Reichsbürger denken darüber nach, einen Minister zu entführen. Politiker aller Couleur werden in sozialen Netzwerken angefeindet und bedroht. Sogar Wissenschaftler werden wegen unliebsamer Studien mit Gewalt bedroht – die politische Kultur in Deutschland hat sich dramatisch gewandelt, die Bedrohungslage für Träger öffentlicher Ämter erheblich verschlechtert. Doch wenn am Sonntag die Mainzer zur Oberbürgermeister-Wahl gehen, werden ihnen auf dem Stimmzettel nicht nur die Namen der Kandidaten präsentiert,  sondern auch ihre volle Adresse – und zwar der Privatwohnung.

Sollte von Reichsbü4rgern entführt werden: Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), hier im April 2021 in einer Talkshow. - Screenshot: gik
Sollte von Reichsbü4rgern entführt werden: Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), hier im April 2021 in einer Talkshow. – Screenshot: gik

Es war im Dezember 2021, als ein rechter Mob von Corona-Gegnern vor das private Wohnhaus von Sachsens Gesundheitsministerin Petra Köpping (SPD) zog, der Fackelzug weckte erschreckende Erinnerungen an ähnliche Einschüchterungs-Szenarien der Nationalsozialisten im Dritten Reich. Im Dezember 2022 nahm die Polizei dann bei einer Razzia eine Gruppe Reichsbürger fest, die nichts weniger als einen bewaffneten Staatsstreich geplant hatten – die Entführung von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) inklusive.

Bedrohungen gegen Politiker haben in den vergangenen Jahren in Deutschland massiv zugenommen, und das schon vor der Corona-Pandemie. Da werden Politiker in sozialen Netzwerken bedroht, Parteibüros angegriffen, Scheiben eingeschlagen. Die Corona-Pandemie beförderte diese Tendenz noch einmal deutlich, auch in Rheinland-Pfalz: Gab es 2014 noch 23 Angriffe gegen Amts- und Mandatsträger im Bundesland, so waren es 2019 schon 48 – 2020 stieg die Zahl gar auf 86.

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Trotz dieser Entwicklung bietet sich dem Wähler am Sonntag in Mainz ein überraschendes Bild: Auf dem Stimmzettel zur Oberbürgermeisterwahl sind nicht nur die sieben Kandidaten mit Namen und Beruf aufgeführt – sondern auch mit ihrer vollen, privaten Wohnadresse. Wie kann das sein in Zeiten wachsender Bedrohungen gegen Kommunalpolitiker und Amtsträger?

Wahlzettel zur OB-Wahl in Mainz - wir haben die dort aufgeführten vollständigen Privatadressen der Kandidaten unkenntlich gemacht. - Foto: gik
Wahlzettel zur OB-Wahl in Mainz – wir haben die dort aufgeführten vollständigen Privatadressen der Kandidaten unkenntlich gemacht. – Foto: gik

Im Mainzer Innenministerium verweist man auf Anfrage auf das Kommunalwahlgesetz Rheinland-Pfalz: Nach „den geltenden kommunalwahlrechtlichen Bestimmungen in Rheinland-Pfalz ist bei den Direktwahlen die Anschrift der Bewerberinnen und Bewerber auf dem Stimmzettel anzugeben“, heißt es hier – und das sei eine Muss-Vorschrift. Tatsächlich werden Adressen bei Landtagswahlen nicht veröffentlicht, da die Oberbürgermeisterwahl aber eine Personenwahl ist, greift offenbar hier diese Regel.

In anderen Bundesländern hat man indes bereits reagiert: In Schleswig-Holstein beschloss der Landtag im August 2022 auf Antrag von CDU und Grünen, die vollständige Adresse vom Wahlzettel zu streichen, so wolle man „Kandidaten vor Anfeindungen schützen“. stehen. Es sei „traurig, dass wir diesen Schritt gehen müssen, aber er ist unverzichtbar, wenn wir unsere lebendige Demokratie in Schleswig-Holstein schützen wollen“, sagte die Landtags-Abgeordnete Birte Glißmann (CDU) – und berief sich auf Zahlen des Landeskriminalamts: Demnach habe es zwischen Januar 2018 und November 2020 insgesamt 41 Angriffe auf Mitglieder von Parteien gegeben.

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86 Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger in 2020

Auch in Rheinland-Pfalz kennt man solche Anfeindungen und Angriffe seit Jahren: 2014 verzeichnete die polizeiliche Kriminalstatistik bereits 23 Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger, darunter fallen in der Regel Beleidigungen, Bedrohungen und Nötigungen,  enthalten können darin aber auch Sachbeschädigungen etwa gegen Büros sein. In vier Fällen kam es auch schon damals zu Gewaltdelikten, dabei handelt es sich meist um Körperverletzungen. Bis 2018 sanken die Zahlen zunächst, schnellten aber 2019 wieder mit 48 Straftaten und vier Gewaltdelikten in die Höhe.

Briefwahlunterlagen der Stadt Mainz zur OB-Wahl: Adresse frei haus geleifert. - Foto: gik
Briefwahlunterlagen der Stadt Mainz zur OB-Wahl: Adresse frei haus geleifert. – Foto: gik

Mit der Corona-Pandemie explodierten die Zahlen dann geradezu: 86 Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger zählte die Statistik im Jahr 2020, darunter drei Straftaten. 20212 wurden noch immer 75 Straftaten und vier Gewaltdelikte vermerkt, Zahlen für 2022 nannte das Innenministerium nicht. Thema in der Landespolitik was das auch schon: Auch der rheinland-pfälzische Landtag debattierte im Juli 2021 über das Thema, von „deutlichen Zeichen“ für den Schutz von Kommunalpolitikern war die Rede.

Dabei hatte bereits im April 2021 der Gemeinde- und Städtebund (GdStB) Rheinland-Pfalz gewarnt, Angriffe und Bedrohungen gegen Kommunalpolitiker träfen die Demokratie ins Mark. Der Staat müsse „alles daransetzen“, gerade auch Kommunalpolitiker „vor Angriffen und Bedrohungen im täglichen Leben und im Netz besser zu schützen“, mahnte GdStB-Präsident Ralph Spiegler.

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Körber-Stiftung: Bürgermeister denken über Rückzug nach

Da hatte die Körber-Stiftung gerade eine alarmierende Umfrage veröffentlicht, nach der mehr als die Hälfte der Bürgermeisterinnen und Bürgermeister (57 Prozent) in Deutschland schon einmal beleidigt, bedroht oder tätlich angegriffen worden ist. Die Mehrheit der Befragten (68 Prozent) hatten deswegen sogar schon ihr Verhalten geändert, ein Fünftel dachte gar schon über einen Rückzug aus der Politik nach – aus Sorge um die eigene Sicherheit oder die der eigenen Familie.

Zuständig für eine Änderung des Wahlgesetzes ist der Mainzer Landtag, die ausführende Behörde ist das Innenministerium in Mainz. - Foto: Torsten Silz / Landtag RLP
Zuständig für eine Änderung des Wahlgesetzes ist der Mainzer Landtag, die ausführende Behörde ist das Innenministerium in Mainz. – Foto: Torsten Silz / Landtag RLP

Auf die Mainz&-Anfrage im Mainzer Innenministerium hieß es nun am Freitag: „Es wird derzeit jedoch geprüft, ob zum Schutz der Bewerber anstelle der Anschrift nur der Wohnort mit der Postleitzahl auf dem Stimmzettel angegeben werden soll“, sagte ein Sprecher des Ministeriums.

Auf Nachfrage, wer denn diese Prüfung eingeleitet habe und seit wann, hieß es: Diese Überprüfung „findet im Rahmen der regelmäßig stattfindenden Gesamtevaluation von kommunalwahlrechtlichen Bestimmungen vor allgemeinen Kommunalwahlen statt.“ Da die nächste Kommunalwahlen im Frühjahr 2024 angesetzt sei, „dauert die Evaluation jedoch noch an.“

Info& auf Mainz&: Wir haben natürlich den kompletten Wahlzettel vorliegen, haben die Adressen aber hier für die Veröffentlichung geschwärzt – die Adressen müssen ja nicht auch noch öffentlich im Internet kursieren… Alles zur Oberbürgermeisterwahl in Mainz, die am kommenden Sonntag, den 12. Februar 2023 stattfindet, findet Ihr hier in unserem Mainz&-Wahldossier – auch die ausführliche Vorstellung der Kandidaten samt Video-Interviews. Geht Wählen!