Ihr erinnert Euch an das geheime Gutachten zu den Auswirkungen einer möglichen ECE-Shopping-Mall an der Mainzer Ludwigsstraße? Nun, das Gutachten ist nicht länger geheim – es liegt auf unserem Schreibtisch. Und es wurde heute im Mainzer Wirtschaftsausschuss besprochen. Zündstoff bietet es genug, denn die Gutachterfirma Bulwiengesa analysiert auf 169 Seiten detailliert, welche Auswirkungen eine Shopping Mall an der LU auf den umgebenden Einzelhandel hätte. Das Ergebnis: gravierende.
Die Mall würde, so das Gutachten, bis zu 70 Prozent des Umsatzes bei den umliegenden Einkaufszonen abziehen. Und noch eine schlechte Nachricht: Die Mall würde nur eine verschwindend geringe Menge von Umsatz aus Wiesbaden, Frankfurt und dem rheinhessischen Umland nach Mainz holen: ganze 1,9 Prozent wären in Sachen Bekleidung aus Wiesbaden zu holen.
Gutachten vom Oktober 2014 unbekannt – BI: sollte unter Verschluss gehalten werden
Die Bürgerinitiative Ludwigsstraße hatte das Gutachten öffentlich gemacht, und zwar schlicht durch ein Transparenzverfahren per Gesetz: Die BI beantragte einfach Akteneinsicht nach dem Informationsfreiheitsgesetz, das die Stadt gewähren musste. Und in den Akten fand die BI eben diese „Auswirkungsanalyse“ des „Innerstädtischen Einkaufsquartiers Ludwigsstraße.“ Das Papier stammt bereits vom Oktober 2014 – und war bisher völlig unbekannt.
Die Stadtverwaltung habe das Papier „unter Verschluss gehalten“, urteilte dazu die BI. „Man hatte Angst vor der Öffentlichkeitswirkung“, sagte BI-Sprecher Hartwig Daniels am Dienstagabend Mainz&. Das Papier prognostiziere eine deutliche Umverteilung, die zulasten der bisherigen Einzelhändler gehen werde – es drohten Leerstände und „ein großes Ladensterben“, sagte Daniels. Aus der Luft gegriffen ist das nicht: In der Ludwigshafener Innenstadt entwickelten sich ganze Straßen genau so – nach Ansiedlung einer Shopping Mall.
Ergebnis 1: kaum neue Kaufkraft nach Mainz
Mainz& wollte sich natürlich ein eigenes Bild machen – also haben wir das Gutachten von Bulwiengesa im Detail gelesen. Im Wesentlichen analysieren die Experten darin die Kaufkraft von Mainz und seiner Umgebung, den möglichen Kaufkraftabzug durch ein Center aus Wiesbaden und auch dem Rhein-Main-Gebiet. Und sie stellen detaillierte Analysen zu den Auswirkungen auf, die eine Ansiedlung von vier verschiedenen Produkten in einer neuen Mall auf die umliegenden Geschäftsstraßen haben würde.
Zur Erinnerung: Die ECE-Mall sollte eben nicht das Tripol-Konzept der Stadt Mainz schwächen mit den Polen Brand, Römerpassage und eben der LU. Sondern sie sollte Kaufkraft aus den anderen Einkaufszentren der Region nach Mainz holen. Klappt nicht, sagt das Gutachten in schnöden Worten und Zahlen: Die Kaufkraftstrom-Modellrechnungen prophezeien „nur mäßige Kaufkraftneubindungen“, schlimmer noch: Wirkungen gegenüber Einkaufszentren in Wiesbaden, Frankfurt, Worms und dem Main-Taunus-Zentrum „sind marktanalytisch kaum nachweisbar.“
Geringer Effekt auf Wiesbaden – aber 70% des Center-Umsatzes kämen aus Geschäften in Mainz
Für Wiesbaden rechnen die Analysten damit, dass Mainz lediglich zwischen 3,6 Millionen Euro und 4 Millionen Euro an abfließender Kaufkraft nach Wiesbaden zurückholen könnte. Für das Stadtzentrum ergebe sich damit eine Umverteilungsquote „von im Maximum 1,9%“, heißt es auf Seite 61 des Gutachtens. Der Wert ist zwar „nur“ für den Bereich Kleidung gerechnet, doch ist die Kleidung mit zwischen 12.000 und 16.000 Quadratmetern der weitaus größtes Bereich in einer Mall – und hat vor allem die anziehende Wirkung auf die Kundschaft. Oder eben auch nicht…
Schlimmer noch: „Gut 70 % des (…) Umsatzes wird in allen Größenvarianten über Umverteilungen gegenüber den im Einzugsgebiet ansässigen Betrieben erzielt“, schreiben die Gutachter auf derselben Seite. Heißt im Klartext: Eine neue Shopping Mall an der LU würde im Bereich Kleidung nur minimalst Kaufkraft aus Wiesbaden und anderen Städten nach Mainz ziehen – aber ihren Umsatz zu 70 Prozent aus den umliegenden Geschäften in der Mainzer Innenstadt abziehen.
Auswirkungen für fünf Angebotsgruppen in zwei Größen durchgerechnet
Und das, obwohl die Gutachter explizit davon ausgingen, dass es keine Shop-Verlagerungen aus bisherigen Polen an die LU geben darf und neue, zusätzliche Bekleidungsangebote geschaffen werden müssen. Ein solches Ergebnis kann man nur als heftig bezeichnen – es bestätigt die Befürchtungen bisheriger Einzelhändler in Mainz, die Mall würde Kaufkraft abziehen, und zwar von ihren Geschäften.
In der Folge rechnen die Prüfer dann die Auswirkungen einer Mall detailliert für fünf Angebotsgruppen durch: Kleidung als größter Teil, Schuhe, periodischer Bedarf (Lebensmittel, Apotheke, Drogerie), Elektroartikel/Technik und Sonstige Waren/Persönlicher Bedarf (Bücher, Schreibwaren, Fahrräder, etc.). Jede Gruppe wird auf mindestens zwei Größenordnungen geprüft: einer kleinen Variante und der Maximalvariante von 26.500 Quadratmetern Einkaufsfläche – so, wie ECE das wollte.
Bereich Kleidung: gravierende Auswirkungen
Ergebnis im Bereich Kleidung: Eine kleine Variante mit 12.000 Quadratmetern Einkaufsfläche im Bereich Kleidung werde eine Umverteilung von 9 Prozent in der Innenstadt auslösen, die Hauptlast von 60 Prozent des Umsatzverlustes hätten „die Anbieter in der Innenstadt von Mainz zu tragen.“ (Seite 60)
Etwas ratlos lässt uns die Zusatzbemerkung der Experten zurück, die ermittelten Umsatzumverteilungen seien „zwar durchaus spürbar“, „Störungen der Funktionsfähigkeit der einzelnen Pole bzw. der Randlagen der Innenstadt sind daraus nicht zu erwarten.“ Wahrscheinlich ist gemeint, dass die Umverteilung ja „nur“ 9 Prozent beträgt – doch immerhin gehen die Experten von einem generierten Umsatzvolumen von rund 151 Millionen Euro durch die ECE-Mall insgesamt aus. Neun Prozent davon sind für viele kleine Geschäfte viel Geld.
Auch relativiert sich diese Einschätzung für die kleinere Fläche, wenn man die Einschätzung für die größere Fläche liest: Bei einer Textilverkaufsfläche von 16.000 Quadratmetern reden die Prüfer nämlich von einer Umverteilung von ca. 9,3% – und die sei „im Einzugsgebiet als grenzwertig zu bezeichnen.“ Nanu?
Die Prüfer gehen bei dieser großen Fläche von einem Umsatz durch den Bereich Kleidung von 58 Millionen Euro aus, davon würden knapp 14 Millionen von neuen Kunden stammen und einer „marktwirksamen Umverteilung von 36,8 Millionen Euro.“ Im Klartext: Die 36,8 Millionen Euro würden anderen Geschäften in Mainz entzogen, die Hauptlast mit 12,5 Prozent hätte die Innenstadt zu tragen. Hauptbetroffene: der Brand und die Stadthausstraße, also genau zwei der drei Pole.
Wir müssen wohl mal dazu sagen: Für Widersprüche in dem Gutachten können wir nix, die Prozentzahlen wurden nach unserem Eindruck mal so, mal so gewertet – wie gerade eben: 9 Prozent waren einmal nicht schlimm, 9,3 Prozent aber schon grenzwertig. Im Übrigen werden in der Folge Umverteilungen ab 12 Prozent als gravierend bezeichnet, das nur zur Einschätzungshilfe. Trotzdem finden wir es wichtig, die Zahlen hier darzustellen – aus unserer Sicht ergibt sich daraus ein durchaus spannendes Bild.Bereich Schuhe: schwere bis katastrophale Auswirkungen
Noch schlimmer fällt die Analyse für den Schuhbereich aus. Hier gehen die Prüfer von einer Verkaufsfläche zwischen 2.000 und 3.000 Quadratmetern aus. Selbst die große Variante würde aus Wiesbaden einen Schuh-Umsatz von nur 900.000 Euro im Jahr abziehen – das sei für Wiesbaden gut verkraftbar, heißt es. Aber selbst bei der kleinen Variante von 2.000 Quadratmetern würden 57 Prozent von den „im Einzugsgebiet ansässigen Betrieben“ abgezogen, das seien 3,2 Millionen Euro.
„Die im Stadtgebiet Mainz etablierten Anbieter von Schuhen werden durch das Einkaufsquartier an der Ludwigsstraße überdurchschnittlich belastet“, heißt es auf Seite 67. Brand und Stadthausstraße (Kaufhof/Römerpassage) seien mit 8% und 8,7% überdurchschnittlich belastet, die Umverteilung insgesamt „spürbar“.
Bei einer Schuhverkaufsfläche von 3.000 Quadratmetern „verstärkt sich die Belastung für die ansässigen Betriebe deutlich“, heißt es im Gutachten – das kann man schon als Warnung verstehen. Die Schuhgeschäfte in der Innenstadt müssten knapp 3,5 Millionen Euro abgeben, die Umverteilungsquote stiege auf satte 13,9 Prozent. Am Brand wären es sogar 15,7 Prozent, in der Stadthausstraße 14,5 Prozent – die beiden anderen Einkaufspole würden deutlich Federn lassen. Selbst die Prüfer nennen das „grenzwertig“ und warnen, „erhebliche Umstrukturierungen innerhalb des Bestandes sind nicht auszuschließen.“
Bereiche periodischer Bedarf und Sonstige Hartwaren
In den Bereichen periodischer Bedarf und Sonstige Hartwaren ergibt sich ein ähnliches Bild: Die Shopping Mall an der LU würde Umsatz aus ihrer Umgebung abziehen, Hauptlastenträger wären Brand und Stadthausstraße. Die kleinere Fläche würde in diesen Bereichen allerdings eher geringe Auswirkungen haben. Anders sieht es bei der maximalen Verkaufsfläche von 6.000 Quadratmeter im Bereich Drogerien aus: Hier würden im Stadtgebiet „deutlich spürbare Umsatzverteilungen ausgelöst, die auch dazu führen können, dass sich Betriebe neu aufstellen bzw. in das neue Quartier verlegen“, heißt es auf Seite 83.
Das ist deutlich. „Eine wesentliche Störung der Funktionsfähigkeit einzelner Pole oder Randlagen der Innenstadt ist daraus nicht abzuleiten“, heißt es dann noch im Zusatz – aber was heißt das schon? Wenn Geschäfte von draußen in die Mall ziehen oder aufgeben müssen, dann ist die Funktionsfähigkeit der anderen beiden Pole sehr wohl bedroht – so sehen wir das.
Bereich Elektro und Technik: Es wird keinen Dritten geben
Ganz finster wird es schließlich im Bereich Elektro und Technik. Gemeint sind damit Elektrogroßmärkte wie Saturn und Media Markt, sie gelten in einer Shopping Mall als unverzichtbar, weil sie eine Ankerwirkung haben und Käufer in Scharen in die Mall holen. Nur: Media Markt hat in Mainz den gut funktionierenden Markt im Gutenberg-Center in Bretzenheim, Saturn sitzt – mit deutlich geringerem Erfolg – am Brand. Es sei „kaum zu erwarten“, warnen die Analysten, dass Media Markt und Saturn – die beide zur Metro-Gruppe gehören – einen weiteren, dritten Markt am Standort Mainz eröffnen würden (Seite 72-73).
Eine „Doppelbesetzung in der Innenstadt“ werde deshalb „im Stadtgebiet Mainz und insbesondere in der Mainzer Innenstadt deutliche Kaufkraftumverteilungen auslösen“, heißt es da – selbst bei „nur“ 3.000 Quadratmeter Verkaufsfläche. Und es sei besonders zu berücksichtigen, dass der Saturn am Brand „bereits heute im Vergleich nur eine unterdurchschnittliche ‚Persformance‘ ausweist.“ Das ist eine klare Warnung, dass ein Elektrogroßmarkt an der LU eine Leerstandsruine am Brand schaffen könnte – und das Saturn-Kaufhaus ist mehrere Stockwerke tief.
Eine Elektroverkaufsfläche von 5.000 Quadratmetern wiederum halten die Prüfer für schlicht „unrealistisch“ (Seite 73). Eine Ansiedlung eines Elektromarktes „ohne Verlagerung einer Bestandsfiliale“ schließe sich aus. Allenfalls können sich die Experten die Ansiedlung von Geschäften wie etwa eines Apple-Stores vorstellen – au ja!! -, einer Größenvariante von 5.000 Quadratmetern Elektrofläche bescheinigen die Experten aber eine „nicht erkennbare Vermarktungsfähigkeit.“
Fazit: bloß keine große Mall
Unser Fazit: Ein großes Shopping-Center à la ECE würde selbst nach den wohlwollenden Experten von Bulwiengesa deutliche Verschiebungen im Mainzer Einzelhandel auslösen. Die Mall würde zwischen 40 und 70 Prozent Umsatz von ihrem direkten Umfeld abziehen, worunter vor allem der Brand und die Stadthausstraße mit Kaufhof und Römerpassage leiden würden. Im Gegenzug kann die Mall aber nicht den großen Umsatz aus dem Umland erzielen, den ihr Befürworter immer erhofft hatten. Wiesbaden müsste maximal 2 bis 3 Prozent abgeben, für andere Zentren war der Umsatz sogar kaum zu messen.
Das sind heftige Ergebnisse, die zeigen: Gut, dass die große Shopping-Mall erst einmal gestoppt ist! Mainz hätte sich einen Klotz eingefangen, dessen Auswirkungen auf den Rest der Stadt nicht abzusehen waren. Gleichwohl müsste an der Ludwigsstraße dringend etwas geschehen, könnte Mainz eine Steigerung seiner Attraktivität als Einkaufsstadt gut gebrauchen.
Doch die Lösung – so hat Mainz& es ja schon vor ein paar Tagen geschrieben – liegt gerade auch nach diesen Zahlen und Ergebnissen (die wir da noch nicht kannten) mitnichten in der Größe. Wir glauben jetzt mehr denn je: Die Lösung kann nur in klugen kleinteiligen Einkaufsquartieren liegen, die Urbanität vermitteln, die Schönheiten von Mainz erlebbar machen und zum Flanieren einladen – dann kommt das Shopping ganz von allein.
Und was sagt die Stadtspitze dazu? Wissen wir (noch) nicht. Im Wirtschaftsausschuss der Stadt scheint es am Dienstag hoch hergegangen zu sein. Gesagt wurde da jedenfalls, das Gutachten habe 40.000 (!) Euro gekostet. Die Stadträte hatten das Gutachten übrigens nicht von der Stadtverwaltung bekommen – sondern von der BI. „Selbst wir Mitglieder des Wirtschaftsausschusses sind von der Stadt noch nicht einmal informiert worden, dass es das Gutachten überhaupt gibt“, kritisierte der Linke Jasper Proske gegenüber Mainz&.
Und SPD-Stadtrat Andreas Behringer – ein Gegner der ECE-Mega-Mall – sagte zu Mainz& den bemerkenswerten Satz: „Ich möchte nie wieder erleben, dass ich auf eine Bürgerinitiative angewiesen bin, um von einem mit Steuermitteln finanzierten Gutachten zu erfahren.“
Info& auf Mainz&: Ihr wollt Euch selbst ein Bild über das Gutachten machen? Kein Problem: Die Bürgerinitiative Mainzer Ludwigsstraße hat das komplette Gutachten ins Netz gestellt – genau hier.