Der Stopp für Tempo 30 auf den Hauptverkehrsstraßen in Mainz wirft hohe Wellen. „Ohrfeige“, „Klatsche für die Verwaltung“, „Verkehrspolitischer Super-GAU“ – die Niederlage der grünen Verkehrsdezernentin vor dem Stadtrechtsausschuss am Mittwoch sorgt für Fassungslosigkeit. Die AfD fordert den Rücktritt der Verkehrsdezernentin, die FDP Konsequenzen für Bußgeldverfahren. Oberbürgermeister Nino Haase (parteilos) müsse dafür sorgen, dass die Verwaltung rechtskonform handele, so die FDP. Tatsächlich war die Anordnung von Tempo 30 auf Hauptverkehrsachsen wohl schon seit zwei Jahren rechtswidrig.

Am Mittwoch hatte der Stadtrechtsausschuss der Stadt Mainz die Anordnung für Tempo 30 auf den Hauptverkehrsachsen Parcusstraße-Kaiserstraße sowie auf der Rheinachse zwischen Kaiser-Karl-Ring und Holzhofstraße für rechtswidrig erklärt und mit sofortiger Wirkung aufgehoben. Der Vorsitzende des Stadtrechtsausschusses hatte dabei auch kritisiert, die Stadt Mainz hätte die Schilder schon vor vier Wochen abbauen müssen – seitdem liegt ein Gutachten vor, das klar belegt: Der Schadstoffgrenzwert von 40 Mikrogramm wird auch mit Tempo 50 eingehalten, und das mit großem Abstand zum Grenzwert.
Damit war die Rechtsgrundlage für die Anordnung von Tempo 30 auf den Hauptverkehrsachsen entfallen. Das Pikante daran: Das war bereits seit Ende 2022 der Fall, denn die Anordnung der Stadt im Jahr 2020 stützte sich auf Schadstoff-Prognosen, die nur bis Ende 2022 berechnet waren – danach hätte das Verkehrsdezernat der Stadt Mainz neue Gutachten und Berechnungen durchführen oder in Auftrag geben müssen. das aber geschah nicht.
Tempo 30 seit Ende 2022 ohne Rechtsgrundlage in Mainz
Die Verhandlung vor dem unabhängigen Stadtrechtsausschuss beruhte zudem auf einem Widerspruch eines Mainzers: Friedemann Kobusch hatte bereits Ende Juni 2021 Einspruch gegen die Anordnung von Tempo 30 eingelegt, weil er schon damals Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Anordnung hatte. Hintergrund ist die Straßenverkehrsordnung: Die untersagt nämlich Tempo 30 auf Hauptverkehrsachsen, insbesondere auf Bundesstraßen – und zu denen gehören auch die Kaiserstraße und die Rheinachse in Mainz.

Der Grund: Hauptverkehrsstraßen verlören durch eine Regelgeschwindigkeit von Tempo 30 ihre Bündelungsfunktion, um den Verkehr schnell und zügig durch eine Stadt zu leiten, sagen Verkehrsexperten wie der ADAC. Führe man Tempo 30 auch auf Hauptverkehrsachsen ein, werde der Verkehr in die Nebenstraßen und damit in die Wohngebiete gedrückt, zudem stoßen ältere Autos bei Tempo 30 mehr Schadstoffe aus als bei Tempo 50. Auch die Novellierung der Straßenverkehrsordnung im Oktober 2024 änderte an dem grundsätzlichen Verbot von Tempo 30 auf Hauptverkehrsstraßen nichts, sie erlaubt seither aber mehr Ausnahmen wegen Lärm und Sicherheit.
Während Tempo 30 in Wohngebieten und vor Kitas und Schulen völlig unstrittig ist, entzündet sich an Tempo 30 auf Hauptverkehrsachsen immer wieder scharfe Kritik: Die deutlich reduzierte Geschwindigkeit bremse den Verkehrsfluss erheblich und sorge für deutlich mehr Stopps an roten Ampeln – was für mehr Lärm und mehr Abgase sorge. Zudem werde auch der ÖPNV ausgebremst. Nach Mainz&-Informationen kostete die Einführung von Tempo 30 auf den Hauptachsen in Mainz die Mainzer Mobilität mehr als 500.000 Euro an Mehrkosten, da Fahrpläne nicht mehr eingehalten und mehr Busfahrer eingesetzt werden mussten.
FDP: „Klatsche für Verwaltung“ , Konsequenzen gefordert
Die Mainzer FDP kritisierte denn auch, der jetzige Stopp der Anordnung sei „eine Klatsche für die Verwaltung“. „Die FDP hat von Anfang an die Begründung mit überhöhten NOX-Werten nicht für tauglich gehalten und die Geschwindigkeitsbegrenzungen abgelehnt“, sagte FDP-Chefin Susanne Glahn. Bei den Straßenzügen handele es sich um die Hauptverkehrsachsen in der Mainzer Innenstadt „mit erheblicher Bedeutung für die Bewohner, Handel und Gewerbe und die vielen Besucher der Stadt“, betonte Glahn. Tempo 30 auf Hauptverkehrsachsen führe zu Umgehungsverkehr etwa in der Großen Bleiche, der Diether von Isenburg- und der Bauhofstraße.

„Auch der ÖPNV hat durch Tempo 30 erhebliche Mehrkosten im 6-stelligen Bereich“, sagte Glahn. Dazu sei der Effekt der Geschwindigkeitsreduzierung auf den Ausstoß von Stickoxiden auch nach Aussage des Umweltbundesamtes sehr gering. Schon bei der Anordnung der Geschwindigkeitsbegrenzungen sei „klar erkennbar gewesen, dass die Werte in den Straßenzügen ohne diese eingehalten werden können.“ Tatsächlich hatte das Gutachten im Auftrag der Stadt Mainz gezeigt, dass Mainz bereits im Jahr 2020 die Stickoxid-Grenzwerte eingehalten hatte und diese seither an keiner einzigen Messstelle überschritten wurden.
Die Mainzer Grünen klagten denn auch, Tempo 30 sei „ein Opfer seines eigenen Erfolges“: „Die Entwicklung der Luftwerte zeigt, dass Tempo 30 und weitere von der Stadt ergriffene Maßnahmen ein voller Erfolg sind“, betonte Grünen-Verkehrsexperte David Nierhoff. Tempo 30 habe „nicht nur zu einer deutlichen Verbesserung der Luftwerte in der Innenstadt geführt, es sorgt auch für mehr Verkehrssicherheit, reduziert Lärm und macht Radfahren in der Stadt attraktiver.“ Gerade mit Blick auf die künftige Absenkung der Grenzwerte sei es „niemandem zu erklären, weshalb jetzt eine Verschlechterung des Status Quo zu Lasten der Gesundheit aller Mainzer in Kauf genommen werden soll“, klagte Nierhoff.
Gutachten: Rückkehr zu Tempo 50 kein Problem für Schadstoffe
Tatsächlich hatte das Gutachten für die Stadt aber auch klar ergeben, dass durch eine Rückkehr zu Tempo 50 die Belastung durch Schadstoffe nur äußerst marginal steigen würde: Auch bei einer Rückkehr zu Tempo 50 seien nur geringe Änderungen der NO2-Jahresmittelwerte zu erwarten, „überwiegend weniger als 1 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft“, konstatierten die Experten in dem Gutachten, das Mainz& vorliegt. Bei vergleichbarer Verkehrsstärke seien für das Prognosejahr 2028 sogar rund 35 Prozent geringere verkehrsbedingte NOx-Emissionsbeiträge anzunehmen – und zwar auch bei aufgehobenem Tempolimit.

Auch die SPD nannte dennoch die sofortige Aussetzung von Tempo 30 „nicht nachvollziehbar“. Tempo 30 habe „bessere Luft, mehr Verkehrssicherheit, weniger Lärm und eine höhere Aufenthaltsqualität“ gebracht, sagte SPD-Verkehrsexperte Erik Donner: „Leidtragende dieser Entscheidung sind die Anwohnerinnen und Anwohner, die Kinder, deren Schulwege entlang der Straßen liegen, und die Menschen, die tagtäglich zu Fuß oder mit dem Fahrrad dort unterwegs sind. Es ist ein Schlag ins Gesicht für die Lebensqualität.“
SPD und Grüne forderten denn auch, Tempo 30 auf diesen Hauptverkehrsachsen beizubehalten, das sehe auch der Lärmaktionsplan der Stadt so vor. Allerdings muss die Stadt eine neuerliche Anordnung von Tempo 30 wegen Lärmbelästigung der Anwohner neu beantragen, dies habe man bereits beim Landesbetrieb für Mobilität getan, sagte Verkehrsdezernentin Janina Steinkrüger (Grüne) am Mittwoch. Sie sei zuversichtlich, dass diese Genehmigung in wenigen Wochen vorliege, dann werde man Tempo 30 wieder einführen.
Seit wann wusste Verkehrsdezernat, dass Tempo 30 rechtswidrig war?
Tatsache ist: Auch eine Anordnung wegen Lärm ist eine Ausnahme und muss gut begründet werden. Als die Stadt 2015 Tempo 30 bei Nacht auf der Rheinstraße in der Mainzer Altstadt einführte, ergab eine Untersuchung des rheinland-pfälzischen Landesamtes für Umwelt: Der Lärm war auf der Strecke nicht signifikant gesunken. Anwohner bestätigten zudem, der rollende Verkehr sei gar nicht so das Problem – den störenden Lärm verursachten vielmehr rappelnde Lkw bei Schlaglöchern, hochdrehende Motoren von Autoposern und anfahrende Motorräder an Ampeln. Die damalige Verkehrsdezernentin Katrin Eder (Grüne) versprach Flüsterasphalt auf der Kaiserstraße, der aber wurde nie realisiert.

Tatsache ist zudem auch: Nach den Darstellungen des Stadtrechtsausschusses war die Anordnung von Tempo 30 bereits seit Ende 2022 rechtswidrig, durch den Widerspruch, der seit Mitte 2021 vorlag, musste das Verkehrsdezernat dies wissen. behandelt wurde der Einspruch zudem erste ab Ende 2023. Die Mainzer FDP fordert deshalb nun Aufklärung, seit wann der Stadtverwaltung bekannt war, dass die Geschwindigkeitsbeschränkungen nicht mehr haltbar waren – und welche Schritte daraufhin hätten eingeleitet werden müssen.
Die Frage sei, ob die Verwaltung „möglicherweise bewusst verzögert gehandelt und damit rechtswidrige Zustände aufrechterhalten hat“, sagte Glahn – man sehe hier „dringenden Klärungsbedarf.“ Man fordere zudem, alle noch nicht abgeschlossenen Bußgeldverfahren im Zusammenhang mit den betroffenen Tempo-Zonen unverzüglich einzustellen. „Auch bei bereits abgeschlossenen Verfahren darf sich die Stadt nicht auf die bloße Bestandskraft berufen“, forderte Glahn – was genau das heißt, sagte sie nicht. Oberbürgermeister Nino Haase (parteilos) müsse sich nun aber „aktiv in die Debatte einschalten“, dafür sorgen, dass die Verwaltung rechtskonform handele, und dass vor neuen Entscheidungen eine zweifelsfreie rechtliche Klärung erfolge.
AfD: Ideologische Vorstellungen über Recht und Gesetz gestellt
Die AfD ging noch weiter: „Die Entscheidung, Tempo 30 auf der Kaiserstraße und der Rheinachse auszusetzen, war nicht überraschend, sondern überfällig“, sagte AfD-Fraktionschef Arne Kuster. Es sei „ein Skandal“, dass der Widerspruch gegen die Tempo-30-Verfügung so schleppend bearbeitet worden sei und sich über vier Jahre hingezogen habe – Tempo 30 habe nach der Faktenlage schon vor zwei Jahren abgeschafft werden müssen. „Frau Steinkrüger hat allein aus politisch-ideologischen Gründen an Tempo 30 festgehalten, auch dann, als es keine Rechtsgrundlage mehr dafür gab“, kritisierte Kuster – und forderte den Rücktritt der Dezernentin: „Es kann nicht toleriert werden, dass eine Dezernentin ihre persönlichen ideologischen Vorstellungen über Recht und Gesetz stellt.“

„Mainz wird nach Gutsherrenart regiert“, schimpfte auch der Vorsitzende der Freien Wähler in Mainz, Christian Weiskopf: „In Bretzenheim vernichtet man trotz bestehender Parkplatzknappheit 70 Parkplätze und verfolgt Bürger, die den Gehweg mitbenutzen. Wenn es aber um Temporegeln geht, die keinen nachvollziehbaren Sinn haben, dann sieht Frau Steinkrüger es nicht so eng – das ist für die Bürger nicht nachvollziehbar und es ist auch unanständig.“ Dass man nun versuche, „andere Gründe vorzuschieben, weil die Wünsche der Dezernentin gekippt werden, zeigt, dass es hier nicht um Vernunft geht, sondern um Politik für die eigene Klientel“, kritisierte Weiskopf: Ein solches Agieren stärke aber lediglich „die politischen Ränder.“
„Die neueste Schlamperei in Mainz reiht sich nahtlos in weitere Pannen grüner Politik.“, schimpfte derweil auch die Linke: Die Verkehrsverwaltung habe sich „eine schallende Ohrfeige eingefangen“, offenbar habe „das grün geführte Amt es schlicht verschlafen, die Anordnung von Tempo 30 auf sichere Füße zu stellen“, kritisierte die Stadtratsfraktion. Das zeige „eine Amtsführung, die ein fragwürdiges Verständnis von Rechtsstaat offenbart und eine Scheißegal-Haltung gegenüber Leben und Gesundheit der Mainzerinnen und Mainzer.“
Info& auf Mainz&: Einen ausführlichen Bericht zu den Hintergründen der Entscheidung im Stadtrechtsausschuss, zu der Motivation des Beschwerdeführers und zum Gutachten zur Schadstoffbelastung findet Ihr hier bei Mainz&.