Es war ziemlich zu Beginn der Sitzung „Mainz bleibt Mainz“, kurz nach dem Protokoll, als Sitzungspräsident Andreas Schmitt ein sehr altes Mainzer Narrenwort zitierte: „Was lacht und weint, der Narr vereint“ sagte Schmitt – es ist das ganz besondere Markenzeichen der Mainzer Fastnacht. Im Gegensatz zum rheinischen Karneval wird in Mainz auf Politik und durchaus auch nachdenkliche Töne gesetzt – die Mainzer Fernsehsitzung des Jahres 2022 zeichnet sich dadurch ganz besonders aus: Vor allem die politischen Redner nehmen kein Blatt vor den Mund, dazu gibt es viel jungen Schwung und fetzige Musik. In Mainz gibt es deshalb viel Kritik an der Absetzung der Sendung aus dem ZDF-Hauptprogramm – und ein Plädoyer für die Fastnacht gerade als Vertreterin einer freien Gesellschaft mit Meinungsfreiheit und Demokratie.
Am Donnerstagabend hatte das ZDF beschlossen, die traditionsreiche Mainzer Fernsehsitzung am Freitagabend nicht im Hauptprogramm auszustrahlen, sondern sie stattdessen nur in der Mediathek zur Verfügung zu stellen – in Mainz löste das Zustimmung, aber auch viel Kritik aus. „Wir haben lange diskutiert“, sagte der Präsident des Karneval Club Kastel (KCK), Dirk Loomans, gegenüber Mainz&, die Entscheidung des ZDF könne er durchaus nachvollziehen: Der Zuschauer komme womöglich vom Brennpunkt zum Krieg in der Ukraine direkt zu „Helau“ im Mainzer Schloss, „das ist ein harter Übergang“, sagte Loomans.
Dennoch: „Wenn wir Fastnacht ernst nehmen, sind das jetzt die Zeiten, wo man einem Agigator das lachende Narrengesicht entgegen halten muss“, sagte Loomans auch. „Mainz bleibt Mainz“ 2022 sei eine ausgesprochen gute Sitzung, „es wäre auch falsch, sie gar nicht zu zeigen“, betonte er zugleich. Die Entscheidung, die Sitzung nur in der Mediathek zu zeigen, befürworte er, inzwischen hätten sich aber gerade viele Ältere gemeldet, berichtete Loomans: „Die haben angerufen, und haben gesagt: Wir haben kein Internet“ – das sei ein echtes Problem. Er habe deshalb dem ZDF inzwischen vorgeschlagen, die Sendung vielleicht doch noch im Fernsehprogramm auszustrahlen – eventuell in einem der ZDF-Unterkanäle.
Auch beim Gonsenheimer GCV hatten sie für die Ausstrahlung der Sendung votiert, wie der Verein auf seiner Facebookseite bekannt gab: „Es war und ist auch eine Sitzung mit vielen politischen Beiträgen, die zeigt, wie eine offene, demokratische Gesellschaft mit Meinungsfreiheit funktioniert“, sagte GCV-Präsident Martin Krawietz, und betonte: „Diese Werte zu leben ist uns als Fastnachter ein wichtiges, grundlegendes Anliegen.“ Aufrufe zu Toleranz und Gerechtigkeit hätten in der Mainzer Fastnacht ihren festen Platz, dazu brauche es gerade in schwierigen Zeiten „helle und unbeschwerte Momente“.
Tatsächlich nimmt gerade die Politik-Kritik in diesem Jahr besonders viel Raum ein bei „Mainz bleibt Mainz“: Gleich fünf politische Redner nehmen ihren Platz in der Bütt ein, sie alle halten mit feiner Narren-Kritik Politik und Gesellschaft den Narrenspiegel vor und nehmen Fehlentwicklungen aufs Korn. Das trifft in diesem Jahr vor allem Neu-Kanzler Olaf Scholz (SPD): „Haben Sie den Scholz seit der Vereidigung schon mal gesehen?“ fragt etwa Florian Sitte, der in diesem Jahr als Grüner Anton Hofreiter in der Bütt steht.
Und auch die „Moguntia“ alias Johannes Bersch geht mit dem, Kanzler scharf ins Gericht, ruft gar eine BKA-Fahndung nach dem neuen Chef der Bundesregierung aus: „Tatendrang und Entschlossenheit sind gefährliche Waffen“, sagte Bersch mit ernster Miene, „der Gesuchte ist vermutlich unbewaffnet…“ Es sind genau diese Sätze, für die die Mainzer Fastnacht berühmt ist: Politische Satire, Volkes Mund – und ein Ventil für Ungerechtigkeiten und Empörung über die Machenschaft der Mächtigen zu liefern.
Es war schon immer genau diese Facette, die gerade die politisch-literarische Fastnacht in Mainz auch zur Trösterin der Republik machte – nicht umsonst war es auf der Mainzer Narrenbühne, dass Ernst Neger, der singenden Dachdecker sein „Heile, heile Gänsje“ sang. Das Trostlied in der trüben deutschen Nachkriegszeit wurde zum Herzenslied nicht nur der Mainzer, sondern zum großen Trostspender der Republik – seine Nachfolge haben 77 Jahre danach das Lied seines Enkels Thomas Neger, „Im Schatten des Doms“, aber auch die Fastnachtshymnen der jungen Mainzer Musikergarde angetreten.
Thomas Neger mit seiner Hymne, Oli Mager mit seinem „Dann ist Fassenacht in Mainz“ und allen voran die Brüder Andreas und Matthias Bockius mit ihrem neuen Sensations-Hit „Alles wird gut“ bescherten denn auch am Mittwochabend dem Publikum im Mainzer Schloss bei der Aufzeichnung der Sendung große Gänsehaut-Momente, die auch für eine bundesweite Ausstrahlung am Freitag getaugt hätten. Selbst die Kokolores-Redner schienen gedämpfter als sonst, das ZDF zauberte eine ungemein farbenfrohe, aber gleichzeitig fast poetische Stimmung ins Kurfürstliche Schloss – und selbst die Mainzer Hofsänger kamen ganz neu in moderner Form gleich zu Beginn der Sendung mit neuem Lied daher.
Die 150 Gäste im Saal schunkelten und feierten, aber nicht hemmungslos-ausgelassen wie es in Köln an Weiberfastnacht zu sehen war – die Gäste im Schloss saßen auf Abstand, die Stimmung war fröhlich, aber eine Party ohne Verstand sehen die Zuschauer dort nicht. Im Gegenteil: Stehende Ovationen bekommen vor allem die Politik-Redner für ihre klaren Ansagen zu Leid, Not und auch zu drohendem Krieg – denn der Konflikt in der Ukraine, er beschäftigte die Redner auch schon vor dem Kriegsausbruch am Donnerstagmorgen. „Besser als so ein unsäglicher Krieg in der Ukraine wäre doch ein fairer Zweikampf“, schlägt da etwa Sitte vor: „Wladimir Putin gegen Vitali Klitschko.“ Die stärksten Sätze aber findet Kabarettist Lars Reichow, der nach einigen Formtiefs in vergangenen Jahren, in diesem Jahr mit einem furiosen und brillanten Vortrag daherkommt.
Reichow geht nicht nur scharf ins Gericht mit den „geistig Vulnerablen“ und geißelt Querdenker und Demokratiefeinde, wenn er klar sagt: „Mit Nazis, Antisemiten aller Art, gewaltbereiten Querdenkern und aggressiven Spaziergängern werden wir auch nach dem Ende der Pandemie nicht ins Gespräch kommen.“ Gleich vier Mal wurde Reichows Vortrag von stehenden Ovationen unterbrochen, denn Reichow nahm schon am Mittwochabend zur Ukraine und der Politik von Russlands Präsident Wladimir Putin kein Blatt vor den Mund: „Der Frieden in Europa ist in Gefahr“, sprach Reichow, denn „angeblich fehlen Putin Teile für ein Sowjet-Puzzle aus den 90er Jahren.“
Putin aber, sprach Reichow, „hat keine Angst vor der Nato, er hat Angst vor Demokraten in seiner Nachbarschaft – Demokratie ist nämlich ansteckend.“ Und dann fügte Reichow noch hinzu: „Aber die Freiheit von Menschen ist für uns nicht verhandelbar, und auch unsere Fastnacht ist ein Ausdruck von Freiheit – und den werden wir niemals aufgeben.“ Reichow kritisierte denn auch die Entscheidung des ZDF, die Sendung nur in die Mediathek zu verbannen. „Es wäre sehr schade, wenn die Sendung ausfallen würde, ich denke, sie sollte ausgestrahlt werden, wenn sich die Lage nicht massiv verschlechtert“, schrieb Reichow auf seinem Facebook-Account – wenn schon, dann müsse man alle Unterhaltungssendungen streichen.
Und auch Kokolores-Redner Jürgen Wiesmann, der mit seinem Ernst Lustig erneut für Lachsalven sorgte, meldete sich auf Facebook zu Wort, sogar in gereimter Form:
Eine Studie der Oechsle Universität in Gau-Bickelheim, sagte Johannes Bersch in der Sitzung als „Karl Lauterbach“ noch, „hat eindeutig gezeigt: Lachen ist die beste Medizin“ – viele in der ganzen Republik hätten sich diese Medizin gerade auch in Kriegszeiten gewünscht. Und gleich zu Beginn der Sitzung hatte Erhard Grom sein absolut furioses Protokoll der politischen Ereignisse des vergangenen Jahres so geschlossen: „Die Nachrichten sind schlimm und schaurig, sie machen uns unendlich traurig“, sagte Grom – doch genau deshalb brauche es auch Stunden der Fröhlichkeit und der Narretei: „Sie schenken Kraft und Zuversicht“, sprach der Narr aus der Bütt: „Denn Tränen, die man lacht, die kann man nicht weinen.“
Andreas Schmitt – der als Obermessdiener übrigens in diesem Jahr wegen einer schweren Bronchitis-Erkrankung pausieren muss – dankte Grom für seine nachdenklichen und eindringlichen Zeilen: „Wir stehen hier, um ein Funkeln der Hoffnung, des Friedens und der Freude in die Welt zu tragen“, sagte Schmitt, und zitierte eben jene alte Mainzer Narrenweisheit: „Was lacht und weint der Narr vereint.“
Info& auf Mainz&: Mehr zur Entscheidung des ZDF, „Mainz bleibt Mainz“ 2022 nicht im Hauptprogramm zu zeigen, lest Ihr hier bei Mainz&. Mehr zum Programm der Fernsehsitzung findet Ihr zudem hier bei Mainz&. Und hier noch ein paar Eindrücke von der Aufzeichnung der Sendung am Mittwoch: