Update&: Aus aktuellem Anlass wiederholen wir noch einmal unser Porträt des Mainzer Sozialmediziners Gerhard Trabert aus dem Dezember 2019 – die Linke hat Trabert als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten nominiert. Berichterstattung folgt.
„Der Straßen-Doc“ nennen sie ihn in Mainz, seit genau 25 Jahren ist Gerhard Trabert der Mediziner, der zu den Ärmsten der Armen kommt. Seit gut 20 Jahren ist er mit seinem Arztmobil in den Straßen von Mainz unterwegs, einer rollenden Ambulanz in einem umgebauten Sprinter. Gerade feierte sein „Mainzer Modell“ 25-Jähriges, wobei feiern dabei das falsche Wort ist: „Wir arbeiten daran, uns überflüssig zu machen“, sagt Trabert fest, „es ist ein Armutszeugnis für dieses reiche Land, das es so etwas weiter geben muss.“ Gerade wurde er zum Hochschullehrer des Jahres gewählt, seine Erfahrungen hat er gerade in einem neuen Buch aufgeschrieben, der Titel: „Straßen-Doc.“ Doch nicht Trabert steht darin im Vordergrund – es sind die Ausgegrenzten, die Vergessenen, denen er darin Gesicht und Stimme gibt. Und Würde. Höchste Zeit für ein Porträt.
„Wo schlafen Sie denn derzeit?“, fragt Gerhard Trabert seinen Patienten, es ist die Frage, die der Mainzer Arzt an diesem Tag am häufigsten stellt. Es ist Anfang Dezember, die Temperaturen liegen nur knapp über Null, und Trabert macht sich Sorgen: Seine Patienten sind die, die in Hauseingängen sitzen oder im Vorhof der Kirche schlafen, die in der Fußgängerzone betteln oder heimatlos durch die Stadt ziehen. Die Frage nach ihrem Schlafplatz kann in diesen Tagen eine Frage nach Leben oder Tod sein. „Die Container sind offen, gehen Sie da hin“, drängt Trabert.
Etwa 20 Containerplätze biete die Stadt Mainz in der kalten Jahreszeit für Menschen, die kein Dach über dem Kopf haben und auch nicht in eines der Heime für Wohnsitzlose gehen wollen. „Die Stadt stelle die immer erst Anfang Dezember auf“, berichtet Trabert, seine große Freude in diesem Jahr: „Endlich gibt es einen eigenen Container für Frauen, dafür haben wir lange gekämpft.“ Wir sind mit dem Arztmobil in Mainz unterwegs, an den Stationen warten schon die Patienten. In Indien hatte Trabert als junger Arzt in einer Leprastation gearbeitet und das Konzept des „Medical Streetworks“ erlebt: „Ich habe dort erlebt, dass man hinaus in die Community geht, die Menschen aufsucht“, erzählt Trabert, „da habe ich gesagt: Okay, wenn der Patient nicht zum Arzt kommt, kommt der Arzt eben zum Patienten.“
Der Satz wurde zum Lebensmotto des heute 63-Jährigen. Zurück in Deutschland entwickelte Trabert ein eigenes Modell aufsuchender Gesundheitsfürsorge, „Mainzer Modell“ nannte er es – es war die Idee einer mobilen Arzt-Ambulanz. „Das war nicht ganz einfach, es hat gut ein Jahr gedauert“, erzählt Trabert. Er traf auf hilfreiche Behörden und auf viel Skepsis seines eigenen Berufsstandes. Er dürfe doch nicht als Arzt umherziehen und seine Dienste anbieten wie ein Quacksalber im Mittelalter, bekam Trabert zu hören.
„Der ist ein kämpferisches Kerlchen“, sagt der Patient, der geduldig vor dem Arztmobil wartet. Husten haben viele der Patienten, Nervenflattern manche oder juckenden Ausschlag. Trabert fragt nach, verschreibt Medikamente, dreht eine Runde durch die Straßen der Altstadt auf der Suche nach bekannten Gesichtern. „Können wir Ihnen helfen?“, fragt er jedes Mal, „ich bin der Doc.“
Das erste Arztmobil verdankten die Mainzer ausgerechnet Phil Collins und seinem Megahit „Another Day in Paradise“ – Trabert beschreibt die Anekdote in seinem gerade erschienenen Buch „Der Straßen-Doc.“ Das Lied entstand, weil der Musiker jeden Tag auf dem Weg zu seinem Studio an einer wohnungslosen Frau vorbei kam, eines Tages unterhielt er sich mit ihr – und schrieb danach den Song. „Sie ruft dem Mann auf der Straße zu: ‚Sir, können Sie mir helfen‘?“, heißt es in dem Song gleich zu Beginn: „Es wird kalt, und da ist nirgends ein Ort zum Schlafen – wissen Sie, wo ich hingehen kann?“
1997 spendete Phil Collins 200.000 D-Mark aus den Einnahmen für dieses Lied an den deutschen Caritasverband – mit der Auflage, das Geld für die medizinische Versorgung von wohnungslosen Menschen einzusetzen. Trabert hörte davon, stellte umgehend einen Antrag – von den 20.000 D-Mark kaufte er das erste Arztmobil. Inzwischen rollt der dritte Sprinter als Ambulanz durch Mainz, die Schränke rechts und links fassen Patientenakten und unzählige Medikamente. 15.000 Euro finanziert der von Trabert gegründete Verein Armut und Gesundheit pro Jahr an Medikamenten, die der Mediziner kostenlos wohnsitzlosen Menschen gibt.
Die meisten Leistungen rechnet er allerdings offiziell über die Krankenkassen ab: „Ich war der erste, der eine Kassenzulassung hatte“, sagt Trabert: „60 bis 70 Prozent der Patienten können wir zurück ins System holen.“ Das ist sein Anspruch: Auch die Menschen am Rande der Gesellschaft zurückholen, ins System integrieren statt ausgrenzen. „Wir haben immer mehr Patienten, die nicht versichert sind“, berichtet Trabert, dazu gehörten viele EU-Bürger aus den Ostländern, Asylbewerber, aber auch der Privatpatient, der die Beiträge nicht mehr zahlen kann. „Wir würden uns wünschen, dass die Krankenhäuser das mal offensiver mit uns problematisieren“, sagt Trabert, „das ist ja ein strukturelles Problem.“
Der Satz ist typisch für den Mediziner: Trabert wuchs quasi in einem Waisenhaus auf – sein Vater arbeitete als Erzieher dort. Die Erfahrung von Benachteiligung, Ausgrenzung und Ungerechtigkeit prägte den Jungen tief. Trabert studierte zuerst Sozialarbeit, dann noch Medizin, sieben Jahre arbeitete er in einem Alzeyer Krankenhaus, auch als Notarzt, in der Onkologie. 2003 gründete er den Verein „Flüsterpost“ zur Unterstützung krebskranker Kinder, 1997 hatte er schon den Vereine „Armut und Gesundheit“ gegründet, der heute auch eine Ambulanz für Flüchtlinge betreibt und zahllose Sozialprojekte.
Immer aber suchte Trabert nach den Ursachen hinter den Problemen, hinterfragt politische und gesellschaftliche Strukturen von Armut. 1999 wurde er Professor für Sozialmedizin in Nürnberg, wechselte 2009 auf eine Professur in Wiesbaden. Mit seiner Arbeit als Professor, seinen Büchern und Vorträgen mache Trabert eben auch immer wieder „nachdrücklich auf die Kausalität von Armut und Gesundheit aufmerksam“, lobte gerade der Deutsche Hochschulverband – und kürte Trabert zum Hochschullehrer des Jahres. „Wir Akademiker“, sagte der Geehrte, „müssen uns noch viel mehr zu Wort melden und auf Menschenrechtsverletzungen hinweisen.“ Sich einmischen, Menschenrechte verteidigen, Stellung beziehen – Trabert hat das zu seinem Lebensmotto gemacht.
In den Kurdengebieten in Nordsyrien hilft er in Flüchtlingslagern, gründete eine Diabetes-Ambulanz in Kobane, im Mittelmeer hilft er, Flüchtlinge zu retten. „Es gibt keine Obergrenze an Humanität“, sagt Trabert, „ich fühle da eine Verantwortung.“ Und es sei ja nicht so, „dass ich mich da aufopfere, ich empfange auch viel“, betont er. In Berlin gab er Stellungnahmen gegen den Einmarsch des türkischen Präsidenten Erdogan in den Kurdengebieten im Norden Syriens ab: „Das ist eine Katastrophe, ein Kriegsverbrechen“, sagt Trabert, „das will man hier nicht hören – Europa duckt sich weg, weil wir Angst vor Erdogan haben.“ Doch das sei gefährlich, denn durch soziale Ungerechtigkeit entstünden Gewalt und Terror, warnt er, und zitiert Mahatma Ghandi: „Armut ist die schlimmste Form von Gewalt.“
Info& auf Mainz&: Mainz& hat mehrfach über Gerhard Trabert und seine Aktivitäten berichtet, etwa über seinen Einsatz bei der Flüchtlingsrettung im Mittelmeer, über seine Reisen nach Kobane und seine Warnung vor dem türkischen Einmarsch in der Region Rojava, und zuletzt über seine Ehrung als Hochschullehrer des Jahres. Den Verein Armut und Gesundheit findet Ihr hier im Internet.
In dem Buch „Der Straßen-Doc“ lässt Trabert die zu Wort kommen, die keine Stimme haben: Obdachlose, die misshandelte Frau, der Prokurist, der mit dem Job den Halt verlor. Der Ex-Blauhelm-Soldat, der das Töten nicht verwinden kann. Trabert erzählt ihre Geschichten exemplarisch für die Vielen, die dahinter stehen, und er zeigt Strukturen von Armut und Ausgrenzung auf. „Je dichter ich Armut begegnete, umso näher war ich bei den Menschen“, schreibt Trabert, er wolle Betroffenheit durch Informiertheit erzeugen – und die Würde dieser Menschen „mit den Geschichten in diesem Buch zeigen und den Betroffenen erweisen.“ Das Buch ist im Gütersloher Verlagshaus erschienen und kostet 20 Euro – mehr zu dem Buch hier im Internet.