„Ruhe im Saal!“, ruft Dr. Dr. Thomas Tuschel, „die Vorlesung beginnt! Heute beschäftigen wir uns mit der Frage, warum beim Eröffnungsspiel seit Jahren keiner mehr zuhört!“ Im Saal rumort’s, die letzten setzen sich noch schnell und bestellen Getränke – da nimmt das Geschehen auf der Bühne schon volle Fahrt auf. Da gibt’s im Schnelldurchlauf Kokolores und Protokoll, und das Finale geht nahtlos in den Einmarsch über – keine Frage: Der Gonsenheimer Carnevals-Verein (GCV) macht sich wieder einmal auf, die Narrenwelt auf den Kopf zu stellen und die Lachmuskeln aus den Angeln zu heben. Im Jahr drei des neuen Programmchef-Duos Thomas Becker und Christian Schier läuft nicht alles rund, aber die Akteure auf der Bühne wie immer zu großer Form auf – das Ergebnis sind fünf Stunden Fastnacht pur zum Lachen, Singen, Feiern und auch ein wenig zum nostalgisch werden.
„Wir beim GCV wagen neue Dinge, neue Formate“, sagt Sitzungspräsident Sebastian Grom, „wir probieren immer wieder moderne Dinge aus, aber wir sind auch der Tradition verpflichtet.“ Und genau in diesem Geist mischt die GCV-Sitzung 2019 fünf Stunden lang klassisch-traditionelle Elemente mit jeder Menge Experimentierfreude. Da ist etwa der gerade 14 Jahre junge Luca Lautenschläger, den der GCV gerade erst bei der Narrenschau 2018 entdeckte – und der doch schon im Eröffnungsspiel die Bühne rockte wie ein Alter: Protokoller, Possenreißer, Hähnchengrill-Parodist – der Nachwuchsnarr schlüpft mal eben in drei verschiedene Rollen und bringt den Saal im Handumdrehen in Schwung. Respekt.
Überhaupt kommt das Eröffnungsspiel ausgesprochen locker-klug daher mit seiner Diagnose vom Aufmerksamkeits-Defizit-Schoppe-Syndrom bei den Zuschauern, gleichzeitig nehmen sich Andreas Müller, Jens Ohler und Marius Hohmann mit großer Spielfreude herrlich wenig ernst. Dann kann’s losgehen mit dem höchst traditionellen Einmarsch von Füsiliergarde und Komitee, gefolgt von Protokoller Erhard Grom: Der Altmeister der hohen Kunst des gereimten Vortrags liefert eine höchst schwungvoll-spritzige Jahresbilanz mit AKK-Rap, Lampenschirm Söder, WM-Blamage und CSU-Klobürsten bis hin zu den braunen Spendenkassierern der AfD ab.
Grom nimmt als Narr mit dem Eulenspiegel kein Blatt vor den Mund und schreibt dem braunen Mob in Sachsen in aller Deutlichkeit ins Stammbuch: „Pack bleibt Pack, doch Mainz bleibt Mainz!“ Großes Narrenkino ist seine Trumpsche Versenkungsmethode à la Gullydeckel, die in dem von Herzen kommenden Schlussatz mündet: „Und im Kanal die Rattenschar, die hat Besuch aus USA.“ Grom beherrscht die hohe, ja höchste Kunst des närrischen Protokollers, mit Klartext und Pointe zu jonglieren, dem Volk aufs Maul zu schauen, ihm aber zugleich den Spiegel vorzuhalten – und am Ende durchaus besinnlich-moralisch zu schließen: „Ein Zauber liegt in unserem Fest, der Fremde Freunde werden lässt./ Ach wenn auf unserer Welt, ich wünscht es sehr, doch immer Mainzer Fastnacht wär‘.“ Da verneigt sich der Saal und dankt mit stehenden Ovationen.
Nostalgisch und ein bisschen wehmütig macht ein anderer alter Hase danach weiter: Peter Beckhaus nimmt Abschied von der Narrenbühne, und das mit dem Lied, das ihn vor 20 Jahren zum Star machte. Doch Beckhaus wär‘ kein echter Narr, würde er nicht seinen eigenen Ruhm glossieren, und so wird aus der „Feuerwehr“ erst mal eine Bilanz der Folgen des Liedes. Die Original „Heut‘ spielt die Feuerwehr“ darf danach natürlich nicht fehlen, und so mancher im Saal schmettert mit Inbrunst und in Erinnerungen verloren mit.
Christoph Seib versteht danach die Welt nicht mehr, nun ja, sein Frauenbild ist ja auch ein wenig in der Vergangenheit stecken geblieben, dabei wollte er doch nur eine Hommage an seine Oma dichten. Doch sein furioser Ritt durchs Radioprogramm der 80er, der ist vom Feinsten: von Backstreet Boys über japanische Oper bis hin zu Fußball, Verkehrsmeldungen, Backrezept und Schlager geht die rasante Reise, die in Minutenschnelle aus einem einzigen Mund sprudelt – und in der Vision „Wenn ich König der Fastnacht wär‘ mündet“.
Damit hätten wir den eleganten Übergang zum Nonsens geschafft – und dafür sind die „Almeridos“ zuständig. Thomas Becker und Frank Brunswig kalauern sich erst einmal herrlich Zwerchfell-strapazierend durch Tauchschulen und nasse Ritzen, bevor sie zum Finale Grande ansetzen: Ob „Kein Kondom mehr“ eher Hommage oder eher Parodie des berühmten Barcelona-Duetts zwischen Freddy Mercury und Monsterrat Caballé ist, bleibt offen… Fest steht aber: Die Nummer zündet mehr am späteren Abend.
Die Konzentration fällt danach zumindest erst mal schwer, das geht zu Lasten von Tobias Mayer. Der saust auf Rollerscates über die Bühne und spielt dabei auch noch Akkordeon, verwirrt den Saal aber erst einmal mit seinem Vorne-hinten-unten-oben-Refrain. Zwei Musiknummern hintereinander erweist sich nicht als Erfolgsrezept der Planer, auch die Werum-Brüder mit ihrer schönen Kreppel-Ode zu Beginn der Sitzung machten schon die Erfahrung: Neue Akteure brauchen die richtige Zeit und den richtigen Raum zur Entfaltung.
Das geht am Ende auch der Herpes House Band so: Die fünf Jungs mit den starken Stimmen und ihrer völlig respektlosen Hofsänger-Parodie bringen den Saal mehr zum Luftschnappen denn zum Abfeiern, zumal ihr „Sprühregen über den Wolken“ ja wirklich nichts für schwache Mägen ist… „Wir sind alt, wir sind grau, wir schreien alle nur Helau“, sagte Lars Reichow kurz zuvor als Mahnung – das droht dem GCV mit solchen starken Nachwuchsgruppen nun wirklich nicht.
Aber zurück zum ersten Teil: Über Raum und mehr noch Grenz-Raum streiten sich Rudi Hube und Johannes Emrich, die beiden gaben als Grenzer ja schon ihr Debut bei den Kammerspielen des GCV, nun entfaltet sich ihr deutsch-französisches Zwiegespräch erneut zu einer feinsinnigen Persiflage auf die Missverständnisse zwischen Froschesser und Gartenzwergliebhaber, die am Ende doch nur eines zeigt: Jacques und Karl sind längst innige Freunde, und deutsche und französische Kultur zwischen Schwarzbrot und Baguette zutiefst miteinander verflochten. Emrichs französischer Grenzer ist dabei ein Augen- und Ohrenschmaus, und das trotz Krücken – parfait!
Ein Augenschmaus sind wie immer auch die Balletts, die Mädels von der Füsiliergarde präsentieren sich im 66. Jubiläumsjahr toppfrisch und grandios-synchron, ihre Kolleginnen vom GCV-Ballett legen eine wunderschöne Suche nach dem Fastnachtsprinz auf das Parkett – mit fantastischen Kostümen und spannender Choreographie. Die bringen auch die „Ritter von der Schwafelrunde“ mit: Dank futuristischer Fernbedienung können die Schnorreswackler in diesem Jahr nicht nur stark vorwärts singen, sondern auch in Slowmotion und sogar rückwärts singen und tanzen – eine Mega-Leistung. König Jean Arthur Becker seufzt „Gesang, wir brauchen Gesang am Hofe!“, Parcival hat einen Becher bei Bares für Rares zu verkaufen, und der gelbe Ritter ist abkömmlich – die Schnorreswackler servieren in ihrem Jubiläums Jahr erneut einen Parforce-Ritt närrischer Chorkunst.
Ein bisschen fehlt an diesem Abend im zweiten Teil die Musik, weder Oliver Mager noch die Bockius-Brüder heizen dem Saal ein, das müssen die Fleischworschtathleten in gewohnter Manier nach der Pause übernehmen, Und so werden zu Glanzpunkten des Abends die Politik-Nummern. Denn nachdem Guddi Gutenberg vom Sockel gestiegen ist, macht sich ein anderer auf, die närrische Druckerehre von Mainz zu retten: Sitzungspräsident Sebastian Grom legt bei seiner Premiere als Druckergeselle direkt mal einen fantastisch-bitterbösen Politikvortrag aufs Parkett.
Grom seziert Bibelturm und Baustellen-Chaos, Münsterplatz-Örtchen und Dieselfahrverbot, schenkt der Kaviar-Connection in Wiesbaden feste einen ein, und spricht im gleichen Atemzug: „Ebling? der ist in der SPD? Ich wusste noch nicht einmal, dass der Politiker ist. Ich dachte das ist der hauptamtliche Weinfest-Eröffner von der Stadt Meenz. Ist der einfach Ob und keiner kriegt’s mit…“ Von Klimaleiden geht’s zum SPD-Kater, und das Ganze mündet auch noch in einem spritzigen Medley am Klavier – da serviert der Saal zu Recht lang anhaltende Standing Ovations.
Auch ein anderer arbeite sich am Mainzer OB ab: „Unser’n Oberbürgermeister… was macht der eigentlich? Warum macht der nie was?“, lästert Lars Reichow und arbeitet sich mit spitzer Zunge durch Bahnchaos und Hackerhandwerk, den „geistig limitierten Verkehrsminister“, schwachsinnigen Brexit und die Schiersteiner Brücke. „Es gibt im Moment zu viele Narren auf der Welt“, seufzt Reichow, und konstatiert: „Ich glaube an das Mädchen Greta, ich glaube an unsere Kinder, lasst sie raus auf die Straße, rettet die Bienen, rettet Europa, steht auf und kämpft!“
Da bleibt wahrlich nur noch die Flucht in die ultimative Narretei – und die wird natürlich von keinen anderen als Christian Schier und Martin Heininger serviert. Die nehmen in diesem Jahr Siri und Alexa und alle Assistententräume aufs Korn, was natürlich nicht ohne Musik, wahnsinnige Tanzeinlagen und jede Menge Lachmuskel-Kater abgeht – unbeschreiblich gut und mit Sicherheit ein Fall für die Fernsehsitzung…. Bleiben noch der echte „Hähnchengrill“ als Zugabe und ein echt Meenzerisches Finale, und es ist wieder feinste Fassenacht in Meenz…
Info& auf Mainz&: Der Horrortrip des Vereins vom Vortag, der abgefackelte Fastnachtswagen, kam natürlich auch zur Sprache, und Lars Reichow hatte da den passenden Vorschlag: Elf Jahre Haft ohne Gewähr zur Strafe. Mehr zu dem Brandstiftungs-Fall selbst lest Ihr hier bei Mainz& – und hier lest Ihr über die Lösung mit dem Ersatzfahrzeug. Wegen technischer Probleme auf unserer Seite ist unsere Fotogalerie dieses Jahr nicht ganz vollständig – wir bitten um Entschuldigung.