Dramatischer Abend in Mainz: Ein zusätzlicher ehrenamtlicher Wirtschaftsdezernent in Mainz ist wohl vom Tisch, die Ampel-Koalitionäre Grüne, SPD und FDP beschlossen am Donnerstagabend Nachverhandlungen zu genau diesem Punkt. Es soll geprüft werden, wie die FDP anderweitig als bislang im Koalitionsvertrag vorgesehen im Stadtvorstand vertreten sein könne, beschlossen alle drei Parteien auf getrennten Parteitagen. Den entscheidenden Vorschlag machte FDP-Altmeister Rainer Brüderle, „das hat uns gerettet“, hieß es am Abend. Zugleich nahmen aber auch alle drei Parteien mit großer Mehrheit den gemeinsam verhandelten Koalitionsvertrag an – die umstrittene Passage inklusive.
Der dramatische Abend begann zunächst noch mit Beharrungsversuchen. „Wir haben einen Koalitionsvertrag vorgelegt, der eine gute Richtung aufzeigt und auch eine liberale Handschrift trägt“, betonte FDP-Parteichef David Dietz um kurz nach 18.00 Uhr auf dem Parteitag der Mainzer FDP. Das Werk sei ein gemeinsamer Vertrag, mit dem die Ampel in ihrer dritten Auflage die Stadt gut weiterentwickeln könne. Gleichzeitig verteidigte Dietz aber auch explizit den Plan von Grünen, SPD und FDP, ein zusätzliches neues Wirtschaftsdezernat zu schaffen, das von der FDP besetzt würde und Kompetenzen in erheblichem Ausmaß von der derzeitigen hauptamtlichen Wirtschaftsdezernentin Manuela Matz (CDU) abziehen würde.
„Wir müssen neue Antworten liefern, wir glauben, man muss die Wirtschaftsförderung auf neue Füße stellen“, wiederholte Dietz seine Argumente der vergangenen Wochen. Die FDP wolle eine Bedarfsanalyse auf den Weg bringen und eine Organisationsuntersuchung starten, „um tatsächlich neue Wege beschreiten zu können“, sagte Dietz und fügte dann hinzu: „Das hat erwartbar Wellen geschlagen.“ Die FDP habe aber eben auch „den Anspruch, in der Exekutive mitgestalten zu können“, betonte Dietz, „auf kommunaler Ebene kann man nur auf dieser Ebene Politik gestalten.“
Und dann verkündete der FDP-Chef überraschend: „Ich möchte Druck herausnehmen und werde mich deshalb nicht für das Amt eines neuen Dezernenten bewerben.“ Der Plan für einen zusätzlichen Dezernenten im Ehrenamt hatte zu einem Sturm der Entrüstung geführt, gerade erst war eine Online-Petition dagegen ins Leben gerufen worden. In der Mainzer Politikszene war zudem spekuliert worden, der Dietz selbst wolle nach dem Posten greifen. Der sagte nun, für ihn sei wichtig, dass die Koalition erfolgreich werde, seine Ankündigung, für den Posten nicht zur Verfügung zu stehen, werde „hoffentlich zur Versachlichung der Debatte beitragen.“ Wen die FDP stattdessen für den Posten vorschlagen wolle, sagte Dietz hingegen nicht, man werde „mit einer geeigneten Persönlichkeit“ in das Amt gehen.
Dann verteidigte zunächst der FDP-Vorstand die Inhalte im Koalitionsvertrag. Man habe erstmals Gewerbegebiete als Daseinsvorsorge einer Stadt verankert und erreicht, dass Potenzialflächen geprüft würden, lobte Franz Ringhoffer. Dazu habe die FDP verhindert, dass zu sehr in die Höhe gebaut und die Pfunde der Mainzer Stadtgeschichte erhalten und attraktiv aufbereitet werden. Die FDP habe eine pauschale Anhebung der Parkgebühren um 30 Prozent verhindert und einen Ausbau der Knotenpunkte entlang der Rheinhessenstraße samt Vorrecht für den ÖPNV verankert, sagte MVG-Geschäftsführer Jochen Erlhof: „Das war alles andere als einfach.“ Auch den künftigen „Chief Information Officer“ für Digitales sowie eine internationale Schule und ein Gymnasium in Mombach reklamierte die FDP für sich.
In der Aussprache dann aber wurden die ersten Mitglieder deutlich: „Wo ist der Leuchtturm der FDP für die nächsten vier Jahre? Wo ist das Projekt der FDP, das mindestens so sinnvoll ist wie das der anderen Parteien?“, sagte ein Mitglied, „ich sehe da nichts.“ Nach mehr als einer Stunde jedoch kam plötzlich eine völlig andere Dynamik in den Parteitag. Es begann mit einer Wortmeldung des früheren FDP-Bundeswirtschaftsministers Hans Friderichs. „Wir brauchen im Augenblick keine zusätzlichen Probleme in der Öffentlichkeit“, hob er an, die FDP brauche eine kompetente Vertretung in der Stadtverwaltung – aber das müsse „eine Persönlichkeit sein, die uns weitere peinliche Debatten erspart“. Das müsse jemand mit Format und wirtschaftlichem Sachverstand sein, eine Person, „die nicht gegen die andere Dezernentin arbeitet“, betonte Friderichs.
„Denn seien wir uns mal klar“, sprach Friderichs Klartext: „Die FDP hat diese Dezernentin mit auf den Weg gebracht, und zwar durch die Art und Weise, wie ein freier Demokrat seine Funktion aufgegeben hat.“ Die jetzige Dezernentin sei auf demokratischem Weg ins Amt gekommen, betonte er, es sei doch endlich mal Zeit in Mainz, „dass man sich gemeinsam um Sachfragen kümmert.“ Friderichs schlug auch vor, ob man nicht durch einen „digitalen Faktor“ dem Amt einen andere Richtung geben und so einen echten Digitalisierungsfachmann installieren könne.
Es war ein Dammbruch: „Ich bin stinksauer über dieses Ding, ich kann das nicht verteidigen“, sagte SWR-Justiziar Hermann Eicher und wetterte: „In meinem Umfeld ist diese Entscheidung eine Katastrophe, ich weiß nicht, wie viele Leute mir gesagt haben, ‚von mir kriegt die FDP keine Stimme mehr, das hat sich erledigt.'“ Es gebe für die Schaffung dieses Postens keinerlei inhaltliche Begründung im Koalitionsvertrag. „Man kann ja nicht hingehen und sagen: da passt uns diese Person nicht, da stellen wir eine andere daneben“, schimpfte er und empfahl: „Überlegen Sie noch mal, was Sie da machen – es wird nämlich die Wirkung haben, dass die FDP bei der nächsten Wahl die Quittung bekommt.“
Ein Wirtschaftsdezernat ehrenamtlich führen zu wollen, „das ist absurd“, schimpfte daraufhin ein weiteres älteres FDP-Mitglied: „Für mich ist die Situation sehr, sehr bedenklich, das blamiert die FDP bis auf die Knochen.“ Auch er erlebe in seinem Umfeld, dass diese Entscheidung „eine derartige Ablehnung“ produziere. „Der derzeitigen Dezernentin etwas abzuschneiden, das vollzieht keiner nach“, sagte daraufhin Wolfgang Petereit: „Herr Dietz, Sie sind auf dem Holzweg.“ Es habe sich eine breite Front von Menschen gegen diese Idee gebildet, „da richtet sich eine breite Meinung gegen uns – das darf nicht sein.“
„Wir sind in ein klassisches Danaergeschenk hineingeraten“, polterte ein weiteres Mitglied, die SPD versuche doch, „das Problem der ungeliebten Dezernentin im Stadtvorstand an die FDP outzusourcen – und wir sind so blöd, dass wir dieses Geschenk annehmen.“ Man wolle in Zukunft ja vielleicht auch noch mal mit der CDU koalieren, gab der FDP-Mann zu bedenken und konstatierte: „Das versteht in meiner Umgebung keiner, wer ein Parteibuch hat, hat es bereits auf dem Tisch liegen – um es zu zerreißen.“ Parteichef Dietz indes wehrte sich noch immer: Er glaube, dass es „gut wäre für die Stadt“, wenn die FDP weiter für die Wirtschaftsförderung zuständig sei, sagte er und betonte: „Wir sind mit völlig anderen Ideen da reingegangen“, dann aber habe man der FDP diese Variante angeboten. „Über den Weg bin ich gerne bereit, mit den Koalitionspartnern zu diskutieren“, bot Dietz an.
Doch die Kritik ebbte nicht ab: „Die Außenwirkung, die wir durch diesen Vorstoß bekommen haben, ist katastrophal“, sagte der Vizepräsident des Handelsverbandes Deutschland, Jan Sebastian, aus Einzelhandel und Handwerk höre er die Ansage: „Wenn ich das in irgendeiner Form verhindern kann, solle ich das tun.“ Im Koalitionsvertrag stehe nichts über eine Aufstockung der Wirtschaftsförderung, eine neue Umstrukturierung werde wieder ein bis 1,5 Jahre dauern – die Außenwirkung, wenn die FDP mit dieser Vorgeschichte das Amt übernehme, wäre verheerend. Dass die FDP im Stadtvorstand vertreten sein wolle, sei absolut verständlich, betonte Sebastian: „Aber nicht auf diese Art.“
Den rettenden Vorschlag machte schließlich Rainer Brüderle: „Wenn man regiert, muss man auch in der Regierung sein, das halte ich für zwingend“, hub der frühere Bundeswirtschaftsminister der FDP und heutige Präsident des Steuerzahlerbundes an, aber es gebe da noch eine andere Lösungsmöglichkeit: Die FDP sei nämlich schon einmal in der Koalition, nicht aber im Stadtvorstand vertreten gewesen, damals habe einfach ein Mitglied der Stadtratsfraktion die Partei im Stadtvorstand vertreten. „Wenn ein Mitglied unserer Stadtratsfraktion diese Aufgabe wahrnimmt, ist der Informationsfluss gewährleistet und die FDP kann an Diskussionsprozessen mitwirken“, argumentierte Brüderle: „Aber man zerreißt nicht den Stadtvorstand und es entstehen auch keine zusätzlichen Aufwendungen.“
Damit war klar: der Vorschlag eines ehrenamtlichen Wirtschaftsdezernenten würde keine Zustimmung mehr bekommen, die FDP beschloss daraufhin, den Koalitionsvertrag unverändert abzustimmen – man könne das Werk ja schließlich nicht im Alleingang ändern. Mit acht Gegenstimmen und sechs Enthaltungen wurde der Koalitionsvertrag dann angenommen, aber gleichzeitig der Parteivorstand beauftragt, noch einmal mit den Partnern zu sprechen, wie der Weg einer FDP-Beteiligung im Stadtvorstand gestaltet werden könne.
Derweil hatten die Grünen ein ganz ähnliches Problem: Auch auf ihrem parallel stattfinden Parteitag in den Räumen der Bonifaziuskirche in der Mainzer Neustadt gärte es. Bei den Grünen gab es zwar viel Freude über die Inhalte des Koalitionsvertrages – aber auch einen Gegenantrag. Gleich 13 Parteimitglieder forderten in einem Antrag die Streichung des umstrittenen Passus zum ehrenamtlichen Wirtschaftsdezernenten – ansonsten „bedauern wir sehr“, dem Vertrag die Zustimmung verweigern zu müssen, hieß es in dem Antragstext. Zur Begründung gaben die Unterzeichner – darunter etwa Altstadt-Ortsvorsteher Brian Huck, die ehemalige Behindertenbeauftragte Marita Boos-Waidosch oder altgediente Grüne wie Matthias Gill und Ute Wellstein – an, der Vorschlag werde von den Wählern nicht gutgeheißen, sondern mit Kopfschütteln quittiert und „als Ausdruck der Selbstbedienungsmentalität“ von Politikern gesehen – das werde auf die Politik insgesamt zurückfallen.
Dagegen jede Kritik ersticken zu wollen, „das ist doch Basta-Politik“, schimpfte Renate Ammann, es könne doch nicht sein, „dass ihr der FDP ein Dezernat in den Rachen werft und eine Dezernentin für 8000 Euro zum Bleistiftspitzen verdonnert.“ Der Dezernatszuschnitt laufe über den Oberbürgermeister, „man hätte sehr wohl andere Dezernatszuschnitte fordern können“, auch um dem grünen Wahlsieger mehr Kompetenzen zu geben, schimpfte Ammann. Es war gegen 21.00 Uhr, als sich Ratlosigkeit breitmachte und Grünen-Chefin Katharina Binz konstatierte: „Das ist ein gemeinsam verhandeltes Dokument, und das gilt nur so“ – ändern könne man es nicht.
Just in diese Situation aber platzte die Nachricht von der Abstimmung bei der FDP: „Wir haben jetzt folgende Situation“, sagte Parteichef Christian Viering sichtlich perplex: „Die FDP möchte Gespräche führen, ob es eine Möglichkeit gibt, dass die FDP im Stadtvorstand vertreten sein könnte, ohne ein zusätzliches Dezernat mit festem Geschäftsbereich zu haben.“ Daraufhin beauftragte der Parteitag mit großer Mehrheit die Steuerungsgruppe der Grünen, mit SPD und FDP erneute „Gespräche zu führen, wie die FDP anderweitig als im Koalitionsvertrag festgelegt, im Stadtvorstand vertreten sein kann.“ Daraufhin nahm der Grünen-Parteitag den Koalitionsvertrag bei zwei Enthaltungen an.
Heftige Debatten um das Thema gab es derweil auch bei den Sozialdemokraten, die zeitgleich im Erbacher Hof tagten: Die Entscheidung für den zusätzlichen Wirtschaftsdezernenten sei „nicht vermittelbar“, schimpften SPD-Mitglieder, auch wenn sich hier kein Nein zum Koalitionsvertrag abzeichnete. „Es gab Widerstand, wir hätten eine Reihe von Gegenstimmen bekommen“, sagte SPD-Chef Johannes Klomann. Kurz vor der Abstimmung bei der SPD sei dann die Nachricht von den Ereignissen bei der FDP gekommen – daraufhin nahm der SPD-Parteitag den Koalitionsvertrag mit einer Gegenstimme und sieben Enthaltungen an.
„Ich interpretiere das so, dass der Punkt noch offen ist, und wir darüber diskutieren werden“, sagte Klomann im Gespräch mit Mainz&, „wir heißen den Vorschlag Willkommen.“ Die SPD sei mit dem Koalitionsvertrag „sehr zufrieden, weil wir sehr viele sozialdemokratische Inhalte umgesetzt haben“, sagte Klomann. Dazu gehörten vor allem die SPD-Herzensanliegen von 2000 neuen Kitaplätzen und 6000 zusätzlichen Wohnungen sowie eine Milieuschutzsatzung für Altstadt und Neustadt. „Wir wagen uns auch daran, etwas zu regulieren“, sagte Klomann, „es war auch klar, dass die FDP uns bei vielen Themen entgegengekommen ist.“ Die Neuverhandlungen jetzt sei „die perfekte Exit-Strategie“, sagte Klomann erleichtert: „Rainer Brüderle hat uns gerettet.“
Info& auf Mainz&: Mehr zu den Plänen eines ehrenamtlichen Wirtschaftsdezernenten könnt Ihr hier bei Mainz& noch einmal nachlesen, dort haben wir auch Inhalte aus dem Koalitionsvertrag aufbereitet. Kritik am Unternehmen ehrenamtlicher Wirtschaftsdezernent kam unter anderem aus der Unternehmerschaft, das könnt Ihr hier nachlesen.
Info& auf Mainz&: Dieser Text hier ist übrigens ein sogenannter Korrespondentenbericht, in den neben den harten Fakten und „News“ auch Eindrücke vom Abend sowie Situationsbeobachtungen einfließen. Ein Kommentar ist das ausdrücklich jedoch nicht.