Heute brechen wir mal eine Lanze für die (angebliche) Faulheit: für das Schlafen. Deutschland steht nämlich viel zu früh auf – das sagen nicht wir, sondern Experten, genauer: Schlafforscher. Gut 2.000 von denen treffen sich ab heute für drei Tage in Mainz zur großen Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin e. V. (DGSM). Und die Schlafmediziner sind einhellig der Meinung: Schule und Arbeit beginnen in Deutschland viel zu früh – mit Auswirkungen auf Gesundheit, Leistung und sogar Unfälle. Am Samstag findet dazu ein öffentliches Podium im Rathaus statt.
„Morgenstund hat Gold im Mund“, „Der frühe Vogel fängt den Wurm“ – der deutsche Sprachwortschatz ist voll von Sprichwörtern, die den frühen Tagesbeginn rühmen und als produktivste Arbeitszeit anpreisen. Doch das ist Unsinn, sagen Schlafforscher: Nur jeder Sechste (!) ist ein Frühaufsteher, eine sogenannte „Lerche“ und kommt mit den üblichen Arbeits- und Schulzeiten gut zurecht. „Für den Rest ist ein Arbeitsbeginn morgens um 6.00 Uhr oder 7.00 Uhr einfach zu früh“, sagt der Schlafforscher und DGSM-Präsident Hans-Günter Weeß. An freien Tagen würde schließlich auch fast niemand freiwillig so früh aufstehen. Weeß‘ Fazit: Deutschland steht zu früh auf.
„Für Jugendliche beginnt Schule mitten in der Nacht“
Das trifft ganz besonders auch Jugendliche in der Schule: „Chronobiologisch gesehen beginnt für Jugendliche der Unterricht mitten in der Nacht“, sagt Weeß – wie Recht der Mann hat 😉 Chronobiologie ist die Wissenschaft der Zeitbiologie, sie erforscht – kurz gesagt – Biorhythmen, die sogenannte „innere Uhr“. Jeder von uns hat nämlich seinen ganz persönlichen Lebensrhythmus, der um mehrere Stunden von der normalen Uhrzeit verschoben sein kann – nach vorne oder nach hinten.
„Lerchen“ nennen die Forscher die Menschen, die früher aufstehen als andere – das sind gerade einmal 16 Prozent! Der Großteil sind sogenannte „Eulen“, also Menschen, die eigentlich in ihrem normalen Rhythmus nach Mitternacht einschlafen und entsprechend später aufstehen. „Zu Beginn unseres Lebens, bis zur Pubertät, sind wir alle eher Lerchen“, erklärt Weeß, „dann mutieren wir bis zum 25. Lebensjahr alle eher zur Eule, werden spät müde und kommen morgens nicht mehr früh aus dem Bett.“
Langschläfer sind noch immer „Faulpelze“, dabei sind sie produktiver
Werden wir dennoch dauerhaft gezwungen, gegen unseren Rhythmus zu leben, hat das Folgen – Schlafstörungen sind noch die leichtesten davon. Aber selbst die sind unangenehm bis heftig: Rund eine Million Menschen in Deutschland sind derzeit abhängig von Schlafmitteln, sagen die Mediziner. Denn bei uns in Deutschland gilt frühes Aufstehen immer noch als Tugend, Langschläfer werden noch immer als Faulpelze angesehen. „Dabei ist der Schlaftyp genetisch festgelegt und angeboren“, betonen die Experten – Umerziehen zwecklos.
Wer also ausgeschlafene und leistungsfähige Mitarbeiter will, die wenig Fehler machen, „müsste die Arbeitszeiten später beginnen, optimal wäre zwischen 9.00 Uhr und 11.00 Uhr“, sagt Weeß. Noch besser wäre es, meint der Experte, die Arbeitszeit flexibel zu gestalten, angepasst an die individuelle Chronobiologie jedes Mitarbeiters. „Weniger Krankheiten, Unfälle und Krankheitstage sowie mehr Leistungsvermögen und eine höhere Produktivität wären vermutlich die Folge“, betont der Schalfforscher.
Schlafmangel: Gereiztheit, Übergewicht, Burnout, Diabetes
Umgekehrt hat dauerhafter Schlafmangel dramatische Folgen: Gereiztheit, Übergewicht, Burn-out, Depressionen und sogar Diabetes nennen die Experten. Der Grund: Gegen den eigenen Rhythmus zu leben, ist ein ständiger Kraftakt, und man schläft nicht nur zur falschen Zeit, sondern isst auch zur falschen Zeit – deshalb das Übergewicht. Wer hingegen mehr seinen Rhythmus leben kann, ist ausgeglichener, macht weniger Fehler – und ist sogar netter, fanden die Forscher heraus.
Die Auswirkungen der Schlafstörungen, schätzte niemand anderes als die Bundesagentur für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin 2012, führen durchaus zu einer volkswirtschaftlichen Belastung, die bis zu 18 Milliarden Euro ausmachen kann. Das entspräche 0,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, renommierte Chronobiologen gehen sogar von einem Wert von bis zu einem Prozentpunkt des BIP aus.
Bessere Leistungen in der Schule bei späterem Beginn
Bei Jugendlichen in der Schule zeigten Studien, dass die Schulleistungen in der ersten Schulstunde deutlich besser sind, wenn die Schule mindestens eine Stunde später beginnt. 2014 forderte laut Weeß der Verband der amerikanischen Kinderärzte für Kinder ab zehn Jahren einen Schulbeginn nicht vor 8.30 Uhr. Im Sommer 2015 forderte zwar auch in Deutschland Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) einen späteren Schulbeginn nach dem Motto „Lasst sie doch noch etwas schlafen.“
Woran das scheiterte? An vielen unflexiblen Unternehmen, die ihren Arbeitsbeginn nicht verschieben mochten – und am Nahverkehr. Die Unternehmen argumentierten nämlich, ein späterer Schulbeginn sei logistisch kaum umzusetzen – Deutschland im Jahr 2015. Stattdessen stehen wir weiter zu nachtschlafender Zeit auf, fahren unausgeschlafen Auto, hängen müde über dem Schreibtisch. Politiker und Spitzenmanager sind stolz darauf, weniger als vier oder fünf Stunden pro Nacht zu schlafen – bei einer Umfrage „gaben 61 Prozent der Politiker an, sich regelhaft unausgeschlafen zu fühlen, bei den Top-Managern war es jeder zweite“, berichtet Weeß.
Dies habe zwar nach Aussage von 57 Prozent schon einmal zu entscheidenden Konsequenzen geführt – etwa müdigkeitsbedingten Zugeständnissen. „Allerdings sahen die Chefs Positives in dem karrierebedingten Schlafmangel“, berichtet Weeß weiter: „Jeder zweite aus Politik und Verwaltung glaubte, dass er als Normal- oder Vielschläfer keine Chance auf einen Spitzenjob gehabt hätte.“
Der Mainz&-Einwurf: Was nur tun wir da? Wir vertrauen unsere Spitzenjobs chronisch unausgeschlafenen Menschen an, die auch noch stolz darauf sind? Wer „spät“ ins Büro kommt – also nach 9.00 Uhr -, muss sich noch heute regelmäßig blöde Sprüche vom „Faulpelz“, „kommst Du auch schon“ und Schlimmeres anhören – von überheblichen Frühaufstehern.
Wir halten an der Doktrin von der „Morgenstund mit Gold im Mund“ noch immer fest, als müssten morgens Kühe gemolken und Hühner gefüttert werden. Dabei leben wir längst in einer Dienstleistungsgesellschaft, in der viele, viele Berufe verschobene Arbeitszeiten haben – Polizisten, Krankenschwestern, Rettungssanitäter, Medienleute, Gastgewerbe, Tankstellen-Kassierer, Hotline-Mitarbeiter.
Sie alle arbeiten zu den unterschiedlichsten Zeiten, auch abends, nachts und am Wochenende. Journalisten bei Tageszeitungen arbeiten regelmäßig bis 19.00 Uhr, 20.00 Uhr abends, Fernsehkollegen auch – was glaubt Ihr, wer die Abendnachrichten macht? Wer die Lebensmittel über Nacht zum Supermarkt fährt? Den Bus und die Straßenbahn steuert?
Warum müssen Handwerker morgens um 7.00 Uhr anfangen?
Trotzdem müssen Handwerker morgens um 7.00 Uhr den Bohrer auspacken und den Abfluss reinigen, nach 16.00 Uhr hingegen kommt kaum noch einer. Warum? „Darüber habe ich noch nie nachgedacht“, bekannte einmal ein Präsident einer Handwerkskammer uns gegenüber. Der fleißige Handwerker hat morgens um 7.00 Uhr auf der Matte zu stehen – warum, weiß eigentlich kein Mensch.
Klar, manche Berufe müssen früh raus, Bäcker etwa – aber warum Finanzamt, Schuster, Metzger, Handelskammer-Mitarbeiter oder Werbefachmann? Es gibt keine logische Begründung. Die Steuererklärung ist auch nach 16.00 Uhr noch frisch, die Schuhe laufen auch nicht davon – und gerade in kreativen Berufen wie Werbung, Architekten, Grafikern, Schreiberlingen 😉 werden zu späteren Uhrzeiten wesentlich bessere Ergebnisse erzielt. Habt Ihr Euch nie gefragt, warum Geistesblitze immer nachts kommen? Eben. Ausgeschlafen, motiviert und warm gelaufen – so läuft unser Gehirn einfach besser.
16 Prozent bestimmen, wie 84 Prozent zu leben haben
Doch wir lassen 16 Prozent unserer Gesellschaft bestimmen, wann unser Tagesablauf anzufangen hat, 84 Prozent müssen sich dem unterordnen. Und das ist auch noch eine völlig intolerante Gesellschaftsgruppe, die Langschläfer als „Taugenichtse“, „Tagesdiebe“, „Faulpelze“, „Nichtsnutze“, „Schaffnix“ und so weiter diffamiert. Wie viele Schimpfwörter kennt Ihr für Frühaufsteher? Eben.
Vielleicht sollte man sie erfinden: „Morgenquassler“, „Morgenruhestörer“ – wie wär’s damit? Nicht, weil wir gerne Leute beschimpfen, sondern um einfach mal klar zu machen: IHR maßt Euch an, der Mehrheit zu diktieren, was richtig und gut ist. Und Ihr beschimpft auch noch die, die anders sind.
Langschläfer sind nämlich wesentlich toleranter. Langschläfer sind zudem – sagen die Schlafforscher – fitter, gesünder, schlanker, konzentrationsfähiger, leistungsfähiger und produktiver. Unsere Gesellschaft ignoriert das einfach. Zeit, das zu ändern! Deshalb heißt die Gute Sache bei Mainz& heute: Preist die Langschläfer! Sagt jedem Spätaufsteher, dem Ihr heute begegnet, etwas Nettes! Und schlaft selbst mal wieder ausgiebig, länger, genüsslicher und ohne Reue. Und zwar dann, wenn IHR wollt und es braucht. Weil es gut für Euch ist – und gut für die Gesellschaft.
Info& auf Mainz&: „Die Schlaflose Gesellschaft – Schlafstörungen in unser heutigen Zeit“, so heißt eine Veranstaltung im Rahmen des Schlafforscherkongresses am Samstag, dem 5. Dezember im Mainzer Rathaus. Von 10.30 Uhr bis 13.00 Uhr geht es im Ratssaal um Schlafstörungen, Burnout und Depressionen, um Schnarchen, reduzierte Lebensqualität, Lernfähigkeit und die Auswirkungen auf Arbeitsleben, Verkehr und Gesundheit. Ort: Ratssaal im Rathaus, Eintritt frei. Mehr zur Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin vom 3. bis 5. Dzember in Mainz findet Ihr hier.