Nach dem Polizeieinsatz bei einer rechten Demonstration in Ingelheim gegen die Gegendemonstrationen sind inzwischen bei der Mainzer Polizei 21 Beschwerden von Bürgern eingegangen. Dabei handele es sich um zehn Dienstaufsichtsbeschwerden, sechs „allgemeine Mitteilungen“, vier Anfragen nach dem Landestransparenzgesetz sowie eine weitere Anfrage, die strafrechtlich überprüft werde, teilte die Mainzer Polizei am Freitag mit. Eine Ermittlungsgruppe prüft weiter die Geschehnisse rund um den Einsatz, derweil bekräftigen die an dem Samstag in Ingelheim anwesenden Demosanitäter, dass es tatsächlich zu mehr als 100 Verletzten kam.
Nach dem Polizeieinsatz in Ingelheim war es zu heftiger Kritik an dem Vorgehen der Polizei gekommen, viele Demonstranten berichteten danach von völlig unverhältnismäßiger Gewalt durch Pfefferspray- und Schlagstockeinsatz gegen friedliche Teilnehmer. Scharfe Kritik gibt es zudem an einer Einkesselung in einer engen Tunnel-Unterführung am Ingelheimer Bahnhof, dieser Teil des Einsatzes wurde durch die Bundespolizei geleitet, sie wies vergangene Woche die Vorwürfe zurück.
Im Mainzer Polizeipräsidium prüft derzeit eine Ermittlungsgruppe den Einsatz am Ingelheimer Kreisel. Die Arbeitsgruppe werte derzeit insbesondere die in den sozialen Medien verbreiteten Videosequenzen sowie 150 Minuten eigenes Videomaterial und weitere Daten der Bundespolizei aus, teilte das Polizeipräsidium mit. Die getroffenen Feststellungen würden „sekundengenau beschrieben und in den Ermittlungsakten dokumentiert“, das sei die Grundlage für die abschließende Bewertung und Entscheidung der Staatsanwaltschaft Mainz. Drei Videos wurden inzwischen auch auf dem Hinweisportal der Polizei Rheinland-Pfalz hochgeladen.
Insgesamt gebe es inzwischen 21 Eingaben von Bürgern , darunter zehn Dienstaufsichtsbeschwerden, sechs allgemeine Mitteilungen, vier Anfragen nach dem Landestransparenzgesetz sowie eine weitere Anfrage, die strafrechtlich überprüft werde – worum es dabei geht, teilte die Polizei nicht mit. Aktuell werden weiter drei Ermittlungsverfahren gegen insgesamt sechs Polizeibedienstete geführt. Gegenstand von einem dieser Ermittlungsverfahren sei der polizeiliche Einsatz von Pfefferspray gegen Demonstranten an einer Absperrung im Bereich der Ingelheimer Innenstadt, heißt es weiter. Insgesamt werde fünf namentlich bekannten Beamten Körperverletzung im Amt vorgeworfen, ein Ermittlungsverfahren werde derzeit noch gegen Unbekannt geführt – hier sucht die Polizei weiter einen Beamten, der eine 16-Jährige geschlagen haben soll.
Die Mainzer Polizei teilte weiter mit, man führe eine polizeifachliche Schwachstellenanalyse mit Blick auf die polizeiliche Einsatztaktik an dem Tag durch. Anhand der Handreichung der Deutschen Hochschule der Polizei „Grundlagen des polizeilichen Einsatzmanagements (VS-NfD)“ erfolge „eine intensive Analyse sowohl der Planung als auch der Durchführung des Einsatzes vom 15.08.2020.“
Zu den Geschehnissen bei der einschließenden Absperrung am Kreisel „Römerstraße“ lägen „unterschiedliche Informationen aus verschiedenen Quellen in Wort und Bild vor – insbesondere zur Versorgung und Anzahl von Verletzten sowie Möglichkeiten eine Toilette aufsuchen zu können.“ Die Verifizierung der vorliegenden Informationen sei Gegenstand der laufenden Ermittlungen und damit einhergehender Vernehmungen, die im Rahmen der Ermittlungsarbeit erfolgen.
Derweil kritisierten die an dem Tag anwesenden „Demosanitäter“ der Sanitätsgruppe Süd-West e.V. die Darstellungen der Polizei zu den Verletzten des Tages. „Leider werden immer wieder unsere Verletztenzahlen angezweifelt“, schrieb die Gruppe in einer Stellungnahme auf ihrer Facebookseite: „Dabei sollte klar sein, dass schnell viele betroffen sind, wenn mehrfach Pfefferspray gegen eine Menschenmenge eingesetzt wird.“ Die Polizei habe selbst den Einsatz von Pfefferspray und von Schlagstöcken bestätigt, „beides ist daher unstrittig“, unterstreicht die Gruppe. Im Internet fänden sich diverse Videos, die dies ebenfalls belegten.
Die Sanitätsgruppe, die vorwiegend auf Demonstrationen im Einsatz ist, hatte nach dem 15. August 116 verletzte Demonstranten als Folge des Polizeieinsatzes gemeldet, davon seien 90 Personen wegen des Einsatzes von Pfefferspray behandelt worden, 13 Patienten chirurgisch und eine Person internistisch. „Wie auf Sanitätsdiensten oft üblich führen unsere Teams Strichlisten über die von ihnen versorgten Patienten, die in grobe Kategorien – chirurgisch, internistisch, psychisch, Reizgase – unterteilt sind“, erklärte die Gruppe. Diese Zahlen würden anschließend zusammengetragen und mögliche Dopplungen ausgeschlossen. „Daraus ergibt sich eine Statistik, die Grundlage unserer Veröffentlichungen ist“, so die Erläuterung weiter. Zum Schutz der Identität der Patienten würden keine Dokumente über personenbeziehbare Daten angefertigt.
Die Gruppe der „Demosanitäter“ wurde 1997 im Zuge der ersten Castortransporte mit atomarem Müll gegründet, berichtete die Gruppe gegenüber Mainz& am Rande einer zweiten Demonstration in Ingelheim eine Woche nach dem umstrittenen Einsatz. Jedes Mitglied habe nachgewiesenermaßen eine medizinische Qualifikation, die Spanne reiche vom Sanitätshelfer bis hin zur vollen Berufsausbildung als Notfallsanitäter oder Rettungsassistent, sagte Einsatzleiter Vlatten gegenüber Mainz&. „Wir werden in der Regel von politischen Gruppen angefragt, die eine Kundgebung machen“, berichtete der Rettungsassistent, der gerade sein Medizinstudium abschließt.
In der Regel habe die Gruppe Einsätze bei Ereignissen wie dem G7-Gipfel oder auch bei Blockupy in Frankfurt, der Ingelheimer Einsatz sei eher ein kleiner gewesen, sagte Vlatten weiter: „Wir hatten nicht mit so vielen Verletzten gerechnet, das waren schon ungewöhnlich viele.“ Die Sanitätsgruppe habe sowohl Verletzte aus der Tunnelsituation wie auch im Kessel am Kreisel versorgt. „Wir stehen nah an den Patienten dran, ein Stück weit mitten im Geschehen“, erklärte Vlatten, das sei auch der Unterschied zu regulären Rettungsdiensten. „Wir sind spezialisiert auf die Verletzungen bei Demonstrationen“, seine Gruppe arbeite mitten im Geschehen – so auch an dem 15. August.
„Wir melden uns grundsätzlich bei der Rettungsleitstelle an mit unserem Sanitätsdienst, damit die Bescheid wissen, das haben wir hier auch gemacht“, erklärte Vlatten weiter. Ansonsten arbeite die Sanitätsgruppe weitgehend autark, Zahlen zu geleisteten Hilfeleistungen auszutauschen, sei hingegen nicht üblich: „Die Leitstelle der Rettungsdienste interessiert sich für unsere Zahlen nicht“, sagte Vlatten, „jede Organisationen sammelt ihre eigenen Zahlen.“ Auch die Polizei habe an dem 15. August nicht nach den Zahlen der versorgten Verletzten gefragt – bei der Demonstration eine Woche später erfolgte die Abfrage hingegen. Am 22. August hatten erneut rund 275 Menschen gegen einen zweiten Aufmarsch einer rechtsextremen Gruppe protestiert.
Vlatten kritisierte zudem, die Polizei habe im Nachgang behauptet, die Sanitätsgruppe sei „unkooperativ“ gewesen. „Wir können das nicht nachvollziehen, das entspricht nicht dem, was wir erlebt haben“, betonte er. Seine Einsatzgruppe habe durchaus „eine Handlungsbasis“ mit den Beamten gehabt und auch durchgehend mit ihnen kommuniziert. „Ich verstehe nicht, wie diese Aussage zustande kommt“, sagte Vlatten, „außer man will uns diskreditieren, damit man den Zahlen nicht glaubt.“
Info& auf Mainz&: Mehr zu den Vorwürfen gegen den Polizeieinsatz in Ingelheim lest Ihr hier bei Mainz&, einen ersten Bericht dazu haben wir hier veröffentlicht. Mehr zur Aufklärung und Stellungnahme der Mainzer Polizei lest Ihr hier bei Mainz&. Die Mainzer Polizei hat alle Betroffenen aufgefordert, Anzeigen zu erstatten und Videos und Fotos auf dem Hinweisportal https://rlp.hinweisportal.de/ hochzuladen. Die grüne Innenpolitikerin Pia Schellhammer verweist zudem auf die neutralere Bürger- und Polizeibeauftragte des Landes Rheinland-Pfalz, hier können Bürger Beschwerden über staatliche Stellen einreichen – Barbara Schleicher-Rothmund findet Ihr hier im Netz mit allen Kontaktdaten.