Kurz vor der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig, wartet die Politik in Berlin mit neuen Vorschlägen zur Entlastung der Städte von Autoverkehr auf. Auslöser in diesem Fall: Die Androhung der Europäischen Union, Deutschland wegen permanenter Überschreitung der Stickoxidwerte zu verklagen. Daraufhin legte die Bundespolitik den Vorschlag vor, den ÖPNV in den Städten kostenlos zu machen. Was folgte, war ein Aufschrei vor allem von Kommunalpolitikern: Unrealistisch, unfinanzierbar und unsinnig, lauteten die Äußerungen. Auch der Mainzer Oberbürgermeister Michael Ebling (SPD) äußerte sich skeptisch. Doch es gibt auch andere Stimmen: Die Landes-Grünen sprechen von „einer wichtigen Stellschraube für saubere Mobilität“ – und in Frankfurt fordert die Linken-Kandidatin bei der Oberbürgermeisterwahl, Janine Wissler, schon geraume Zeit kostenlose Busse und Bahnen.
Am Dienstag hatten Medien über einen Brief der geschäftsführenden Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD), dem kommissarischen Verkehrsminister Christian Schmidt (CSU) und Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) an die EU bekannt gemacht, in dem die Bundesregierung vorschlägt, einen kostenlosen öffentlichen Nahverkehr zur Reduzierung von schlechter Luft in den Städten einzuführen. „Zusammen mit den Ländern und der kommunalen Ebene erwägen wir, den öffentlichen Nahverkehr gratis anzubieten, um die Zahl der Privatfahrzeuge zu reduzieren“, heißt es in dem Brief, wie das Magazin Politico berichtete.
Eine neue Regierung werde „sofort einen neuen gesetzlichen Rahmen vorschlagen mit dem Zweck, Bundesländer und Städte zu ermächtigen, bindende Anforderungen und Emissionsgrenzwerte für Busse und Taxis zu erlassen“, heißt es in dem Brief laut Politico weiter. Dies solle „so bald wie möglich, spätestens zum Jahresende in Kraft treten.“ Ein kostenloser Nahverkehr wiederum solle zunächst in fünf Städten erprobt werden, so der Vorschlag des Bundes weiter: in Bonn, Essen, Herrenberg, Reutlingen und Mannheim.
Experten äußerten sich umgehend kritisch: Ein kostenloser öffentlicher Nahverkehr sei nicht finanzierbar, zudem würden dann Busse und Bahnen von Fahrgästen geradezu überrannt – Pendlern drohten dann völlig verstopfte Busse und Bahnen. Auch der Mainzer Oberbürgermeister Michael Ebling (SPD) äußerte sich skeptisch. „So einfach ist das nicht“, sagte Ebling, es stelle sich die Frage, wie das in der Praxis umgesetzt werden solle. Bei der Vermeidung von drohenden Fahrverboten für Diesel-Pkws in den Städten dürfe es „keine Denkverbote geben“, sagt Ebling, deshalb sei jeder Vorschlag überlegenswert, um die Luft sauberer zu machen. „Kostenloser Nahverkehr ist eine visionäre Vorstellung, die auf jeden Fall mehrere Testballons braucht“, betonte Ebling.
„Mehr Menschen mit dem ÖPNV zu befördern heißt neue Busse und/oder Straßenbahnen zu kaufen und an die infrastrukturellen Gegebenheiten und Zeitpläne anzupassen“, sagte Ebling: „Kurzfristig lässt sich so etwas nicht umsetzen.“ Rund 60 Millionen Euro kostet der öffentliche Nahverkehr in Mainz pro Jahr derzeit, davon würden derzeit 45 Millionen Euro durch Einnahmen aus den Fahrscheinverkäufen finanziert, teilte die Stadt auf Mainz&-Anfrage am Mittwoch mit. Das Defizit von 15 Millionen Euro wird von den Stadtwerken getragen, und Mainzer Mobilität-Geschäftsführer Jochen Erlhof klagte schon vor Monaten, daran lasse sich nicht rütteln.
Die Mainzer CDU-Chefin Sabine Flegel sagte am Mittwoch gegenüber Mainz&, sie finde den Vorstoß „hochspannend“, „die Idee hat Charme“. Ein kostenloser Nahverkehr könne „ein guter Beitrag sein, die Leute in den ÖPNV zu bringen“, sagte Flegel: „Wenn mehr Leute das Auto stehen lassen, ist das ein Beitrag die Luft zu verbessern, das sollte man ergebnisoffen prüfen.“ Ja, ein kostenloser Nahverkehr sei „ein finanzieller Spagat für die Kommunen“, ein solches Konzept solle aus ihrer Sicht aber „zumindest mal durchgerechnet werden.“ Flegel forderte, die Idee des Bundes „ernsthaft zu prüfen“
Mainz brauche „einen verlässlichen ÖPNV, gut getaktet und ausgebaut, pünktlich und zuverlässig, dass es sich rentiert, das Auto abzugeben“, sagte Flegel weiter. „Wenn man ernsthaft für bessere Luft kämpfen und mehr Leute in den ÖPNV holen will“, müsse auch über solche Ansätze nachgedacht werden. „Das würde womöglich viele Probleme in unserer Stadt lösen“, sagte Flegel weiter. Dann würden sich auch Probleme wie der Vier-Kilometer-Radius bei der Schülerbeförderung erledigen. Zur Finanzierung sagte Flegel, es könne etwa geprüft werden, ob man eine ÖPNV-Abgabe einführen könne, eine Art Studiticket für alle. Generell gelte aber: „Wenn der Bund so etwas vorschlägt, muss er auch das Geld liefern – das ist ja genau die Chance“, betonte Flegel.
In Hessen denken die Grünen bereits in dieselbe Richtung: 2017 führte das schwarz-grün regierte Nachbarland ein Schülerticket ein, seither können dort Schüler für 365 Euro pro Jahr den Nahverkehr in ganz Hessen nutzen. In ihrem Verkehrskonzept für die Landtagswahl im Oktober dieses Jahres schlagen die Grünen unter anderem Flatrate-Tickets für den Nahverkehr und einen deutlichen Ausbau als Ziel vor.
Auch die rheinland-pfälzischen Grünen betonten, ein „ticketloser ÖPNV“ sei „eine wichtige Stellschraube für saubere Mobilität und die Verkehrswende“ – wobei ticketlos nicht dasselbe wie kostenlos ist. Offenbar meinten die Grünen aber den kostenfreien Nahverkehr und begrüßten den Vorstoß der Bundesregierung. Zugleich kritisierten sie, der Vorschlag sei offenbar „aus der Not geboren“, es stehe zu befürchten „dass es sich hier um ein Ablenkungsmanöver vom Groko-Chaos handele, nicht um einen durchdachten Plan.“ Es brauche eine Investitionsoffensive aus Bundesmitteln, um eine echte Verkehrswende mit einem Bündel von Maßnahmen hinzubekommen.
In Frankfurt twitterte die OB-Kandidatin der Linken, die Fraktionschefin im Hessischen Landtag Janine Wissler, sarkastisch, sie werde seit Wochen für ihren Vorschlag gescholten, den öffentlichen Nahverkehr in Frankfurt kostenfrei zu machen. „Damit zeigt sich wieder einmal: Was ‚realistisch‘ ist und was nicht, ist eine Frage des politischen Willens“, sagte Wissler. Ein kostenloser Nahverkehr wäre ein wichtiger Beitrag zu einer echten Verkehrswende, könnte die Menschen vor Autoverkehr schützen und helfen, „die Klimaziele überhaupt noch annähernd einhalten zu können.“ Zudem wäre die kostenfreie Nutzung von Bus und Bahn „auch ein wichtiger Beitrag zu Mobilität und sozialer Teilhabe für alle, unabhängig vom Geldbeutel“, fügte sie hinzu.
Skeptisch äußerte sich hingegen die ÖDP: Der Vorschlag sei zwar „verlockend“, aber wer die immensen Kosten tragen solle, und ob die Maßnahme wirklich zu sauberere Luft beitrage, „ist aktuell völlig unklar“, sagte ÖDP-Generalsekretär Claudius Moseler. Erforderlich sei hingegen eine Verdoppelung des Angebotes bei gleichzeitiger Halbierung der Preise, wie es der Verkehrsclub Deutschland vorschlage. „Weg mit Subventionen beim Individualverkehr und mehr Linien und eine höhere Taktung“, nannte Moseler als notwendige Maßnahmen – auch Bügertickets oder eine Nahverkehrsabgabe nannte er als sinnvolle Überlegungen.
Tatsächlich gibt es wenige Vorbilder für einen kostenfreien Nahverkehr – als Beispiel wird meist die estnische Stadt Talinn genannt. Die führte laut Internetlexikon Wikipedia 2013 nach einer Volksabstimmung einen Gratis-Nahverkehr für die Bewohner ein, das Angebot sei mittlerweile auf Regionalzüge ausgedehnt worden, sagt Wikipedia. Aber auch in Australien gibt es Modelle: So machte die Stadt Melbourne vor drei Jahren die Nutzung ihrer Straßenbahnen im Innenstadtbereich kostenfrei, nur wer in die Außenbereiche will, muss noch zahlen.
Im deutschen Templin, einer Stadt mit 16.000 Einwohnern, habe es von 1998 bis 2003 einen kostenfreien Nahverkehr gegeben, die Passagierzahlen sei dabei von 41.000 auf 350.000 gestiegen, sagt Wikipedia weiter. 2003 sei das Systen deshalb in ein freiwilliges Bürgerticket-System umgewandelt worden, das über Kurgäste kofinanziert werde.
Im SWR-Fernsehen sagte der Verkehrsexperte Heiner Monheim, die Idee sei „ein Schritt in die richtige Richtung. Der Bund müsse zwölf Milliarden zur Verfügung stellen an Ausgleich für wegfallende Einnahmen, sowie vielleicht noch einmal so viel für Investitionen in den Ausbau des Nahverkehrs. „Ja, wir können uns das leisten“, sagte Monheim, einsparen lasse sich vieles bei Diesel-Subventionen und auch beim Straßenbau. „Wir können eine Lawine in Gang setzen, die das Verkehrsverhalten der Deutschen endlich weg vom massenhaften Autoverkehr zu einer regelmäßigen Nutzen des öffentlichen Nahverkehrs bringt“, sagte Monheim (Link liefern wir nach).