Das ist ein echter Weckruf für die Landtagswahl in Rheinland-Pfalz am kommenden Sonntag: Die Alternative für Deutschland (AfD) ist der große Gewinner der Kommunalwahl in Hessen und kommt in der Wiesbadener Stadtverordnetenversammlung künftig auf um die 16 Prozent. In den rechtsrheinischen Stadtteilen Kastel und Kostheim lag die AfD gar bei um die 20 Prozent. Das ist eine Ohrfeige für die etablierten Parteien. Vor allem die CDU wurde abgestraft: Sie rutschte um 9,2 Prozentpunkte ab. Die SPD ist nun stärkste Kraft, hat aber Probleme, Koalitionspartner zu finden.
Es war ein Erdrutsch, weg von den etablierten Großen, vor allem weg von der CDU. Als am Sonntagabend die Stimmzettel ausgezählt waren, auf denen nicht kumuliert oder panaschiert worden war, ergab sich dieses vorläufige Trendergebnis: Demnach kommt die CDU jetzt nur noch auf 23,5 Prozent (-9,2 Prozentpunkte), die SPD wird mit 24,2 Prozent stärkste Kraft im Stadtrat, verliert aber ebenfalls, und zwar 4,7 Prozentpunkte.
Die Grünen geben ebenfalls 4,7 Prozentpunkte ab und kommen noch auf 14,4 Prozent. Die FDP kann stark zulegen – plus 4,9 Prozentpunkte – und kommt auf 9,9 Prozent. Die Linke holt 2,4 Prozentpunkte mehr und kommt auf für sie gute 6,5 Prozent. Doch eigentlich schielte alles nur fassungslos auf das Abschneiden der AfD: 15,9 Prozent stehen da derzeit zu Buche, damit würde die AfD aus dem Stand 13 Sitze in der Stadtverordnetenversammlung holen.
Trend kann sich noch verschieben – zulasten der AfD
Wohlgemerkt: Vorerst ist das nur ein Trend, doch 2011 war der Trend sehr nah an der späteren Realität. Nur etwa ein Drittel der Wähler nämlich nutzt die Möglichkeit zu kumulieren und zu panaschieren, also Stimmen auf dem Wahlzettel an einzelne Personen und zwischen den Parteien zu verteilen. Diese Stimmen werden erst am Montag ausgezählt. Und darauf ruhen nun die Hoffnungen der etablierten Parteien: Weil sie davon ausgehen, dass die meisten AfD-Wähler einfach die Liste angekreuzt haben, hofft gerade die SPD noch auf Verschiebungen zu ihren Gunsten.
So oder so: Das Abschneiden der AfD wurde allgemein mit Erschrecken und Entsetzen aufgenommen. Dass die Partei mit den völlig unbekannten Köpfen und dem Minimalprogramm nun drittstärkste Kraft in Wiesbaden ist, sorgte für versteinerte Gesichter im politischen Wiesbaden. „Das Abschneiden der AfD muss uns nachdenklich machen“, sagte ein sichtlich angeschlagener Oberbürgermeister Sven Gerich (SPD) am Abend im hr-Fernsehen. Das Ergebnis könne „niemanden zufrieden“ stimmen. Kommunalpolitisch bedingt sei das nicht, war sich Gerich zudem sicher: „Ein solches Ergebnis war im Kommunalwahlkampf überhaupt nicht spürbar“, sagte er, „das hat sich an keiner Stelle abgezeichnet.“
Wiesbadener straften Etablierte ab – vor allem CDU und Dezernent Franz
Tatsache ist aber: Die Wiesbadener machten massiv ihrem Unmut mit den etablierten politischen Parteien Luft, offenbar auch mit der Flüchtlingspolitik. Obwohl die ja nun hauptsächlich im Bund (und in Europa) entschieden wird, liefen die Wähler in Scharen zur AfD, die mit dem Flüchtlingsthema massiv Wahlkampf machte. „Die Flüchtlingssituation hat durchgeschlagen, viele Menschen haben aus Protest AfD gewählt“, räumte der hessische CDU-Generalsekretär Manfred Pentz in der Hessenschau selbstkritisch ein – und das, obwohl sich Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) demonstrativ hinter die Politik von Angela Merkel (CDU) gestellt hatte.
In Wiesbaden dürften denn auch ein paar lokale Themen eine gewichtige Rolle gespielt haben – allen voran der Streit um die neue Reinigungssatzung. Die hatte Ordnungsdezernent Oliver Franz (CDU) seinen Bürgern verordnet, die CDU dürfte dafür nun die Quittung erhalten haben. Nicht umsonst wurde Franz wiederholt selbstherrliches Gebaren vorgeworfen.
Quittung auch an SPD für Stillhalten und Stadtmuseum
Doch auch die Regierungskoalition mit der SPD insgesamt wurde vielfach als abgehoben empfunden – für das Gebaren um das Stadtmuseum und den Verkauf des Grundstücks an der Wilhelmstraße interessiert sich inzwischen der Staatsanwalt. Der Verdacht lautet auf Untreue, weil das Grundstück weit unter Wert verlauft worden sein soll – die Opposition spricht von Gemauschel und Geschiebe zulasten der Stadt.
Und so stellten die Wiesbadener auch der SPD mit einem Minus von fast fünf Prozentpunkten nicht gerade einen Vertrauensbeweis aus – zu oft hatte die SPD in der Großen Koalition der CDU den Rücken frei gehalten. So ließ die SPD Ordnungsdezernent Franz etwa bei der Fällung der Lesselallee auf der Maaraue bei Kostheim freie Hand – OB Gerich befand es nicht einmal für nötig, auf persönliche Appelle an seine Person zu antworten.
CDU-Desaster auch Quittung für Lesselallee
Die CDU von „Fälldezernent Franz“, wie viele in Kostheim bis heute den Ordnungsdezernenten titulieren, fiel bei der Wahl in Kostheim auf 22,9 Prozent ab. Mehr noch: Bei der parallel stattfindenden Wahl zum Kostheimer Ortsbeirat kam die CDU nur noch auf 19,4 Prozent – das war Platz vier (!) der Parteien. Auf Platz 1 im Ortsbeirat steht die SPD mit 30,8 Prozent, die Freien Wähler kommen mit 23,2 Prozent auf Platz zwei und die massiv gegen die Lesselallee-Fällung aktive AUF belegt nun mit 22,3 Porzent Platz drei.
In Kastel ein ähnliches Bild: Im Ortsbeirat ist die SPD mit 37,6 Prozent deutlich stärkste Kraft vor der AUF, die hier auf 26,8 Prozent kommt – erst danach folgt die CDU mit 24,5 Prozent. Die FDP kommt hier auf gute 11,1 Prozent, in Kostheim schafft sie hingegen nur noch 4,4 Prozent im Ortsbeirat. Stadtweit profitieren die Liberalen offensichtlich von der Schwäche der CDU und können deren Protestwähler zum Teil zu sich holen – etwa in Wiesbaden-Sonnenberg, wo sie satte 19,6 Prozent holt.
17,3% für die AfD in Kastel, 20% in Kostheim
Der Großteil der Protestwähler – und das waren viele – aber wandte sich den Rechtspopulisten von der AfD zu: 15,6 Prozent in der Stadtverordnetenversammlung, in manchen Gegenden von Wiesbaden wählten gar bis zu 40 Prozent die AfD. In Kastel votierten 17,3 Prozent für die Rechtspopulisten, in Kostheim waren es gar 20 Prozent. Auch in Amöneburg stimmten 20,8 Prozent für die AfD, hier lag übrigens die SPD mit satten 39,7 Prozent weit vorn, während die CDU auf magere 21,8 Prozent kam.
Grüne: Keine Rezepte, um Fukushima-Hoch zu halten
Die Verluste der Grünen wiederum waren teilweise erwartet: 2011 bescherte ihnen die Atom-Katastrophe von Fukushima wenige Tager vor der Wahl das Rekordergebnis von 19,1 Prozent. Doch Wiesbaden ist nicht Mainz, die Menge der Studierenden zudem deutlich geringer – die Grünen wurden auf ihr Wählerpotenzial vor Fukushima zurückgestutzt, wie ein Politikwissenschaftler am Abend in der Hessenschau sagte. Ganz offensichtlich aber taugen auch die Grünen nicht mehr zur Protestpartei – das dürfte auch eine Folge der schwarz-grünen Koalition auf Landesebene sein.
Die Grünen hätten vor Ort Gegenwind bei der Durchsetzung von Windkraftanlagen, analysierte der Politikwissenschaftler Michael Stoiber im hr – in Wiesbaden heißt das Stichwort: Windräder auf dem Taunuskamm -, auch seien sie vielerorts in der Politik nicht mehr richtig sichtbar gewesen. „Die Grünen müssen zukunftsorieniert neue Themen besetzen“, sagte Stoiber.
Schier unmögliche Koalitionsbildung Dank AfD
Die AfD wiederum schockierte mit ihrem hohen Abschneiden nicht nur das politische Establishment,sie wirbelt auch die Machtverhältnisse in der Stadtverordnetenversammlung durcheinander: Nach der neuen Rechnung käme die SPD auf 20 Sitze, die CDU auf 19, die Grünen auf 12, die FDP auf 8 und die Linke auf 6 Sitze. Vier weitere Kleinstparteien bekämen je einen Sitz – die AfD aber 13 Sitze. In dem 81-Sitze-Parlament bräuchte es nun eine Mehrheit von 41 Sitzen – die aber hat weder die Große Koalition aus CDU und SPD (die damit abgewählt ist), aber auch nicht Rot-Grün, Schwarz-Gelb oder Schwarz-Grün.
Nicht einmal eine rot-gelb-grüne Ampel hätte nach derzeitigem Stand eine Mehrheit, nötig wäre ein Große Koalition plus einem weiteren Partner – ein komplettes Novum – oder gar eine Viererkonstellation. Damit beschert die AfD dem Rat der Stadt eine schier unmögliche Regierungsbildung. Entsprechend groß waren am Sonntagabend Entsetzen und Ratlosigkeit bei den Köpfen der etablierten Parteien. „Wir müssen vielleicht Politik noch mehr erklären“, sagte OB Gerich vage.
In Frankfurt zumindest hatte Oberbürgermeister Feldmann (SPD) eine Erklärung für das Abschneiden der AfD, die hier allerdings „nur“ auf 10,3 Prozent kam: In Frankfurt liege das hohe Abschneiden der Rechtspopulisten an der niedrigen Wahlbeteiligung von nur 37,3 Prozent, meinte Feldmann: „Wenn Demokraten wählen gehen, hätte es dieses Ergebnis nicht gegeben.“
Meinung& auf Mainz&: Das explosionsartige Abschneiden der AfD ist ein Weckruf auf Wiesbaden. Ein ähnliches Ergebnis könnte durchaus am 13. März bei der Landtagswahl in Rheinland-Pfalz drohen, an die zehn Prozent sind durchaus drin. Damit würde die AfD zur drittstärksten Kraft im Mainzer Landtag – es bleibt durchaus fraglich, ob die Wähler sich wirklich klar gemacht haben, was das bedeutet: Fünf Jahre lang rechtspopulistische Themen, fünf Jahre lang Segeln am Rassismus, fünf Jahre lang Debatten über Erzkonservatives bis Irrationales.
Wer am kommenden Sonntag Protest wählt, wacht nicht nur mit der Großen Koalition auf – sondern auch mit einer anderen Republik, in der Andersdenkende massiv angegriffen und Journalisten, Homosexuelle und Anderslebende verunglimpft, ja sogar angegriffen werden. Kurzfristig gibt es dagegen nur zwei Rettungswege: Wählen gehen und andere motivieren, wählen zu gehen. Und in der Wahlkabine das Gehirn einschalten und die Konsequenzen bedenken.
Direkt nach der Wahl aber müssen die etablierten Parteien aufwachen, und das sofort. Schluss mit dem Herumgeeiere bei wichtigen Zukunftsfragen, allen voran der Flüchtlingspolitik und der Integrationsfrage. Schluss mit der öffentlichen Selbstzerfleischung von CDU/CSU und SPD, mit dem „Sau-durchs-Dorf-treiben“ und der gegenseitigen Blockade. All das nützt nur der AfD, weil es Menschen anwidert und verunsichert. Deshalb: Her mit Konzepten und Programmen, mit Integrationsplänen und Bauplänen für Sozialwohnungen.
Und Schluss damit, den Bürger nur als störende Bittsteller zu sehen, als Stimmvieh, das alle fünf Jahre mal seine Stimme abgeben, aber „ansonsten das Maul halten soll“, wie es ein Wähler in Hessen empört am Abend sagte. Nehmt Eure Bürger endlich ernst, hört auf ihre Meinungen, nehmt ihre Ideen und Expertise ernst! Dann klappt es auch wieder mit den Wahlergebnissen – und die rechten Populisten verschwinden von alleine. Der Bürger nämlich hat ein sehr feines Gespür dafür, wann er vera…. also verraten und verkauft wird. Und dieses Mal steht nichts weniger auf dem Spiel als die Werte unserer Republik: Toleranz, Meinungsfreiheit – Demokratie.
Info& auf Mainz&: Die Bürgerinitiative Ludwigsstraße lädt übrigens am Montagabend, den 7. März, um 19.00 Uhr zu einer Diskussionsrunde ins Mainzer Rathaus just zum Thema Transparenzgesetz und Bürgerbeteiligung. Im Mittelpunkt stehen die Fragen, welche Partei nach der Wahl das Informationsfreiheitsgesetz wieder kippen würde und wie sich die Parteien eine Weiterentwicklung der Bürgerbeteiligung vorstellen. Achtung: Ort ist der Hörsaal im Untergeschoss.
Info& auf Mainz& 2: Alle Ergebnisse zur Kommunalwahl in Wiesbaden findet Ihr auf dieser genialen Internetseite mit vielen, vielen Einzelergebnissen. Die Ergebnisse zu den Ortsbeiratswahlen könnt Ihr hier nachlesen. Durch die hessische Landkarte mit allen Ergebnissen der Kommunalwahl landesweit könnt Ihr Euch hier klicken.