Gegen die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan haben am Freitagabend Hunderte Menschen in Mainz protestiert. „Mein Herz bricht“, sagte eine junge Afghanin in einer bewegenden Rede, sie bange um ihre Verwandten und um alle Frauen, um die vielen, die jetzt in Angst lebten. Der Mainzer Oberbürgermeister Michael Ebling (SPD) betonte: „Wir sind jetzt gefragt, Schutz zu geben – wir helfen, was denn sonst?“ Seit der Machtübernahme der radikal-islamistischen Taliban vor einer Woche herrscht in Kabul rund um den Flughafen Chaos, Tausende versuchen aus dem Land zu fliehen. Ein auf dem Weg zum Flughafen angeschossener Mann ist nach Informationen des SWR ein 27 Jahre alter Mainzer.

Evakuierungsflug der Bundeswehr aus Kabul - Foto: Verteidigungsministerium via Twitter
Evakuierungsflug der Bundeswehr aus Kabul – Foto: Verteidigungsministerium via Twitter

Nach dem Abzug der amerikanischen und europäischen Streitkräfte hatten die radikal-islamistischen Taliban vor einer Woche im Eiltempo nicht nur weite Teile Afghanistans, sondern vergangenes Wochenende auch die Hauptstadt Kabul übernommen. Die afghanische Armee setzte dem Vormarsch der Gotteskrieger keinerlei Widerstand entgegen, die afghanische Regierung floh außer Landes. Die westlichen Ländern wie Deutschland und die USA zeigten sich überrascht: mit diesem schnellen Zusammenbruch habe man nicht gerechnet, kein Geheimdienst habe das vorhergesehen.

Seither herrscht vor allem in der afghanischen Hauptstadt Kabul Chaos, weil Tausende Afghanen in Angst versuchen außer Landes zu fliehen. Die einzige Chance dazu besteht über den Flughafen Kabul, der weiterhin von den US-Militärs kontrolliert wird, doch deren Einfluss endet direkt an den Toren: Berichten zufolge haben die Taliban zahlreiche Checkpoints in der Stadt errichtet und lassen nur ausländische Staatsbürger zum Flughafen durch. Vor dem haben sich indes bereits Tausende versammelt, die zunehmend verzweifelt versuchen, auf das Gelände zu gelangen und eines der Transportflugzeuge der westlichen Armeen zu erreichen – die meisten vergebens.

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Hubschrauber für Kabul. - Foto: Verteidigungsministerium via Twitter
Hubschrauber für Kabul. – Foto: Verteidigungsministerium via Twitter

Das Gedränge vor dem Flughafen wird indes zunehmend gefährlich auch für die, die auf Evakuierungslisten stehen, und deshalb zum Flughafen zu gelangen versuchen. Die Amerikaner sollen zwei Schleusen im Norden  des Geländes kontrollieren, doch gerade Deutsche berichten immer wieder, sie würden von den US-Soldaten nicht durchgelassen – Kontakt zum Auswärtigen Amt oder zu Evakuierungskräften sei nicht zu bekommen. Die Bundeswehr hat inzwischen zwei Hubschrauber nach Kabul geflogen, mit denen versucht werden soll, in Kabul wartenden Deutsche sowie afghanische Ortskräfte an den Flughafen zu bringen.

In dem Gedränge vor dem Flughafen fallen derweil immer wieder Schüsse, es soll bereits mehrere Tote und Verletzte gegeben haben, Menschen wurden zu Tode getrampelt. Der SWR berichtete am Samstag, unter den Verletzten seien auch zwei Deutsche – bei einem davon handele es sich um einen 27 Jahre alten Mainzer. Der Mann sei auf dem Weg zum Flughafen in Kabul am Mittwoch angeschossen und am Arm getroffen worden, berichtete der SWR. Die Verletzungen seien nicht lebensbedrohlich, der Mann sei in einem Krankenhaus versorgt und am Freitag nach Deutschland ausgeflogen worden. Der ursprünglich aus Afghanistan stammende Mann lebe seit mehreren Jahren in Mainz und habe die deutsche Staatsangehörigkeit, er sei zu Besuch bei Verwandten in Afghanistan gewesen, als die Taliban Kabul einnahmen.

Hunderte protestierten am Freitag in Mainz gegen die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan. - Foto: gik
Hunderte protestierten am Freitag in Mainz gegen die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan. – Foto: gik

In Mainz protestierten derweil am Freitagabend Hunderte in einer großen Kundgebung vor dem Staatstheater gegen die Machtübernahme der Taliban, darunter nicht nur viele Afghanen: Etwa die Hälfte der Protestierenden waren nicht-afghanische Mainzer, Reden hielten unter anderem die Grünen-Bundestagsabgeordnete Tabea Rößner und der SPD-Bundestagskandidat Daniel Baldy. Rößner und Baldy forderten, die Luftbrücke aus Kabul heraus müsse unbedingt offen bleiben. „Diese Menschen dürfen wir nicht im Stich lassen“, betonte Rößner, es gehe jetzt um die Verantwortung, die Deutschland für die Menschen in Afghanistan habe, die 20 Jahre lang der Bundeswehr vor Ort geholfen hätten.

„Mein Herz ist im Moment in Afghanistan“, sagte Rößner, sie bange und leide mit denen, „die daran geglaubt haben, aus Afghanistan ein demokratisches Land“ machen zu können. Auch der Mainzer Bundestagskandidat der Linken, Gerhard Trabert (parteilos), kritisierte: „Wieder enttäuschen die westlichen Demokratien, da sie die Menschen, denen sie die Werte von Freiheit und Gleichheit und Gerechtigkeit vermittelt haben, im Stich lassen.“ Die Aufgabe der Stunde sei es nun, die Menschen vor den Taliban zu retten, gerade Frauen, Kinder und Männer, die mit den westlichen Vertretern kooperiert hätten, seien „existentiell gefährdet“, betonte Trabert in einer vor Ort verlesenen Grußbotschaft. Den Menschen müsse nun unbürokratisch geholfen werden, Asylanträge müssten genehmigt, niemand dürfe mehr nach Afghanistan abgeschoben werden. „Wer jetzt nicht handelt ist für den Tod zahlreicher Menschen mit verantwortlich“, betonte Trabert.

Der Organisator der Kundgebung, Behrouz Asadi vom Malteser Hilfsdienst, bei seiner Rede. - Foto: gik
Der Organisator der Kundgebung, Behrouz Asadi vom Malteser Hilfsdienst, bei seiner Rede. – Foto: gik

„Am Hindukusch entscheidet sich derzeit die Frage, ob die Unteilbarkeit von Menschenrechten in Deutschland noch etwas gilt“, sagte auch Torsten Jäger vom Initiativausschuss für Migrationspolitik Rheinland-Pfalz, und forderte: „Wir brauchen die Evakuierung aller Ortskräfte.“ Es brauche einen sofortigen echten Abschiebestopp, Asylanträge für Afghanen müssten umgehend wieder bearbeitet und positiv entschieden werden. Dass derzeit Asylanträge afghanischer Antragsteller nicht mehr entschieden würden, „das ist ein Skandal“, schimpfte Jäger. Die Landesregierung Rheinland-Pfalz forderte er auf, sie müsse afghanische Asylsuchende „ganz schnell aus den Erstaufnahmeeinrichtungen entlassen“, damit diese in den Kommunen die Integrationsangebote wahrnehmen könnten.

Der Mainzer Oberbürgermeister Michael Ebling (SPD) sicherte Unterstützung und die Bereitschaft zur Aufnahme zu: „Wir helfen, was denn sonst?“ betonte Ebling, und dankte allen, die am Freitag zum Theater gekommen seien: Sie sendeten ein Signal der Solidarität und der Anteilnahme, das von einer weltoffenen Stadt ausgeht – gut, dass Sie heute Abend hier sind.“ Man müsse „kein Experte sein, um zu sehen, dass das außenpolitisch ziemlich daneben gegangen ist“, sagte Ebling weiter: „Wir sind beschämt, wir sehen das Elend und wir leiden mit, und wir wollen helfen.“

Eine junge Afghanin protestierte am Freitag vor dem Mainzer Staatstheater gegen die Machtübernahme der Taliban. - Foto: gik
Eine junge Afghanin protestierte am Freitag vor dem Mainzer Staatstheater gegen die Machtübernahme der Taliban. – Foto: gik

Die Luftbrücke müsse funktionieren, Deutschland sei „jetzt gefragt, Schutz zu geben“, und zwar den Kindern, den Frauen, aber auch „allen, die es unter einem terroristischen Regime nicht aushalten“, forderte Ebling. Gleichzeitig verteidigte er den Einsatz der Bundeswehr in den vergangenen 20 Jahren in Afghanistan: „Die Hilfe war nicht umsonst“, betonte Ebling, „dort, wo die Saat der Demokratie ausgesät wurde, wird diese Saat auch aufgehen.“

Gleichzeitig griff er scharf die CDU an, die unmittelbar nach der Machtübernahme der Taliban unter der Überschrift „2015 darf sich nicht wiederholen“ vor Flüchtlingsströmen nach Europa gewarnt hatten. „Es ist perfide, wenn dieses mitmenschliche Gefühl verdreht wird und zusammengebracht wird mit Bildern von Flüchtlingsströmen, die uns erreichen würden“, kritisierte Ebling: „Das ist perfide, denn es kratzt an unserem Menschsein.“

Auch diverse afghanische Redner forderten die Weltgemeinschaft auf, bei der Zerstörung von Demokratie und Menschenrechten in Afghanistan nicht wegzusehen. „Dieses Terrorregime wird ein Blutbad anrichten, jeglicher Schrei nach Freiheit und Bewegungsfreiheit wird unterdrückt werden“, hatte bereits im Vorfeld der Organisator der Kundgebung, Behrouz Asadi, Leiter des Migrationsbüros Rheinland-Pfalz des Maltester Hilfsdienstes, im Interview mit Mainz& betont – das ganze Interview lest Ihr hier. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums wurden inzwischen mehr als 2.100 Menschen aus Kabul evakuiert, das Mainzer Integrationsministerium teilte am Sonntag mit, die ersten 200 Menschen seien in der Aufnahmeeinrichtung des Landes in Bitburg angekommen.

Junge afghanische Rednerin bei der Demonstration für Afghanistan am Freitag in Mainz. - Foto: gik
Junge afghanische Rednerin bei der Demonstration für Afghanistan am Freitag in Mainz. – Foto: gik

Es waren aber vor allem junge afghanische Frauen, die eindringlich schilderten, wie sehr sie um ihr Herkunftsland und die Verwandten dort vor Ort, ja um alle Menschen dort bangten. „Mein Herz bricht für all die Frauen, die schreiend am Telefon um Hilfe flehen, weil das Leben einer Frau in Afghanistan nichts mehr wert ist“, sagte eine junge Afghanin: „Mein Herz bricht für jeden, der in Angst lebt, und nicht weiß, ob es ein Morgen geben wird.“ Wieso habe es so weit kommen müssen, dass sich Menschen am Kabuler Flughafen in Verzweiflung von außen an Flugzeuge gehängt hätten, „obwohl Wochen und Monate vorher gewarnt wurde“, kritisierte sie: „Stehen nicht Menschenrechte an oberster Stelle in der Demokratie?“

Als Afghanin und im Namen aller Afghanen fordere sie, „dass die Regierung der Taliban nicht anerkannt, sondern verurteilt wird“, sagte die Rednerin unter großem Applaus der Menge, es dürfe keine Gespräche mit den als extremistisch eingestuften Taliban geben. „Wenn die Sicherheit Deutschlands am Hindukusch verteidigt wurde, ist es jetzt nicht gefährlicher als je zuvor?“, fragte eine weitere junge Afghanin in Anspielung auf den berühmten Satz des früheren Bundesverteidigungsministers Peter Struck (SPD).

Afghanistan sei in Gefahr - davor warnten die Protestierenden bei der Solidaritäts-Demo. - Foto: gik
Afghanistan sei in Gefahr – davor warnten die Protestierenden bei der Solidaritäts-Demo. – Foto: gik

„Ich komme aus einem Land, das ich nie wirklich kennen lernen durfte“, sagte die Afghanin weiter, „ein Land, das die Gerechtigkeit vermisst, ein Land, das am 15. August mal wieder gestorben ist.“ Aufgeben aber, so signalisierten sie hier, werden sie nicht: „Wir werden kämpfen, bis wir das Licht in den Augen unserer Eltern und Verwandten wieder sehen.“

Info& auf Mainz&: Mehr zu der Einschätzung von Afghanen und Flüchtlingsexperten, zu den Gefahren, die vor allem Frauen, Minderheiten und Menschenrechtsaktivisten jetzt in Afghanistan drohen, lest Ihr hier auf Mainz&.

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