Haben die christlichen Kirchen in der Corona-Pandemie die Menschen im Stich gelassen? Haben sie sich genügend zu Wort gemeldet, Orientierung gegeben und Halt in einer Ausnahmesituation? Nach dem ersten Lockdown im Frühjahr war genau diese Kritik laut geworden – nun geben Mitarbeiter des Bistums Mainz selbst eine Antwort darauf: 57 Prozent kritisierten in einer Umfrage des Bistums Mainz, die Kirche sei mit ihrem Personal und ihren Angeboten „nicht ausreichend in Erscheinung getreten“ oder habe gar ein negatives Bild abgegeben. Nur 21 Prozent stellten ihrer Kirche ein positives Zeugnis aus.
Im August hatte der Mainzer Bischof Peter Kohlgraf eine bundesweit wohl einmalige Initiative ergriffen: Kohlgraf beauftragte das Dezernat Seelsorge, eine großangelegte Befragung unter den Mitarbeitern des Bistums Mainz durchzuführen. Die Fragestellung: Welche Auswirkungen hatte die Corona-Krise bisher auf die Seelsorge im Bistum Mainz? Welche neuen Wege der Kommunikation wurden erschlossen, welche Lehren für die Zukunft gezogen?
„Es ist mir wichtig, die Herausforderungen und Fragen dieser Zeit wahrzunehmen und zu überlegen, welche Auswirkungen diese Erfahrungen auf eine Pastoral der Zukunft in unserem Bistum haben“, schrieb Kohlgraf damals an seine Mitarbeiter in der Seelsorge, aber auch in den Bereichen Caritas, Jugendarbeit, Schulen, Kindertageseinrichtungen, Orden und Verbänden. Insgesamt waren 1.851 haupt- und ehrenamtlich Verantwortliche sowie weitere Interessierte eingeladen, von Mitte August bis Ende September ihre Meinungen und Einschätzungen zur Lage abzugeben.
Der Corona-Lockdown im Frühjahr hatte auch die Kirchen überraschend und durchaus hart getroffen: Ausgerechnet in der Osterzeit mussten die Kirchen ihre Gotteshäuser schließen, Gottesdienste fanden nicht mehr statt, das kirchliche Leben kam – zumindest nach außen hin – erst einmal völlig zum Erliegen. Der Mainzer Bischof Kohlgraf war damals einer der ersten Bischöfe, der Gottesdienste im Bistum Mainz konsequent absagte und den Mainzer Dom für Besucher schloss – lediglich die kleine Gotthardkappelle blieb für die Betenden geöffnet. Für Kritik sorgte aber vor allem, dass die Kirchen auch Einrichtungen wie die Tafeln für bedürftige Menschen schlossen, oft weil die ehramtlichen Helfer dort selbst als Ältere zur Risikogruppe gehörten.
Nach dem Ende des Lockdowns machte sich auch deshalb Kritik breit, die Kirchen hätten in der Pandemie eben nicht an der Seite der Menschen gestanden, ja, sie hätten „versagt.“ So kritisierte etwa die frühere Thüringer Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht (CDU), selbst eine Pfarrerin, die Kirche habe in der Corona-Krise Hunderttausende Menschen allein gelassen – Kranke, Einsame, Alte, Sterbende. Die Kirchen wiesen das empört zurück, doch gerade für viele eher kirchenferne Menschen verfestigte sich der Eindruck: Zu sehen und zu hören war von den Kirchen in der Coronakrise wenig.
Hohe Kirchenvertreter meldeten sich so gut wie nicht zu Wort, lediglich rund um Ostern gab es Hirtenbriefe und Botschaften an die Gläubigen – danach aber war monatelang von den Kirchenoberen, egal welcher Richtung, nichts mehr zu hören. Auch und gerade jetzt, im zweiten Lockdown kurz vor Weihnachten, blieben Botschaften von Halt, Trost oder Hoffnung an die Menschen in Deutschland bislang entweder ganz aus oder drangen nicht an die Öffentlichkeit durch. Wurden während des ersten Lockdowns noch jeden Abend zur Ermutigung und zum Trost die Glocken der Mainzer Kirchen geläutet – im zweiten Lockdown blieben solche Zeichen bisher gänzlich aus.
Die Ergebnisse der Umfrage im Bistum Mainz bestätigen nun ein gutes Stück weit diese Kritik: 57 Prozent waren der Meinung, die Kirche sei „mit ihrem Personal und ihren Angeboten nicht ausreichend in Erscheinung getreten oder hätte ein negatives Bild abgegeben“, teilte das Bistum Mainz nun selbst mit. Nur 21 Prozent hätten ihrer Kirche ein positives Zeugnis ausgestellt, der Rest sei geteilter Ansicht gewesen oder hätte sich nicht näher dazu geäußert. In drastischen Worten hätte etwa ein Pfarrgemeinderat die Lage so beschrieben: „Plötzlich war man ohne Gläubige in den Kirchenbänken ‚arbeitslos‘. Traurig. Raus aus der Komfortzone!“
Die Bandbreite der Kommentare der Bistums Mitarbeiter war offenbar weit, die Spannbreite habe ein Diakon so beschrieben: „kreativ, hilfreich, verlassen, unzumutbar.“ Was der Diakon „unzumutbar“ fand, teilte das Bistum nicht näher mit, Tatsache ist aber auch: Viele Pfarrer vor Ort wurden ungeheuer kreativ. Da wurden „Gottesdienste to go“ ins Leben gerufen, die Gläubigen konnten sich im Vorfeld jedes Sonntags dabei kleine Sets mit Predigten und Liedtexten abholen, und den Sonntagsgottesdienste so für sich zuhause feiern. Rund 1.550 neu entwickelte Projekte seien in den Antworten der Umfrage genannt worden, so das Bistum Mainz.
Etliche Gemeinden seien zudem dazu übergegangen, ihre Sonntagsgottesdienste im Internet zu streamen, auch der Mainzer Dom wurde digital – Bischof Kohlgraf selbst zelebrierte etwa einen Ostergottesdienst in Kleinstbesetzung in der Gotthardkappelle, der nicht nur vom Fernsehen, sondern auch live im Internet übertragen wurde. Allerdings hätten in der Umfrage doch viele Antworten erkennen lassen, dass das Streamen von Eucharistiefeiern eher als Notbehelf empfunden worden sei, der die persönliche Präsenz und Erfahrung von Gemeinschaft auf Dauer nicht ersetzen könne. Sollten solche Angebote fortgeführt werden (müssen), brauche man „vielfach qualitativ höherwertigere mediale Formate mit interaktiven Elementen“, heiß es weiter.
Weitgehend positiv bewertet wurde denn offenbar auch der Digitalisierungsschub im Bistum, vor allem in Kommunikation und in Arbeitsabläufen. Abgesehen von Telefon und E-Mail hätten 51 Prozent der Mitarbeiter das Medium der Videokonferenz zu Absprachen genutzt. Allerdings habe es in den Gemeinden und anderen kirchlichen Einrichtungen vor Ort vielfach auch an technischer Ausstattung und Medienkompetenz gemangelt, so die selbstkritische Einschätzung. Dieser Mangel habe sich auch „oft als Hindernis, mit bestimmten Altersgruppen oder anderen besonderen Zielgruppen der Gemeinden und sozialen Einrichtungen in Kontakt zu bleiben“ erwiesen – das habe vor allem Kinder, Senioren und sozial Schwächere betroffen. Im nicht-digitalen Bereich seien vor allem Einkaufshilfen als praktische Dienstleistung angeboten worden.
Eine noch intensivere Auswertung der Online-Umfrage sowie von 26 parallel erfolgten vertieften Interviews will das Bistum in den kommenden Wochen erstellen. Zudem soll ein Konzept zur Veröffentlichung und Diskussion der Ergebnisse erstellt werden. Bischof Kohlgraf bilanzierte, die Umfrage zeige viele Themen auf, die ihn auch selbst immer wieder beschäftigten – etwa „die Notwendigkeit einer besseren Vernetzung von liturgischem, seelsorglichem und sozialem Handeln der Kirche.“ Auch stelle sich noch einmal verschärft die Frage: „Was ist ‚die Kirche‘ für die Menschen, was wird von ihr erwartet, was überhaupt wahrgenommen?“
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