit Charme drumherum“, stellt sich der „Einsiedler vom Lerchenberg“ alias Klaus Emmermann vor, und seziert dann mit feinsinnigen Versen und urkomischen Sprachjonglagen das Leben im Alter mit Spinnen und Regenwurm, und bilanziert mit Augenzwinkern: „Was ist schon dabei, wenn dir mal was entfällt, wenn man dafür ein Fläschchen Riesling erhält.“
Unglaubliche 85 Lenze zählt der „Einsiedler“ in diesem Jahr, und zeigt, was einst Herbert Bonewitz von der Bühne rief: Ehret die Alten – sie beherrschen noch die tiefsinnige, urkomische, gereimte Fastnacht. Dazwischen und drum herum wird gesungen und geschunkelt, und so manch gestandener Fastnachtsredner der Moderne begrüßt. Da gibt sich „Gardist“ Marcus Schwalbach die Ehre, und René Pschierer als Bajazz – und wenn „Nachtwächter“ Adi Guckelsberger erst zu viel späterer Stunde hereinschneit, als eigentlich vorgesehen, dann stört das hier niemanden: Dann tritt eben ein anderer Allerscheenster seelenruhig in die Bütt.
Nachdenklicher Blick des Narren auf Kriege, Krisen und Intoleranzen
Heraus kommt ein höchst nachdenklicher, klarer Blick aufs Weltgeschehen, auf Diktatoren im Osten, die ihre Nachbarn nicht in Ruhe leben lassen, auf unversöhnliche Nachbarn in Nahost, und auf Hass und Ausgrenzung im eignen Land. „Den Protestanten, Juden, Moslem und Buddhist – ich grüß sie alle“, spricht der Narr: „Ich grüß die Schwarzen, Gelben, Roten, vergesse auch die Grünen nicht – nur diese tumben, ewig gestrigen Chaoten, das braune Volk, das grüß ich nicht.“ Eine Sternstunde in freier Narrenrede, serviert von Ernst Deutsch.
Zu einem Highlight werden dann auch noch Gäste aus den Bergen: Die Wittlicher Altstadtsänger halten die kulinarische Vielfalt hoch – „Ich will keinen Dönerladen, ich will lieber Currywurst!“ – und die Liebe zur gesungen Narretei ebenso. Die sechs Herren in Frack und Zylinder servieren den Klassiker „Am Aschermittwoch ist alles vorbei“ mit ebenso gekonnten Harmonien wie ein höchst närrisches Liebeslied an ihre Heimatstadt in der Eifel. „Man könnte auch sagen: hier stehen die Wittlicher Harmonists“, sagt Karin Junker, die als „Mutter Oberin“ der Allerscheenste das Szepter des Abends fest in ihren Händen hält.
„Gemäß EU-Verordnung für fastnachtliche Veranstaltungen hat jede Sitzung mit einem Protokoll zu beginnen, ob Ihr wollt oder nicht“, sagt die Chefin streng. Ja, es ist nicht leicht, ein Narr zu sein, und noch weniger leicht, in den Tagen einer verdeckten Coronawelle eine vollständige Sitzung auf die Beine zu stellen: Ein Gutteil der Aktiven ist krank, so auch der Protokoller – Peter Krawietz hütet das Bett statt der Bütt.
Protokoller hütet Bett statt Bütt, Parodie von „Malle“ und „Dos“
So verliest eben Karin Junker selbst gekonnt die Verse des Protokollers, und der seufzt schriftlich aus der Ferne: „Wie wertvoll unsre Fassenacht, wenn’s überall nur knirscht und kracht, wo allenthalben blind, verdrossen, wird blindwütig nur rumgeschossen.“ Auch den Protokoller treiben Kriege und Krisen um, das Unbehagen ob einer zunehmend Bürger-fernen Politik – und vergisst auch Mainzer Politik mit Baumfällungen im Gros und Ampelchaos auf den Straßen nicht. „Unser Trost: es gibt bald Wahlen – Gelegenheit es zurückzuzahlen“, spricht der Protokoller.
Aber eigentlich sind Gäste und Gastgeber ja auch zu etwas ganz anderem hier: Es ist 19.44 Uhr, und das Akkordeon spielt den Narhallamarsch. Elf Privilegien werden in Ehren verkündet, und dann erfolgt der Tusch durch zerplatzte Papiertüten-Luft: die Aller-Allerscheensten des Jahres sind da! „Eigentlich wären wir ja ein Trio, und eigentlich machen wir Musik – das Problem ist nur: wir können gar nicht spielen“, sagen „Malle“ und „Dos“ und singen einfach: „Oioioio, jetzt trink ich erst mal e Woi und lass die Sorge sorge soi!“
Die Eingeweihten haben es längst erkannt: Die Aller-Allerscheensten des Jahres 2024 sind natürlich die „Maledos“, jene legendäre Gesangsgruppe aus Mombach, die bereits seit 1958 die Mainzer Fastnacht mit Liedern und gesungenen Vorträgen bereichert. Ihr Name ist eine Ableitung von „Maleten“, wie man in Mombach tatsächlich die Aprikosen nennt, und 2005 übergab die erste Gründergeneration die Instrumente an die heutigen Protagonisten: Dieter Scheffler, Uwe Ferger und Klaus-Dieter Becht.
Drei Aprikosen mit dem Kontrabass: Maledos sind Aller-Allerscheenste
Helmut Schlösser und Peter Gottron, selbst gestandene Fastnachtsgrößen, sorgten als „Malle“ und „Dos“ für eine urkomische närrische Parodie der frisch gekürten Ehrenträger, Vorjahres-Preisträger Florian Sitte für die Laudatio. „Im Grunde stehen hier mitten im Winter drei Aprikosen“, schmunzelte der, und erinnerte daran: Die „Maledos“ sind die zweitälteste Gesangsformation der Meenzer Fassenacht – nur die Hofsänger sind älter.
Sitte ließ denn auch die Geschichte der Maledos Revue passieren – oder war doch alles ganz anders? Waren es eigentlich drei Chinesen mit dem Kontrabass, die einst in einem Steakhaus in Mainz ihre Zeche nicht zahlen konnten – und sich deshalb freisingen mussten? Und weil die Chinesen das „R“ nicht sprechen konnten, „wurde aus den ‚Maredos‘ kurz und knackig: die drei Maledos“, erklärte Sitte, sehr zur Gaudi des Publikums im Saal: „Die Allerscheenste haben mit Euch eine weitere Zierde bekommen.“
Tatsächlich reihen sich die jüngsten Preisträger in die Riege des „Who is Who“ der Mainzer Fastnachtsgeschichte ein: Der erste Aller-Allerscheenste war im Jahr 1996 der damalige Mainzer Oberbürgermeister Jockel Fuchs (SPD), es folgten Fastnachtsgrößen wie Herbert Bonewitz, Otto Dürr, Margit Sponheimer und Rudi Henkel. Der früh verstorbene Zugmarschall Ady Schmelz war ebenso dabei wie Noch-MCV-Wagenbauer Dieter Wenger, Bohnebeitel-Chef Heinz Meller oder der langjährige „Till“ des MCC, Friderich Hofmann.
„Und mit all dene, jetzt wird’s gesacht, erlebe mir Sternstunde de Fassenacht“, lautet das Motto der Kür. Die Geehrten dankten natürlich musikalisch und voller Freud‘, bleibt nur eines noch zu klären: „Man fragt sich: wo sind nur die jungen Alten?“, konstatierte Ernst Deutsch betrübt – dem Stammtisch geht der Nachwuchs aus: „Wir sind doch die Allerscheensten – und wir beißen nicht“, seufzte der Narr: „Ihr müsst auch nicht gleich einen Vortrag halten, bis 2025 ist noch Zeit…“ Dann wird mit Sicherheit wieder ein Aller-Allerscheenster gekürt, im Augustinerkeller zu Mainz am Rhein – beim Heiligsten der Mainzer Feste: der Mainzer Fassenacht.
Info& auf Mainz&: Wer einmal dabei sein will bei der urigen Wirtschaftsfassenacht, oder gar Mitglied bei den „Allerscheenste“ werden will, der kann sich hier im Internet kundig machen. An Rosenmontag könnt Ihr die „Allerscheenste“ natürlich auch im Mainzer Rosenmontagszug erleben – in diesem Jahr marschiert die Clowntruppe mit der Startnummer 8.