Die Bilder sind bis heute schwer zu ertragen: „Skelette von Menschen kamen mir entgegen. Sie trugen Streifenanzüge, keine Schuhe. Es war eisig kalt.“ Das schrieb der jüdisch-ukrainische Major Anatoli Schapiro, der die Lagertore von Auschwitz öffnete. Es war der 27. Januar 1945, die Rote Armee der Sowjets hatte gerade das Konzentrationslager im heutigen Polen erreicht – und öffnete die Tore zur Hölle. 80 Jahre danach kämpft Deutschland mit einer wachsenden Gleichgültigkeit gegenüber den Verbrechen der Nazis, gegen ein Verblassen der Erinnerungskultur – und gegen wachsenden Antisemitismus. Eine persönliche Analyse von Mainz& zum 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz: So begann es. Und so kann es wieder beginnen.

Die Einfahrt zum NS-Konzentrationslager Auschwitz. - Foto: Bundesarchiv
Die Einfahrt zum NS-Konzentrationslager Auschwitz. – Foto: Bundesarchiv

Es war ein ganz normaler Schultag Anfang der 1980er Jahre. Geschichtsunterricht, Gymnasium, 11. Klasse. Vorne am Pult: eine winzig kleine Frau, vielleicht 1,40 Meter groß, mit dunklem Wuschelkopf, unscheinbar. Bis die ältere Dame ihren Ärmel aufkrempelte, und eine Nummer an ihrem Arm entblößte, eintätowiert für die Ewigkeit. Die Nummer, mit der ihr die Nationalsozialisten ihre Menschlichkeit nahmen, im Konzentrationslager, vor so vielen Jahren.

In den folgenden Minuten hätte man in dem Klassenzimmer in jenem Bonner Gymnasium eine Stecknadel fallen hören können – sie wäre eingeschlagen wie ein Donnerschlag. Den Namen jener Holocaust-Überlebenden habe ich vergessen, ihre Erzählung wird meine Erinnerung nie verlassen: Schonungslos, mit klaren Worten, ohne Hass, aber mit lebendigen Bildern schilderte jene Jüdin das Grauen, das sie in den KZs der Nazis erlebte. Keiner, der dabei war, hat das je wieder vergessen – für mich war es eine Prägung, die zu meinem Geschichtsstudium führte, und letztlich auch zu meinem Beruf als Journalistin.

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Mordmaschine Auschwitz: Eine Million Juden ermordet

„Nie wieder“ ist heute ein Schlagwort geworden, von dem viele nicht mehr recht zu wissen scheinen, was es bedeuten soll. „Nie wieder“ ist das Mantra der deutschen Politik seit 1945. Und doch können nach einer Umfrage des Holocaust Survey aus dem November 2023 auch in Deutschland 18 Prozent der Bevölkerung nicht ein einziges Konzentrationslager der Nazis mit Namen benennen  – in den USA sind das sogar 48 Prozent. In Deutschland aber wissen 26 Prozent Jugendlicher zwischen 18 und 19 Jahren keine einzige Namen eines KZs – und man fragt sich unwillkürlich: Was ist da schief gelaufen?

Die Befreiung des KZ Auschwitz. - Foto: Wikimedia Commons Olga Ignatovich
Die Befreiung des KZ Auschwitz. – Foto: Wikimedia Commons Olga Ignatovich

Die Befreier marschierten von Baracke zu Baracke. Der Wind bedeckte sie mit Asche, der Schnee war schwarz, die Krematorien noch warm. „Wir brauchten fast drei Stunden, bis wir die verminten Tore entschärft hatten. Was ich dann sah, werde ich nie wieder vergessen. Skelette von Menschen kamen mir entgegen. Sie trugen Streifenanzüge, keine Schuhe. Es war eisig kalt.“ So beschrieb der jüdisch-ukrainische Major Anatoli Schapiro, was er bei der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz erlebte. Son zitierte es am Montagabend Landtagspräsident Hendrik Hering bei der Gedenkfeier in Mainz.

Rund 1,1 Millionen Menschen ermordeten die Nationalsozialisten im KZ Auschwitz-Birkenau im heutigen Polen, sie brauchten dazu nicht einmal fünf Jahre. Die große Mehrheit von ihnen, etwa eine Million, waren Juden. Insgesamt fielen dem Rassenwahn und der Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten Schätzungen zufolge 6 Millionen Juden zum Opfer, dazu 250.000 Sinti und Roma und 250.000 Menschen in Behinderteneinrichtungen, 3.000 Homosexuelle , 1.900 Zeugen Jehovas und 70.000 sogenannte „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ – darunter verstanden die Nazis politische Gegner und Andersdenkende, aber auch Wohnungslose.

Mainz 05-Gründer Eugen Salomon in Auschwitz ermordet

Auch aus Mainz wurden Menschen in die Vernichtungslager deportiert, rund 1.131  wurden ab 1942 in mehreren Transporten in den Osten gebracht, nach Theresienstadt und Treblinka, in die Vernichtungslager Majdanek und Sobibor. Darunter auch der Gründer des Fußballclubs Mainz 05, der Mainzer Jude Eugen Salomon, ermordet in Auschwitz am 14. November 1942.

Stolpersteine für die Mainzer Familie Salomon, von den Nazis vertrieben und zum Teil ermordet - wie Eugen Salomon (rechts oben), Gründer des Fußballclubs Mainz 05. - Foto: gik
Stolpersteine für die Mainzer Familie Salomon, von den Nazis vertrieben und zum Teil ermordet – wie Eugen Salomon (rechts oben), Gründer des Fußballclubs Mainz 05. – Foto: gik

Fast 11 Millionen weitere Menschen wie sowjetische Zivilisten, und sowjetische Kriegsgefangene, polnische und serbische Zivilisten fielen ebenfalls dem Nazi-Regime zum Opfer – insgesamt, so neueste Schätzungen, ermordeten die Nationalsozialisten damit zwischen 1033 und 1945 mehr als 17 Millionen Menschen. Rund 1000 deutsche Konzentrations- und KZ-Nebenlager gab es nach 1940, wie Wikipedia weiß, dazu sieben Vernichtungslager mit ihren Gaskammern.

Um die Welt aber gingen die Fotos von der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar 1945 durch die russische Armee: Ausgemergelte, skelettartige Gestalten in gestreifter Sträflingskleidung. Etwa 7.000 Männer, Frauen und Kinder, die kaum noch stehen konnten. Überlebende einer Vernichtungsmaschinerie, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte. Mit deutscher Gründlichkeit und Ingenieurskunst hatten die Nazis systematisch Juden, Andersdenkende und Gegner erschossen, zu Tode geschunden und vergast.

Hering: „Müssen die Erinnerung stärker in eigene Hände nehmen“

„Wie kein anderer Ort stehen die Lager von Auschwitz für den Abgrund der Menschheit. Auschwitz, das war eine monströse Mordmaschine. Jenseits aller Vorstellungen von Moral und Menschlichkeit“, sagte der rheinland-pfälzische Landtagspräsident Hendrik Hering am Montagabend bei der Gedenkfeier des Landtags in der Neuen Synagoge in Mainz. Am 27. Januar gedenkt die Welt der Opfer des millionenfachen Massenmordes, doch das Gedenken wird immer schwieriger – denn diejenigen, die noch davon berichten können, werden immer weniger.

Die Opfer der Nationalsozialisten, geschätzt durch Historiker. - Grafik: Statista
Die Opfer der Nationalsozialisten, geschätzt durch Historiker. – Grafik: Statista

„Wir müssen erwachsen werden. Wir müssen die Erinnerung stärker als bisher in die eigenen Hände nehmen“, mahnte Hering deshalb auch. Die Überlebenden, die so lange die Kraft und den Mut gehabt hätten, die Erinnerung wach zu halten, seien nur noch wenige. „Sie, die Zeitzeugen, haben lange genug diese Last für uns getragen“, sagte Hering, udn erinnerte an den Holocaust-Überlebenden Leon Weintraub, der bei der Einweihung der neuen Mainzer Synagoge vor knapp 15 Jahren mahnte: „Das Schlimmste ist das Vergessen.“

Doch vergessen, das würden heute gerne nicht wenige. Die NS-Zeit sei „nur ein Vogelschiss in der Geschichte“, sagte der frühere AfD-Bundesvorsitzende Alexander Gauland im Jahr 2018 abfällig. Und der Thüringer AfD-Chef Björn Höcke fordert gerne mal eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ und ein Ende des „irren Schuldkults“. Die Debatte um den „Schlussstrich“ unter die Gräuel der Naziherrschaft ist so alt wie das Ende des Krieges – geben kann es ihn nicht: Geschichte kann umgeschrieben werden und verblassen, ausradiert werden kann sie nicht. Die Verantwortung für Massenmord und Rassenwahn bleibt – und genau daraus speist sich das „Nie wieder“ der heutigen Zeit.

„Demokratien unter Beschuss durch Extremisten und Nationalisten“

Aber wie erhält man die Erinnerung an so etwas lebendig, allen wachsenden Abstand zum Trotz? Zum einen, in dem man den Überlebenden weiter zuhört: Wer immer kann, sollte Überlebende in Klassen und zu Veranstaltungen einladen – so lange es sie noch gibt. Danach erlaubt es unsere digitalisierte Welt immerhin, das Gedenken in Film, Ton und Wort weiter lebendig zu halten – aber mehr noch womöglich sind es die Parallelen zu unserer heutigen Zeit, die wachrütteln könnten.

Landtagspräsident Hendrik Hering vor der Synagoge in Mainz. - Foto: Landtag RLP/ Jana Kay
Landtagspräsident Hendrik Hering vor der Synagoge in Mainz. – Foto: Landtag RLP/ Jana Kay

Der Gedenktag der Befreiung von Auschwitz sei „ein Tag, der uns dazu auffordert, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen“, betonte Hering nämlich auch: „Der Holocaust war nicht unvermeidbar. Der Holocaust konnte nur geschehen, weil viele Deutsche daran beteiligt waren – durch aktive Mithilfe ebenso wie durch Unterlassung.“ Denn schon vor der NS-Diktatur, in der Weimarer Republik, erlebte Europa die erste große Krise der Demokratie: Von Portugal über Spanien und Italien bis nach Österreich und Jugoslawien, aber auch in Polen, der Ukraine, Ungarn und Rumänien – „überall standen Demokratien unter Beschuss durch Extremisten und Nationalisten“, zählte Hering auf.

Kommt das nicht bekannt vor? Die Parallelen zur Gegenwart des Jahres 2025 sind erschreckend: Demokratien sind weltweit unter Druck wie seit 80 Jahren nicht mehr. Autokratische Herrscher bauen ihre Einflussbereiche aus, teils gewählt von Menschen, denen die Sehnsucht nach „dem starken Mann“, dem allmächtigen Problemlöser wichtiger sind als Demokratie und Freiheit. Gezielte Hetze und Desinformation, ständig wiederholt und einfach behauptet, gepaart mit, wie Hering aufzählte. „perfiden Methode, Angst zu machen und aufzuwiegeln – sie war schon damals Programm.“

Verleumdung, Hass, Hetze, Ängste schüren: Demokratie untergraben

„Sie prangerten ein Versagen der demokratischen Parteien an. Sie verhöhnten die Institutionen. Sie verleumdeten die Repräsentanten der Demokratie und scheuten dabei auch nicht vor Gewalt zurück. Vor allem aber schürten sie Ängste in der Bevölkerung und befeuerten so den Hass auf die noch junge parlamentarische Republik.“ Klingt schon wieder vertraut? Ist es auch: Die westlichen Demokratien erleben gerade genau das. Und wie 1933 auch schweigen viel zu viele zu diesem Aushöhlen der Demokratie. Beteiligen sich an Hetze und Diffamierungen, am Schüren von Ängsten und dem Untergraben von Pressefreiheit.

In der Neuen Synagoge in Mainz fand am Montagabend das Gedenken an den 80. Jahrestag der Befreieung von Auschwitz statt. - Foto: gik
In der Neuen Synagoge in Mainz fand am Montagabend das Gedenken an den 80. Jahrestag der Befreieung von Auschwitz statt. – Foto: gik

Die Nationalsozialisten „wären noch zu stoppen gewesen, wenn nicht so viele Menschen einfach weggesehen und geschwiegen hätten“, betonte Hering nun: „Das Schweigen der Mehrheit – es war ohrenbetäubend. Und mit diesem Schweigen verschoben sich immer schneller auch die gesellschaftlichen Normen.“

Wie schnell das gehen konnte, beschrieb der Autor Uwe Wittstock in seinem Buch „Februar 33“, auch ihn zitierte der Landtagspräsident in seiner Rede: „Für die Zerstörung der Demokratie brauchten die Antidemokraten nicht länger als die Dauer eines Jahresurlaubs. Wer Ende Januar [1933] aus einem Rechtsstaat abreiste, kehrte vier Wochen später in eine Diktatur zurück.“

Und Hering fügte hinzu: „So begann es damals. Und so kann es wieder beginnen.“

Die Konstanz der Nazi-Ideologie nach 1945: Ein Volk williger Helfer

Denn die Nazi-Ideologie verschwand nicht einfach nach 1945 – sie lebte mit den Tätern weiter, die nach Kriegsende weitermachten fast wie zuvor – oft in hohen Positionen in Gerichten und staatlichen Behörden. Das Bundeskriminalamt legte 2010 nach langen Forschungsjahren eine umfassende Aufarbeitung seiner Geschichte vor, die zeigte: Die braunen Schatten der Vergangenheit reichten weit in die Bundesrepublik Deutschland hinein. Hering wiederum nannte das Beispiel des Pfälzer Ingenieurs Karl Bischoff: „Er war Bauleiter der Krematorien von Auschwitz. Nach dem Krieg ließ er sich in Bremen nieder, als wäre nichts geschehen.“

Bücherverbrennung 1933 auf dem Opernplatz in Berlin - unter tatkräftiger Mithilfe vieler Studenten. - Foto: Bundesarchiv
Bücherverbrennung 1933 auf dem Opernplatz in Berlin – unter tatkräftiger Mithilfe vieler Studenten. – Foto: Bundesarchiv

Ihm und den vielen anderen Helfern der Nazis halfen dabei „eine Justiz, die aus einem Volk von Tätern ein Volk von mehr oder weniger ‚ahnungslosen‘ Gehilfen schuf“, wie Hering berichtete. Aber eben auch eine Gesellschaft die möglichst schnell „Vergessen über die Vergangenheit decken“ wollte – die Nazi-Diktatur sollte als Werk einer kleinen verbrecherischen Clique dastehen, vergessen der Beitrag der Hunderttausenden „willigen Helfer“.

Es waren die Prozesse gegen die Nazi-Schergen von Auschwitz im Jahr 1963, die das Wegsehen beendeten – und die längst überfällige Aufarbeitung der 60er und 1970er Jahre anstießen. Eine Aufarbeitung, die bis heute nicht beendet ist, wie Hering betonte: „Noch 40 Jahre später sind wir blind und taub für so vieles, was vor und nach 1945 bittere Realität war: die Verleugnung eigener Schuld und damit die fortdauernde Demütigung der Opfer.“

Antisemitismus in Deutschland: Verdoppelt und verdreifacht

Und für den immer noch grassierenden Antisemitismus, der heute wieder so stark sein Haupt hebt, wie seit 80 Jahren nicht. In Rheinland-Pfalz hätten sich antisemitische Straftaten von 2022 bis 2023 verdreifacht, sagte der Leiter des Verfassungsschutzes am Montagabend in den SWR-Landesnachrichten. Besonders deutlich wurde das nach dem mörderischen Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 – seither „müssen sich jüdische Bürgerinnen und Bürger auch hierzulande rechtfertigen und schützen“, kritisierte Hering: „Eine Demokratie, in der sich Minderheiten bedroht fühlen müssen, ist keine!“

Verbrannte Israel-Flagge nach dem 7. Oktober 2023 in Mainz. - Foto: Polizei Mainz
Verbrannte Israel-Flagge nach dem 7. Oktober 2023 in Mainz. – Foto: Polizei Mainz

Der Antisemitismus, „den wir heute erleben, ist nicht neu“, betonte Hering weiter: „Im Gegenteil: Er war nie weg. Er ist nach wie vor Teil unserer Gesellschaft und sucht sich seine Wege. Er offenbart sich in einer Sprache, die verschleiert, die diskriminiert oder verlogen ist. Er zeigt sich in Propaganda, er offenbart sich in Lügen unter dem Deckmantel vermeintlicher Meinungsfreiheit, in Hass, Desinformation und Manipulation.“

Doch die Demokratie könne sich wehren: „Es liegt an uns, welche Antwort wir finden: auf die Demokratieverachtung, die uns immer unverhohlener und brutaler begegnet; auf den Rechtsruck, der sich in Deutschland, Europa und weltweit vollzieht“, mahnte Hering: „Darauf kann es für Demokratinnen und Demokraten nur eine Antwort geben: Werdet politisch! Seht hin! Engagiert euch!“

Wer zulässt, dass anderen die Freiheit geraubt wird, der verliert am Ende die eigene Freiheit. Wer zulässt, dass anderen die Würde genommen wird, der verliert am Ende die eigene Würde.

So begann es. Und so kann es wieder beginnen.

Info& auf Mainz&: Mehr zum Thema, wie Worte Sprache und Gedanken vergiften, haben wir 2020 zum 27. Januar aufgeschrieben: „Worte wie Gift und Drogen“. Damals war Donald Trump gerade zum ersten Mal Präsident der USA geworden.

Anmerkung&: Wir haben bewusst für den Text dieses Jahr nur die Rede des der Neutralität verpflichteten Landtagspräsidenten Hendrik Hering zitiert, und alle anderen Wortmeldungen politischer Parteien ignoriert – wir wollten im laufenden Wahlkampf gerade keine selbst-lobenden Worte von Parteien. Wer sich wie gut oder schlecht für die Demokratie engagiert, das entscheidet bitte selbst.