Saß der Mainzer Klaus Bräunig 53 Jahre lang unschuldig für eine Doppelmord in Haft, den er nicht begangen hat? Der frühere Hilfsarbeiter wurde am Mittwoch aus der Haft entlassen, mit 79 Jahren und schwer krank. Klaus Bräunig läuft die Zeit davon, denn sein sehnlichster Wunsch ist vor allem einer: Rehabilitation, die Reinwaschung seines Namens. Denn Bräunig beteuert auch nach mehr als 50 Jahren: Er ist kein Mörder. Die Mainzer Journalistin Marion Mück-Raab recherchiert seit fast 30 Jahren den Fall Bräunig – nun könnten ihre Recherchen eine Wende bringen: Neue Hinweise könnten auf den wahren Täter hindeuten. Doch die Staatsanwaltschaft Mainz verschleppt bislang die Ermittlungen.
Es war in der Nacht vom 12. auf den 13. April 1970, als in Mainz die bekannte Kinderärztin Margot Geimer und ihre Tochter Dorothee ermordet werden. Die Tat erschüttert Mainz zutiefst, die beiden Frauen werden in ihrem Haus in der Nähe des Mainzer Volksparks tot aufgefunden, brutal erstochen von ihrem Mörder. Doch Einbruchspuren findet die Polizei nicht, es gibt keine Hinweise auf den Täter, keine Zeugen – die Ermittler stehen vor einem Rätsel: Wie kam der Täter ins Haus? Kannte er die Getöteten?
Die Tat macht bundesweit Schlagzeilen, die Ermittler stehen unter einem hohen Druck, eine fieberhafte Suche beginnt – fündig wird man vermeintlich im damaligen Milieu der „Spanner“: Männern, die Frauen auflauern und sie beobachten, in Mainz gibt es damals gleich eine ganze „Szene“ dieser Typen. Im Juli 1970 verhaftet die Mainzer Polizei einen Mann: Klaus Bräunig, 26 Jahre alt, ein Hilfsarbeiter aus Mainz. Bräunig wird tagelang vernommen, immer wieder, von mehreren Beamten gleichzeitig unter Druck gesetzt.
Drei Geständnisse, alle Widerrufen, Vernehmung ohne Anwalt
Am vierten Tag gesteht Klaus Bräunig den Doppelmord, vier Tage später widerruft er sein Geständnis. Und gesteht am selben Tag erneut. Und widerruft. Drei Mal geht das so, über Wochen hinweg, so berichtet es die SWR-Dokumentation „Lebenslänglich“. Hat die Mainzer Polizei nun den Mörder gefunden – oder doch nicht? Am 19. Juli 1972 wird Klaus Bräunig zu lebenslanger Haft verurteilt, wegen Doppelmordes an Margot Geimer und ihrer Tochter. Es ist ein von Anfang an umstrittenes Urteil.
Denn der Verurteilte leugnet hartnäckig, die Tat begangen zu haben: Er sei kein Mörder, betont Bräunig, und zwar bis heute. Trotzdem wird er verurteilt, die Grundlage sind allein seine drei Geständnisse, die er allesamt widerrufen hat. Andere Indizien gibt es nicht: Keine Spuren von Bräunig in dem Tathaus, keine Fingerabdrücke. Auch die Tatwaffe wird nicht bei ihm gefunden. Ihn erkennen keine Zeugen, es gibt keinerlei Blutspuren bei ihm – und: kein Motiv. Klaus Bräunig kannte die Toten gar nicht. Wie er in das Haus hineingekommen sein soll, kann er auch bei einem Termin vor Ort nicht sagen.
Die Mainzer Journalistin Marion Mück-Raab hat jahrzehntelang den Fall Bräunig verfolgt und recherchiert. Im Juni 2022 erschien von ihr eine dreiteilige True Crime-Dokumentation in der ARD: Unter dem Titel „Lebenslänglich“ zeichnet Mück-Raab darin gemeinsam mit einem Kollegen minutiös den Fall Bräunig nach, spricht mit Freunden von Bräunig, mit alten Ermittlern. Sie selbst sei zehn Jahre alte gewesen, als die Morde geschahen, erinnert sich Mück-Raab im Gespräch mit Mainz& – die 17 Jahre alte Dorothee ging auf die gleiche Schule. Nun könnten ihre Recherchen dazu führen, dass der Fall neu aufgerollt wird.
Phänomen des falschen Geständnisses unter Druck
„Klaus Bräunig war damals Hilfsarbeiter, ein Gutachten hat einmal einen Intelligenzquotienten von um die 70 bei ihm festgestellt“, sagt Mück-Raab. Damit würde Bräunig zu den Menschen gehören, die eine weit unterdurchschnittliche Intelligenz aufweisen: Der Durchschnitt liegt bei 100. Mück-Raab sieht hier auch einen Hauptgrund, warum Klaus Bräunig die Morde gestanden hat. „Er sagt, er hätte einfach nicht mehr gekonnt, und deshalb alles unterschrieben, was man ihm vorgelegt hat“, berichtet die Journalistin.
Das Phänomen des falschen Geständnisses sei alles andere als neu: „Das gibt es häufig, sagen Fachleute: Menschen gestehen Taten, die sie nicht begangen haben – einfach um der Situation, der sie nicht gewachsen sind, zu entkommen“, erklärt Mück-Raab. Bei Bräunig könnte das durchaus der Fall gewesen sein, zumal der 26-Jährige ohne Verteidiger verhört wurde: „Er wusste nicht, dass er Anrecht auf einen Anwalt hatte“, berichtet Mück-Raab.
Alleingelassen, unter erheblichen Druck gesetzt, der Situation nicht gewachsen, und sich selbst einer Schuld bewusst – war es so? Denn Bräunig gehörte tatsächlich damals zu der „Spanner“-Szene, sagt Mück-Raab: „Dass er Voyeur ist, das hat Klaus Bräunig nie geleugnet“, berichtet sie. Auch seien Pornohefte damals bei ihm gefunden worden. „Aber damit wird er ja nicht zum Mörder“, sagt Mück-Raab. Bräunig sei ein ausgesprochen friedlicher Mensch in der Haft gewesen, ein Anstaltsleiter habe ihr einmal gesagt, es handele sich bei Bräunig „um einen Mustergefangenen“, der in 50 Jahren nicht ein Mal Ärger gemacht habe.
Problem Bräunigs: Tatleugner – und damit nicht resozialisierbar
Warum aber ist der Fall dann nie wieder aufgerollt worden? „Seit den 1970ern haben sich Rechtsanwälte immer wieder mit dem Fall befasst“, berichtet Mück-Raab. Immer wieder hätten Anwälte versucht, eine Wiederaufnahme des umstrittenen Verfahrens zu erreichen, erfolglos. Auch Gnadengesuche und Verfassungsgerichtsbeschwerden blieben ergebnislos. Bräunigs Problem: „Er gilt als Tatleugner“, sagt Mück-Raab, „und damit hieß es, er setze sich nicht mit seiner Tat auseinander, also kann man ihn auch nicht resozialisieren.“
Also bleibt Bräunig in Haft – und das mehr als 50 Jahre lang. Allein das ist fragwürdig: Eine lebenslängliche Haft dauert in Deutschland im Schnitt in der Regel um die 20 Jahre, doch Bräunig sitzt und sitzt und sitzt. Viele Freunde, ja auch Gefängniswärter hätten ihm gesagt: „Gesteh‘ doch einfach, es ist doch ohnehin egal“, berichtet Mück-Raab: „Aber Klaus hat das immer abgelehnt.“ Bräunig hält eisern fest an zwei Gedanken: Er will nicht in der Haft sterben. Und er will, dass sein Name vom Vorwurf des Mörders reingewaschen wird.
Vor sechs Jahren bekommt er endlich Hafterleichterung, Bräunig wird Freigänger. 14 Stunden pro Woche darf er die Haft verlassen. Er besucht regelmäßig alte Freunde, fährt mit der Bahn, baut sich ein Leben außerhalb der Haft auf. Doch dann wird Bräunig schwer krank – und landet wieder im geschlossenen Vollzug: Man kann ihn im offenen Vollzug nicht pflegen. 2022 nimmt sich eine neue Anwältin seines Falls an: Die Münchner Rechtsanwältin Carolin Arnemann ist Expertin für Wiederaufnahmeverfahren, sie will, dass der Fall Bräunig wiederaufgerollt wird.
Haftentlassung – und neue Hinweise auf einen anderen Täter
Und Arnemann zieht vor das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe und klagt auf Haftentlassung Bräunigs: Es sei völlig unverhältnismäßig, den alten Mann nach 50 Jahren noch immer in Haft zu behalten, argumentiert sie – und bekommt Recht: Das Bundesverfassungsgericht urteilt im März dieses Jahres, dass das Landgericht in Koblenz die Haft erneut prüfen muss. „Ein neues psychiatrisches Gutachten kam zum Schluss, es gebe keinerlei Anhaltspunkte für eine Gefährlichkeit Bräunigs“, berichtet Mück-Raab.
An diesem Mittwoch, dem 20. September, wird Klaus Bräunig aus der Justizvollzugsanstalt Diez entlassen, mit 59 Jahren. Die Entlassung folgt „auf Bewährung“: über seine Schuld oder Nicht-Schuld hatte Karlsruhe nicht entschieden. Das kann nur ein Wiederaufnahmeverfahren, und genau das sei im April 2023 von Bräunigs Anwältin beantragt worden, berichtet Mück-Raab weiter. Eine Ergebnis gibt es bisher nicht, ein Grund dafür: Die Staatsanwaltschaft Mainz müsste neuen, dringenden Verdachtsmomenten nachgehen, doch die Staatsanwaltschaft Mainz mauert.
„Nach der Ausstrahlung unserer Dokumentation im Sommer 2022 hat sich bei mir persönlich jemand gemeldet, und mir Hinweise auf einen möglichen anderen Täter gegeben“, berichtet Mück-Raab gegenüber Mainz&: „Es gibt einen ganz konkreten Verdacht, dass der Täter im Mordfall Geimer auch der Mörder in einem anderen Fall sein könnte: ein Doppelmord 1984 in Mainz-Hechtsheim.“ Es gebe mehrere sehr konkrete Hinweise darauf, die auf einen anderen Täter wiesen als Klaus Bräunig – ein Täter, der zwölf Jahre später erneut mordete. Zu einer Zeit, als Bräunig schon längst im Knast saß.
Verbindung zu zweitem Doppelmord in Mainz-Hechtsheim 1984?
Die Ergebnisse ihrer Recherchen hat Mück-Raab in einem vierten Teil der True Crime-Doku verarbeitet, er erschien im Sommer dieses Jahres. Danach geschah 1984 in Mainz-Hechtsheim ein weiterer Doppelmord, dieses Mal an einer Mutter mit ihrem bereits erwachsenen Sohn, einem Lehrer. Wieder findet die Polizei keinerlei Spuren am Tatort, wieder wurde nicht eingebrochen und auch nichts gestohlen. Dieses Mal werden die Opfer erschossen.
Ein Revolver mit dem gleichen Kaliber aber wurde 1972 im Hause Geimer in der Mordnacht gestohlen – ein Revolver der Marke Smith & Wesson. Es ist dasselbe Kaliber – ist es womöglich auch dieselbe Waffe? Ein weiterer Zeuge berichtet Mück-Raab ausführlich über die Persönlichkeit des neuen Verdächtigen: Der mögliche Täter war ein aufbrausender Mann, aggressiv gegenüber Frauen. Er liebte Sportwagen, er besaß mehrere Waffen – darunter auch zwei Smith & Wesson-Revolver. War einer davon womöglich die Tatwaffe von 1984, der Revolver, der bei Geimers gestohlen wurde?
Mehr noch: Der Mann kannte sowohl den Lehrer aus Hechtsheim, als auch Dorothee Geimer – er habe damals zu ihrem Freundeskreis gehört, das verrate Dorothees Tagebuch, so Mück-Raabs Recherchen. Am Wochenende vor dem Mord besuchten sie gemeinsam ein Konzert, „und wie Dorothee handelt er mit Drogen“, heißt es in der Dokumentation. Auch habe der Mann ein Interesse an Dorothee gehabt, sei aber abgewiesen worden. Verletzte Eifersucht – das wäre ein Motiv, ein Motiv, das Klaus Bräunig nicht hatte: Er kannte die Ermordeten gar nicht, kann nicht angeben, wie er in ihr Haus gekommen sein soll.
Neuer Verdächtiger: Schlüssel, Bekanntschaft – und ein Motiv
Der neue Verdächtige hingegen besaß Zeugen zufolge sogar einen Schlüssel zu dem Haus in Mainz-Hechtsheim – und auch vom Haus der Geimers wird sechs Monate später ein Hausschlüssel gefunden, im Garten des Hauses. Der Hechtsheimer Lehrer wollte just zu dem Zeitpunkt des Mordes einen roten Sportwagen verkaufen – war der Mörder unter den Interessenten? War es derselbe, der zwölf Jahre zuvor die Geimers tötete? Bräunigs Anwältin hält den neuen Zeugen für glaubwürdig, die Hinweise für stichhaltig.
„Diese Hinweise liegen der Staatsanwaltschaft Mainz seit Anfang des Jahres vor“, betont Mück-Raab – geschehen sei indes: nichts. Von Seiten der Staatsanwaltschaft Mainz bekommt die Journalistin monatelang dieselbe Antwort: Der Fall werde geprüft, eine Entscheidung über Ermittlungen sei noch nicht getroffen worden, die Prüfung der Hechtsheimer Akten dauere noch an. Der mögliche andere Täter kann nicht mehr befragt werden: Anfang der 200er Jahre erschießt er im Affekt erst seine Frau und dann sich selbst.
Der Verdächtige gehörte sogar zu den Personen, die 1970 im Visier der Polizei waren – warum gingen die Ermittler dieser Spur nicht mit Nachdruck nach? Die Strafverfolgungsbehörden sind zudem verpflichtet, Ermittlungen wiederaufzunehmen, wenn neue Tatsachen oder Beweise auftauchen, die zu einem Freispruch oder einer Milderung einer Strafe führen könnten. „Ich bin der Auffassung, dass es ausreichend Verdachtsmomente gibt, denen man nachzugehen hat“, betont Mück-Raab: „Aber der Zeuge, den wir den Ermittlern genannt haben, ist bis heute nicht vernommen worden.“
Vorwurf: Spielt die Staatsanwaltschaft Mainz auf Zeit?
Die Dokumentation stellt denn auch die Frage: Spielt die Staatsanwaltschaft Mainz auf Zeit? Wartet man, bis der schwerkranke Bräunig stirbt – und das „Problem“ sich so von alleine löst? Schließlich steht der Vorwurf eines handfesten Justizskandals im Raum,. falls Bräunig wirklich 53 Jahre lang unschuldig im Gefängnis gesessen haben sollte. Bräunig wolle weiter kämpfen, sagt seine Anwältin Arnemann, auch Mück-Raab betont: „Er will einen Freispruch, das ist sein Ziel. Wäre er vor 20 Jahren freigekommen, mit 59 Jahren, dann hätte er noch etwas vor sich gehabt.“ Nun bleibt Klaus Bräunig womöglich nicht mehr viel Zeit.
„Warum es so lange dauert, bis die Ermittlungsbehörden hier in Gang kommen, kann ich nicht nachvollziehen“, kritisiert Bräunigs Anwältin Arnemann in der ARD-Doku deutlich. Denn Zeit bleibe Bräunig angesichts seines Alters und Gesundheitszustands nun gerade nicht mehr. „Wir reden hier über jemanden, der seit knapp 53 Jahren in Haft sitzt“, betont Arnemann: „Da fehlt mir, offen gestanden, jedes Verständnis, warum es so lange dauert, bis man hier auch nur mal anfängt, diesen Hinweisen nachzugehen.“
Info& auf Mainz&: Die ganze True Crime-Doku „Lebenslänglich“ über den Fall Klaus Bräunig findet Ihr in der ARD-Mediathek, einen Text des SWR dazu lest Ihr hier. Den vierten Teil, der die alternative Tätertheorie schildert, könnt Ihr hier in der Mediathek ansehen.