Seit Gründonnerstag gilt in Mainz eine nächtliche Ausgangssperre, es ist die schwerste Einschränkung privater Freiheiten von Staats wegen, die die Mainzer seit dem zweiten Weltkrieg erlebt haben. Ab 21.00 Uhr darf sich derzeit nur im Freien bewegen, wer einen triftigen Grund hat – nicht jeder wusste am Donnerstagabend schon davon. Doch in der ganz großen Mehrheit hielten sich die Mainzer an die Sperre: Von 21.00 Uhr an leerten sich Straßen und Plätze rapide, um 22.00 Uhr war Mainz nicht wiederzuerkennen. Aus der quirligen Großstadt war eine Geisterstadt geworden. Die Politik hofft so, die Dynamik der Dritten Corona-Welle zu brechen.
Gegen 19.00 Uhr hatte die Mainzer Polizei noch auf der Fort Malakoff-Terrasse am Rheinufer mit gleich mehreren Mannschaftswagen starke Präsenz gezeigt, doch um kurz vor 21.00 Uhr herrscht gähnende Leere: Weit und breit keine Polizei oder keine Kontrolleure vom Ordnungsamt – aber auch keine Mainzer. Einzelne kleine Gruppen von Menschen sind noch unterwegs, streben offenbar nach Hause, ansonsten sind Rheinpromenade und die Terrassen zum Rheinufer verwaist.
Ein Pärchen mittleren Alters sitzt noch auf den Stufen, dass in Mainz genau jetzt eine Ausgangssperre beginnt, haben sie nicht mitbekommen. „Ich komme aus Hessen“, berichtet der Mann – auf der Wiesbadener Rheinseite direkt gegenüber gibt es keine Ausgangssperre. Sie habe gar nicht die Nachrichten verfolgt in den letzten Tagen, sagt seine Begleiterin, „im Büro war so viel zu tun.“ Ein wenig Luft schnappen nach der stressigen Arbeitswoche wollten sie noch, im Freien und mit Abstand, die Ausgangssperre nehmen sie hin. „Wenn’s was hilft“, sagt sie. „Jeder, der meckert, soll es mal besser machen“, sagt er.
Ein paar Schritte weiter haben sich gerade zwei junge Männer niedergelassen, die Ausgangssperre haben auch sie nicht auf dem Schirm. „Ich komme aus der Pfalz“, sagt der eine, sein Kumpel hat nicht so richtig viel Verständnis für die Maßnahme: „Wie soll man sich denn hier anstecken“, fragt er, und deutet auf die menschenleere Terrasse. Am Dienstag hatte die Sieben-Tages-Inzidenz in der Stadt Mainz am dritten Tag in Folge über der Marke von 100 gelegen, die Zahl der Neuinfektionen war zuletzt rasant gestiegen. „Wir haben jetzt eine Dynamik bei den Ansteckungen, die hochgefährlich ist“, sagte Oberbürgermeister Michael Ebling (SPD).
Mainz zog daraufhin nach den Vorgaben des Landes nicht nur die Notbremse, sondern verhängte auch eine nächtliche Ausgangssperre zwischen 21.00 Uhr und 5.00 Uhr morgens. „Wir haben ganz erkennbar ein hohes Ansteckungsrisiko nach wie vor im privaten Bereich“, begründete Ebling die Maßnahme. Noch immer träfen sich Menschen in größeren Gruppen, das trage „in erheblichem Maße“ dazu bei, dass sich Infektionen ausbreiten könnten. „Hier kann eine Ausgangssperre eine sehr geeignete Maßnahme sein, um dafür zu sorgen, dass nur noch ganz wenige Menschen das Weggehen am Abend nutzen“, sagte Ebling.
Am Donnerstagabend zumindest sieht es so aus, als würde das funktionieren: Ab 21.00 Uhr leeren sich Straßen und Plätze rapide. Hin und wieder sind noch Zweiergruppen unterwegs, eine alte Dame führt ihren Hund aus – das darf sie auch noch nach 21.00 Uhr tun. Wer von der Arbeit kommt, Angehörige gepflegt hat oder einen Hund ausführt, ist von der Ausgangssperre ausgenommen. Nicht jedem gefällt die neue, scharfe Einschränkung: „Schreiben Sie, dass es unnötig ist“, ruft ein junger Mann, bevor er in seinem Auto verschwindet. Ein anderer flitzt auf seinem Rad vorbei, und ruft eine Warnung: „Die Bullen kommen!“
Tatsächlich ist von Polizei und Ordnungsdienst der Stadt Mainz erstaunlich wenig zu sehen. Auf der Rheinstraße herrscht gegen 21.30 Uhr noch immer reger Verkehr, Kontrollen gibt es aber keine. In der Fußgängerzone herrscht bereits fast komplette Stille. Ein Kurierfahrer auf dem Weg nachhause, ein Lieferdienst-Mitarbeiter, der noch die richtige Klingel sucht, zwei Taxifahrer, die sich beim Warten unterhalten – das war’s. Auf der Ludwigsstraße herrscht gespenstische Leere. Jeder Schritt hallt jetzt laut durch die Gassen. Stimmen dringen nur noch aus geöffneten Fenstern – die Straßen: menschenleer.
In der Mainzer Innenstadt seien doch in den späten Abendstunden ohnehin keine Menschenmengen, sondern vorwiegend „viele vernünftige Bürger unterwegs, die zur späten Stunde mit viel Abstand ein wenig Luft schnappen“, kritisierte der Mainzer Vorsitzende der Jungen Union, Torsten Rohe, am Mittwoch die nächtliche Ausgangssperre: „Diese Möglichkeit den Menschen zu verbieten, ist in meinen Augen unverhältnismäßig.“ Das gelte vor allem deshalb, weil die Stadt Mainz es doch seit Monaten versäumt habe, bestehende Corona-Regeln effektiv zu kontrollieren: „Oberbürgermeister Ebling hat es monatelang versäumt, Home Office in der Verwaltung konsequent einzuführen, und die Mitarbeiter effektiv zu schützen“, kritisierte Rohe.
Stattdessen seien vor der Landtagswahl die Geschäfte wieder geöffnet worden – ohne ein tragfähiges Testkonzept. „Eine konsequente Umsetzung der milderen, bestehenden Vorsichtsmaßnahmen wäre das geeignete Mittel gewesen, um eine Steigerung der Inzidenzen in Mainz gar nicht erst zuzulassen“, betonte auch JU-Kreisvize Marc Philipp Janson – eine Ausgangssperre sei „unverhältnismäßig im Angesicht der Nichtdurchsetzung bestehender Maßnahmen.“
Die Junge Union befand sich da ganz auf einer Linie mit der Mainzer FDP: „Zur Durchsetzung von Kontaktreduzierungen stehen demnach mildere Mittel zur Verfügung“, betonte FDP-Kreischef David Dietz. Kontakte, Ansammlungen von Menschen und auch Treffen in privaten Räumen seien „seit Monaten stark reguliert“, sagte Dietz, immerhin Partner der regierenden Ampel, und kritisierte: „Eine generelle Ausgangssperre für alle Bürger zu verhängen, verlässt aber den Boden der Verhältnismäßigkeit und ist so nicht zu akzeptieren.“
Scharfe Kritik an der Ausgangssperre kommt aber auch vom entgegen gesetzten politischen Spektrum: Die Mainzer Linke kritisierte, eine Ausgangssperre treffe vor allem jüngere Menschen und Menschen in prekären Wohnsituationen, es werde damit „suggeriert, dass ‚die Jugend‘ oder ‚der Feierabend‘ Schuld seien am Pandemiegeschehen“, kritisierten Kreisverband, Stadtratsfraktion und Hochschulgruppe „Linke Liste Mainz“: „Unter Verdacht gerät, wer nachts spazieren geht, und unverdächtig ist, wer nach der Arbeit den Abend im Eigenheim verbringt.“ Das werde nicht den gewünschten Effekt bringen.
Trotz der weitaus höheren Infektionsgefahr in Innenräumen bleibe die Arbeitswelt hingegen von weitgehenden Einschränkungen verschont, das sei falsch und ungerecht, kritisierten die Linken weiter – der Infektionsschutz in der Arbeitswelt müsse dringend wirksam durchgesetzt werden. Die Bundesregierung sei aber „vor dem Druck der Wirtschaft gegen die geplanten Ruhetage eingebrochen“. Statt Lockerungen in Modellversuchen und weiteren Einschränkungen des Privatlebens brauche es zur Eindämmung der rasant steigenden Corona-Fallzahlen „einen konsequenten und solidarischen Lockdown von mindestens drei Wochen um das exponentielle Wachstum zu brechen und die Infektionszahlen zu senken.“
Auch die Linksjugend kritisierte, das Verhängen der Ausgangssperre sei „ein verzweifelter Versuch ‚irgendetwas‘ gegen die Ausbreitung des Virus zu unternehmen, ohne dabei die Profite der Konzerne zu gefährden.“ Jugendliche litten aber derzeit besonders stark unter den Auswirkungen der Pandemie, weil sie keine Sozialkontakte mehr hätten, keine Konzerte oder Freizeitangebote, dafür aber steigenden Schulstress und Leistungsdruck. „Studien zeigen, dass sich Depressionen und Suizidgedanken gerade unter Jugendlichen immer weiter ausbreiten“, warnte die Linksjugend. Statt Angebote für eine Corona-konforme Freizeitgestaltung für Jugendliche zu schaffen, werde nun eine Ausgangssperre verhängt, die eher dazu führen werde, „dass sich Menschen doch in Ihren Wohnungen treffen, wo das Infektionsrisiko höher ist, anstatt abends im Park oder auf einem Spaziergang.“
Experten widersprechen dem und verweisen darauf, dass Länder wie Irland, Großbritannien und auch Portugal die hochansteckende neue Virus-Mutante B1.1.7 gerade durch Ausgangssperren wirksam eindämmen konnten. Die Auswertung anonymer Mobilfunkdaten der Hochschule Berlin zeige, dass zwischen 20.00 Uhr und 5.00 Uhr morgens rund 13 Prozent der Mobilität stattfinde, schreibt etwa der Epidemiologe und SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach auf seiner Facebookseite: Viele dieser Bewegungen seien Besuche bei Freunden und Bekannten, diese nächtliche Mobilität sei aber „oft besonders gefährlich, weil sich vieles dann drinnen abspielt – der Besuch bei Freunden ersetzt für viele den Restaurantbesuch oder das Kino.“
Laut einer Studie der Universität Oxford senkten Ausgangssperren den Reproduktions-Wert, der die Ansteckungsrate bezeichnet, im Schnitt um etwa 15 Prozent – das sei sogar mehr als durch die Schließung von Schulen, schreibt Lauterbach zudem: „Das würde im Moment für uns als zusätzliche Maßnahme genau reichen, um das Wachstum der Infektionszahlen zu brechen.“ Zusammen verpflichtenden Tests in den Betrieben könne die dritte Welle so gebrochen werden. Ohne Ausgangsbeschränkungen aber werde die derzeitige dritte Welle nicht in den Griff zu bekommen sein, betont Lauterbach.
Info& auf Mainz&: Ein Video vom menschenleeren Mainz bei nächtlicher Ausgangssperre findet Ihr hier auf unserer Mainz&-Facebookseite. Mehr zur „Notbremse“ in Mainz und dem derzeitigen Ansteckungsgeschehen lest Ihr hier bei Mainz&. Alle Informationen zu den derzeit geltenden Corona-Regeln in Mainz sowie dazu, welche Ausnahmen von der Ausgangssperre gelten, könnt Ihr hier bei der Stadt Mainz nachlesen. Die Studie der Universität Oxford, welche Maßnahmen zur Eindämmung von Coronawellen wie wirken, findet Ihr hier im Internet im Original.