Der Fall des anonymen Briefes mit vehementen Vorwürfen gegen die Mainzer Stadtspitze erschüttert weiter Mainz – ein Hauptgrund dafür: der Brief wurde zwar mit dem Logo der Mainzer Stadtverwaltung, aber gleichzeitig anonym versandt. In vielen Kommentaren sorgt das für große Empörung: Wer etwas aufdecken wolle, solle das nicht anonym tun, das sei schlechter Stil, schimpften viele. Doch so einfach ist die Sache nicht: „In Deutschland wird der Begriff „Hinweisgeber“ leider noch zu oft mit dem Stigma des Denunzianten belegt“, klagt Transparency International, dabei seien die sogenannten „Whistleblower“ wichtige Quellen etwa zur Aufdeckung von Korruption. Die ÖDP und die Freien Wähler fordern nun von der Stadt Mainz, ein internes Hinweisgebersystem zu installieren, das es möglich mache, Hinweise in geschützter Form zeitnah zu melden. In Österreich macht man sehr gute Erfahrungen damit: Dort gibt es seit 2014 ein anonymes Hinweisgebersystem für Wirtschaftsstrafsachen – nur sieben Prozent der gemeldeten Fälle dort waren substanzlos.

Heimlich einen Hinweis auf Korruption oder andere drohenden Straftaten hinterlassen – das ermöglichen anonyme Hinweisgebersysteme. Transparency International fordert solche Systeme gesetzlich vorzuschreiben. – Foto SPD RLP

Der anonyme Brief war vergangenen Dienstag bei verschiedenen Medien sowie bei der Staatsanwaltschaft Mainz eingegangen, auf fünf Seiten werden dort massive und zum Teil sehr detaillierte Vorwürfe von Vetternwirtschaft, Vorteilsnahme und sogar Untreue erhoben. Gerichtet sind die Vorwürfe gegen Oberbürgermeister Michael Ebling (SPD), Bürgermeister Günter Beck (Grüne) sowie gegen leitende Personen verschiedener städtischer oder stadtnaher Gesellschaften.

Die Verfasser geben an, sie seien langjährige Mitarbeiter der Stadtverwaltung, die schon lange von den Verfehlungen wüssten und nun „unserem Gewissen endlich Luft machen“ wollten. Das könne aber nur anonym geschehen, da man große Angst vor negativen Konsequenzen habe. Man hoffe, dass der anonyme Brief für Transparenz und Aufklärung sorge – und habe genau deswegen das Schreiben auch der Staatsanwaltschaft Mainz zugestellt.

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Damit sehen sich die Verfasser des Briefes offenbar in der Tradition von Whistleblowern – und im Gegensatz zu angelsächsischen Ländern, haben die in Deutschland oft einen schweren Stand: „In Deutschland wird der Begriff „Hinweisgeber“ leider noch zu oft mit dem Stigma des Denunzianten belegt“, schreiben die Anti-Korruptions-Kämpfer von Transparency International auf ihrer Internetseite. Dabei spielten Hinweisgeber oft eine wichtige Rolle zur Aufdeckung von Korruption: „Korruption wird weniger durch Prüfungshandlungen als durch Hinweisgeber aufgedeckt, die internes Wissen offenbaren und sich damit dem Risiko aussetzen, wegen ihres Handelns benachteiligt zu werden“, heißt es weiter.

Berühmte Whistleblower in den vergangenen Jahren waren vor allem natürlich Edward Snowden, dessen Enthüllungen über die umfangreichen Abhörmaßnahmen der amerikanischen Geheimdienste 2013 die NSA-Affäre auslöste. Auch Snowden gab seine hochbrisanten Informationen zunächst anonym weiter, veröffentlichte dann aber nach wenigen Wochen selbst seine Identität. Bis heute ist der Whistleblower auf der Flucht und soll an einem geheimen Ort in Russland leben, die USA suchen ihn per Haftbefehl. Aber auch in Deutschland haben Hinweisgeber dazu beigetragen, Skandale publik zu machen: so etwa die Wohnbauaffäre in Mainz 2009 und zuletzt die Affäre rund um den Oppenheimer Bürgermeister Marcus Held (SPD). Auch Helds Geflecht von Vergünstigungen und Gefälligkeiten wurde weitgehend durch anonyme Schreiben aufgedeckt.

Whistleblower sind Mitarbeiter, die Einblick in brisante Akten haben und so Verfehlungen oder gar Straftaten mitbekommen – und diese aufdecken wollen. Transparency fordert, dies als Zivilcourage zu fördern anstatt die Täter zu kriminalisieren. – Foto: gik

Transparency International definiert Whistleblower folgendermaßen: „Hinweisgeber ist, wer Informationen über wahrgenommenes Fehlverhalten in einer Organisation oder das Risiko eines solchen Verhaltens gegenüber Personen oder Stellen offenlegt, von denen angenommen werden kann, dass diese in der Lage sind, Abhilfe zu schaffen oder sonst angemessen darauf zu reagieren.“ Das Problem dabei: In Deutschland gehen diese Menschen meist ein hohes Risiko ein, sie werden verfolgt, gekündigt und stigmatisiert – die Folgen haben sie oft lebenslang zu tragen. „Hinweisgeber sind in Deutschland nur in spezifischen Situationen geschützt, für die Mehrzahl der Beschäftigten ist der Schutz unzureichend“, schreibt Transparency, und weiter: „Nicht ausreichend geschützt sind vor allem Personen, die – zum Beispiel mangels einer internen Möglichkeit – einen Hinweis außerhalb ihrer Organisation platzieren wollen, sei es bei einer Behörde oder den Medien.“ Es herrsche eine hohe Rechtsunsicherheit und die Gefahr von erheblichen Nachteilen am Arbeitsplatz.

Tatsächlich teilte Oberbürgermeister Ebling am Dienstag umgehend als Reaktion auf das Schreiben mit, die Stadt prüfe rechtliche Schritte gegen den oder die Verfasser des Schreibens. Die Freien Wähler warfen Ebling prompt „Drohgebärden“ gegenüber den Verfassern des Briefes vor: „Anstatt schon Gegenschüsse anzukündigen, wäre es doch offensichtlich zunächst sinnvoll, den Vorwürfen nachzugehen und nicht sich in Drohgebärden zu ergehen“, sagte Stadtratsmitglied Kurt Mehler: „Ganz im Gegenteil: ein Oberbürgermeister sollte lieber dafür Sorge tragen, dass seine Mitarbeiter anonym über einen Anwalt Vetternwirtschaft, Parteibuch-Besetzungen, Bestechungen und Vorteilsnahmen melden dürfen.“

Das forderte am Freitag dann auch die ÖDP: Es brauche ein verwaltungsinternes Hinweisgebersystem, das internen Hinweisgebern die Möglichkeit gebe, „Verdachtsfälle zeitnah und geschützt zu melden“, sagte ÖDP-Fraktionschef Claudius Moseler. Ein „Integritäts- und Redlichkeitsmanagement“ – kurz: Compliance-Management – könne in Zukunft dafür sorgen, Skandale zu vermeiden. „Die nun anonym vorgetragenen Vorwürfe sind ein Schlag ins Gesicht der gesamten Stadtverwaltung und aller Kommunalpolitiker“, klagte Moseler. Es bestehe „ein Generalverdacht, dem viele angesichts der bekannten Unregelmäßigkeiten um die verschwundenen Akten im Wirtschaftsdezernat gern Glauben schenken.“

„Die über Nacht entsorgten Akten im Wirtschaftsdezernat unter Herrn Sitte waren anscheinend nur die Spitze des Eisberges“, sagte auch der Spitzenkandidat der AfD für den Mainzer Stadtrat bei der anstehenden Kommunalwahl, Lothar Mehlhose: Im Rathaus herrsche „offenbar ein Klima des Schweigens und der Angst vor Repressalien.“ In Mainz grassiere seit langem Vetternwirtschaft, die Staatsanwaltschaft müsse den Vorwürfen der Günstlingswirtschaft entschieden nachgehen.

Tatsächlich hatten die Verfasser des anonymen Schreibens explizit die Aktenvernichtung im Wirtschaftsdezernat als Vertuschungsaktion bezeichnet und behauptet, damit seien Beleg für Verfehlungen vernichtet worden. Die neue Wirtschaftsdezernentin Manuela Matz (CDU) hatte nach ihrer überraschenden Wahl ins Amt vergangenen Dezember vor leergeräumten Schränken und Computern gestanden, bis heute ist nicht aufgeklärt, wer die Unterlagen und Dateien entfernte. Ebling hatte noch im Februar im Stadtrat gesagt, er wolle den Sonderbericht des Revisionsamtes abwarten.

Was passiert hinter den Kulissen von Rathaus und Verwaltung? Whistleblower können oft wertvolle Hinweise geben, Korruption oder Verfehlungen aufzudecken – Oppenheim war so ein Fall. – Foto: gik

Der Bericht solle „in den nächsten Tagen“ kommen, sagte CDU-Fraktionschef Hannsgeorg Schönig, er sei sehr gespannt auf das Ergebnis: „Egal ob das Diebstahl ist oder das Vorenthalten von Akten, das sind alles Eigentumsdelikte“, sagte Schönig: „Für mich steht fest, dass in dem Bericht strafrechtlich relevante Vorwürfe bestätigt werden müssten“ – das hätten ihm Juristen in Gesprächen bestätigt. „Diese Tatbestände müssen Konsequenzen haben“, fordert Schönig, dazu müsse aufgeklärt werden, welche Motivation hinter dem Vorgang stehe: „Welche Motivation hatte derjenige? Vertuschen? Gab es einen Auftrag?“

„Eine Beteiligungsstruktur mit über 170 Tochterunternehmen der Stadt sowie Grundstücksgeschäfte der Stadtwerke und anderer städtischer Firmen sind anfällig für Bestechung und Vorteilsannahme“, sagt Gerhard Wenderoth, Vorsitzender der Freien Wähler. Informationen von anonymen Whistleblowern seien daher „essenziell für eine transparente Demokratie.“ Erst wenn „klar sei, dass hier lediglich Verleumder am Werk sind, wäre eine strafrechtliche Verfolgung der Urheber notwendig.“

Auch die Mainzer CDU-Chefin Sabine Flegel forderte Aufklärung: „Wir können nur Fakten beurteilen und nicht Spekulationen“, sagte Flegel auf Mainz&-Anfrage, „und wir befinden uns derzeit im Bereich der Spekulationen.“ Sie selbst sei von dem Brief „genauso überrascht worden, wie alle anderen auch. „Die staatlichen Stellen sind gefordert, jetzt Licht ins Dunkel zu bringen“, betonte Flegel. Letztlich müsse eine Staatsanwaltschaft die Vorwürfe bewerten.

Transparency International fordert seit langem eine gesetzliche Pflicht zur Einrichtung von Hinweisgebersystemen für alle Unternehmen, Organisationen und Körperschaften der öffentlichen Hand ab einer bestimmten Größe – vorgeschrieben ist das bislang in Deutschland nur für Firmen der Finanz- und Immobilienbranche. Hinweisgeber im Angestellten- und Beamtenverhältnis müssten besser und vor allem gesetzlich geschützt werden, „damit sie auf Rechtsverletzungen und schwerwiegende Missstände hinweisen können, ohne Sorge um ihren Arbeitsplatz haben zu müssen.“ Dazu gehörten sowohl klare interne und externe (anonyme) Meldewege als auch ein Verbot der Benachteiligung von Hinweisgebern, die in gutem Glauben handelten.

Wer bezahlt wen, wer verfolgt wessen Interessen – ein wesentlicher Aspekt bei der Aufdeckung von Korruption – sowie hier beim Motivwagen des MCV zu den Aktivitäten von Altkanzler Gerhard Schröder (SPD). – Foto: gik

Whistleblower dürften nicht länger kriminalisiert werden, denn sie „unterstützen die Gesellschaft dabei, sich vor illegalen und illegitimen Machenschaften zu schützen, indem sie diese aufdecken“, betont Transparency: „Hinweisgeber müssen geachtet werden. Sie setzen sich unter Inkaufnahme erheblicher persönlicher Risiken für das Gemeinwohl ein.“

In Österreich macht man derweil gute Erfahrungen mit anonymen Hinweisgebersystemen: 2013 führte dort die Staatsanwaltschaft für Korruption und Wirtschaftsstrafsachen ein anonymes Meldesystem im Internet ein. In dem System kam ein Hinweisgeber anonym über einen persönlich eingerichteten Postkasten Hinweise auf Straftaten im Bereich Korruption, Sozialbetrug, Wirtschaftskriminalität oder Geldwäsche hinterlassen, der große Vorteil dabei: die Staatsanwälte können anonym mit dem Hinweisgeber in Kontakt treten und Nachfragen stellen, eine Rückverfolgung der IP-Adresse sei nicht möglich, betont die Behörde.

Die Erfahrungen waren rundum positiv: Nach zwei Jahren meldete die Staatsanwaltschaft, die Whistleblowing-Homepage erleichtere die Aufklärung von Korruptionsfällen und Wirtschaftskriminalität deutlich. Binnen zweier Jahre seien 2.540 Meldungen eingegangen, nur sieben Prozent davon seien substanzlos gewesen. Mehr als 350 Ermittlungsverfahren seien eingeleitet worden, rund 27 Prozent der Hinweise an andere Staatsanwaltschaften weiter geleitet worden – und rund 33 Prozent an Finanzbehörden. Das Modellprojekt wurde daraufhin 2016 dauerhaft verankert. „Die Anonymität der Mitwisser ist notwendig, denn nur so kommen wir an Informationen, die sonst nur schwer zugänglich sind“, heißt es dort. Die Whistleblower-Homepage sei ein echtes „Erfolgsmodell“.

Info& auf Mainz&: Mehr zu den Forderungen von Transparency International in Sachen Hinweisgeberschutz findet Ihr hier bei der Organisation im Internet. Ein anonymes Hinweisgebersystem in Deutschland haben bislang vor allem große Firmen wie Volkswagen oder Daimler, Firmen mit amerikanischen Müttern – und auch die BaFin, die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht. In Städten sind zentrale Anlaufstellen für Korruption noch selten, es gibt sie etwa in Berlin, München oder Nürnberg. Einen Leitfaden rund um das Thema Whistleblowing und Hinweisgebersysteme findet man hier bei Transparency International.

 

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