Das Chaos beim Abzug der Bundeswehr und der US-Truppen in Afghanistan hat auch in Mainz großes Entsetzen ausgelöst. Die Grünen kritisierten am Montag die Bundesregierung schwer und warfen ihr schwere Versäumnisse bei der Evakuierung von Deutschen sowie afghanischen Hilfskräften vor. Die Mainzer Bundestagsabgeordnete Tabea Rößner forderte Aufklärung, wie es zu der ungeheuren „Fehleinschätzung der Bundesregierung“ kommen konnte. Die rheinland-pfälzische Integrationsministerin Katharina Binz (Grüne) forderte umgehend einen Abschiebestopp für Menschen aus Afghanistan sowie eine Bleibelösung für Afghanen, die bisher nur mit einer Duldung in Deutschland sind.

US-Airforce-Maschine auf dem Flughafen von Kabul, umringt von Afghanen, die versuchen zu flüchten. - Screenshot: gik
US-Airforce-Maschine auf dem Flughafen von Kabul, umringt von Afghanen, die versuchen zu flüchten. – Screenshot: gik

Am Montag war die afghanische Hauptstadt Kabul im Chaos versunken, nachdem die Taliban bereits am Sonntag die afghanische Hauptstadt nach dem Abzug der US-Truppen eingenommen hatten. Die Politik in Berlin und Washington zeigte sich von der Entwicklung völlig überrascht: Man habe nicht damit gerechnet, dass die Taliban das Land so schnell übernehmen würden, sagte Außenminister Heiko Maas (SPD) in Berlin. Tatsächlich hatten die afghanische Militärkräfte das Land weitgehend kampflos den Talibantruppen überlassen, der rasant schnelle Vormarsch der radikalen Gotteskrieger sorgte für Erstaunen, Entsetzen – und am Montag für völlig chaotische Zustände in Kabul.

Vom Flughafen in Kabul wurden dramatische Bilder verbreitet, Hunderte Afghanen drängten sich ohne jede Kontrolle oder Absperrungen auf dem Rollfeld, kletterten teilweise sogar auf eine startende US-Maschine – mehrere Menschen stürzten von der Maschine nach ihrem Start aus gro0ßer Höhe in den Tod. Warum die Maschine nicht abgeschirmt worden war, wo sich die US-Truppen befanden, die angeblich den Flughafen sichern sollten, blieb am Montag völlig unklar – ebenso, warum Hunderte Menschen stundenlang die Rollbahn des Flughafens blockieren konnten. Die Konsequenz: Auch deutsche Militärmaschinen konnten zur Evakuierung in Kabul nicht landen, ein Militärflugzeug der Bundeswehr kreiste fünf Stunden lang vergeblich über dem Flughafen, bevor es doch noch landen konnte.

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US Airforce Maschine mit 640 Flüchtlingen aus Afghanistan an Bord in Kabul. - Foto: via Twitter
US Airforce Maschine mit 640 Flüchtlingen aus Afghanistan an Bord in Kabul. – Foto: via Twitter

Die Maschine landete dann so spät in der Nacht, dass in Kabul bereits eine Ausgangssperre herrschte, und weder Deutsche noch afghanische Hilfskräfte, die eigentlich auch evakuiert werden sollten, keine Chance mehr hatten, zum Flughafen zu kommen. Die Bundeswehrmaschine startete schließlich nach kurzer Zeit wieder – mit lediglich sieben evakuierten Personen an Bord. Das sorgte für neuerliches Entsetzen, hatten doch die Amerikaner am gleichen Tag rund 640 Menschen in einer völlig überfüllten Air Force-Maschine in Sicherheit geflogen.

Außenminister Maas bestätigte am Dienstag in einer Pressekonferenz, die Taliban hätten Checkpoints in Kabul eingerichtet und würden nur Menschen mit ausländischem Pass durchlassen – afghanische Hilfskräfte haben somit keinerlei Möglichkeit derzeit, an den Flughafen zu kommen, der derzeit die einzige Möglichkeit darstellt, das Land zu verlassen – die Landgrenzen seien alle geschlossen worden, berichtete der Außenpoli9tikexpoerte der Grünen im Bundestag, Omid Nouripour, am Montag in Mainz.

Die Grünen übten auf einer Pressekonferenz scharfe Kritik am Krisenmanagement der Bundesregierung und vor allem an der völlig gescheiterten Evakuierung sowohl von Mitarbeitern der deutschen Botschaft als auch von afghanischen Hilfskräften. „Wir haben eine riesige Kette von Fehlern gesehen“, sagte Nouripour. Seit Monaten habe es Warnungen zahlreicher Experten vor der Entwicklung nach dem Abzug der Amerikaner gegeben, „man konnte sehr genau vorhersehen, was passieren würde“, betonte Nouripour.

Startende US-Maschine am Flughafen Kabul. - Screenshot: gik
Startende US-Maschine am Flughafen Kabul. – Screenshot: gik

Stattdessen sei „ganz viel Zeit vergeudetet worden“ bei der Evakuierung, Warnhinweise der Deutschen Botschaft in Kabul sowie dem Bundesnachrichtendienst BND seien „reihenweise ignoriert“ worden, kritisierte Nouripour weiter. Zuletzt sei offenbar auch noch Hilfe der Amerikaner zur Evakuierung nicht angenommen worden, sagte der Bundestagsabgeordnete: „Das ist ein ganz, ganz schlimmes Versagen.“ Auch die rheinland-pfälzische Integrationsministerin Katharina Binz (Grüne) kritisierte, die Bundesregierung habe wochenlang versucht, die Gruppe der zu evakuierenden Helfer „so klein wie möglich zu rechnen.“ Noch am 19. Juli habe sie den Bund aufgefordert, Charterflüge für die Evakuierung der Ortskräfte zu organisieren – geschehen sei nichts.

Binz forderte, das Bundesinnenministerium müsse nun umgehend einen echten Abschiebestopp für Menschen aus Afghanistan erlassen. Bislang gebe es nur eine vorläufige Aussetzung der Abschiebung, das reiche jetzt aber nicht mehr aus: „Es ist ja jetzt offenkundig, dass auf absehbare Zeit kein Weg zurück möglich ist“, betonte Binz. Ein echter Abschiebestopp wäre „ein wichtiges Zeichen“ für die hier lebenden Afghanen, dass sie keine Abschiebung fürchten müssten.

Afghanen versuchen, ein Flugzeug auf dem Flughafen Kabul zu stürmen. - Screenshot: gik
Afghanen versuchen, ein Flugzeug auf dem Flughafen Kabul zu stürmen. – Screenshot: gik

Nach Angaben der Ministerin leben derzeit 7.338 afghanische Staatsangehörige mit Schutzstatus in Rheinland-Pfalz, davon aber haben 3.848 nur eine Duldung, weil ihr Asylantrag nicht anerkannt wurde. Um diese Menschen müsse man sich nun kümmern, betonte Binz und forderte: „Wir müssen für diese Afghanen einen Weg ins Bleiberecht schaffen und ihnen ermöglichen, sich hier eine Perspektive aufzubauen.“

Nouripour sagte weiter, er mache sich sehr große Sorgen um die verbliebenen Deutschen und die einheimischen Hilfskräfte. Die Lage in Afghanistan spitze sich dramatisch zu, die Landgrenzen seien inzwischen komplett geschlossen – und die Taliban drohten gerade damit, binnen 48 Stunden den Flughafen von Kabul zu stürmen. Afghanistan-Experten in Deutschland wie auch in den USA betonten zudem, die Taliban träten derzeit zwar ausgesprochen „weich“ auf und gäben sich moderat, glaubwürdig sei das aber nicht. „Die Taliban treten weich auf, aber es spricht nichts dafür, dass das so bleibt“, sagte auch Nouripour.

Bedrohte Frauenrechtlerin in Afghanistan und verschleierte Frau mit Burka. - Fotos: Screenshots via Weltspiegel
Bedrohte Frauenrechtlerin in Afghanistan und verschleierte Frau mit Burka. – Fotos: Screenshots via Weltspiegel

Die Taliban nennen sich selbst Gotteskrieger, ihr Ziel ist es, ein islamisches Kalifat zu errichten, seit ihrer Machtübernahme gilt nun das Rechtssystem der Scharia, die auf den Grundsätzen von islamischer Glaubensauslegung und der Interpretation des Korans beruht. Die Scharia sieht unter anderem drastische Strafen vor wie etwa das Abhacken einer Hand oder eines Arms bei Diebstahl, Homosexuellen, die bei sexuellen Handlungen angetroffen werden, droht ebenfalls die Todesstrafe – etwa durch das Erschlagen durch eine Mauer. Auch Frauen sind unter dem Rechtssystem der Scharia nicht gleichgestellt: Sie dürfen sich nur noch verschleiert und in Begleitung von Männern in der Öffentlichkeit bewegen, ob sie noch Schulen und Universitäten besuchen dürfen, ist ausgesprochen fraglich.

Ersten Berichten zufolge wurde Frauen der Besuch von Universitäten in Teilen des Landes bereits verwehrt, aus anderen Städten gibt es Berichte, dass die Taliban die Herausgabe aller Mädchen ab 15 Jahren forderten – vermutlich, um sie mit ihren Kriegern zwangszuverheiraten. Nouripour sagte, alle Afghaninnen, die er kenne, lebten derzeit „in sehr, sehr großer Angst“ vor der Zukunft, sie rechneten damit, dass viele ihrer Grundrechte massiv eingeschränkt würden. „Es gibt seit Jahren Todeslisten der Taliban, ausschließlich mit Frauenrechtlerinnen“, sagte Nouripour auf Mainz&-Nachfrage weiter: „Es ist extrem zu befürchten, dass die jetzt ausgeführt werden.

Interview im Heutejournal mit Marcus Grotian durch Marietta Slomka. - Screenshot: gik
Interview im Heutejournal mit Marcus Grotian durch Marietta Slomka. – Screenshot: gik

Berichten von Hilfsorganisationen in Kabul zufolge mussten bereits die eigentlich als Schutzräume eingerichteten sogenannten „sicheren Häuser“ aufgelöst werden, weil sie zu Todesfallen zu werden drohten. „Die Taliban gehen von Tür zu Tür und suchen nach unseren Ortskräften“, berichtete Marcus Grotian vom Patenschaftsnetzwerk afghanische Ortskräfte am Montagabend im Heutejournal. Man habe den Kräften nun geraten, in der Bevölkerung unterzutauchen. Die Bundesregierung habe seine Organisation nicht dabei unterstützt, diese Kräfte in Sicherheit zu bringen, sagte Grotian weiter. Jetzt sei die Situation ausgesprochen schwierig: Die Ortskräfte hätten wohl „keine realistische Chance mehr“, überhaupt noch zum Flughafen zu kommen. Es sei schockierend, „dass wir an diesen Punkt kommen, wo wir keine andere Antworten mehr haben als zu sagen: Viel Glück.“

Diese Situation „haben wir immer wieder befürchtet, wir haben es angemahnt, dass es passieren könnte, wir haben Lösungen aufgezeigt, die keiner hören wollte“, sagte Grotian weiter, „nun lassen wir 80 Prozent unserer Ortskräfte und ihrer Familien in die Hände der Taliban fallen – das ist das Ergebnis.“ Nach seinem Kenntnisstand habe es seit Juni kein einziges Visumverfahren gegeben, die Ortskräfte hätten sich acht bis zehn Wochen in Kabul aufgehalten und vergeblich gehofft – ein entsprechend versprochenes Büro habe nie funktioniert. Jetzt säßen bis zu 500 Ortskräfte mindestens „in einer Todesfalle, das ist das Ergebnis der politischen Entscheidung.“

Außenminister Heiko Maas (SPD): "Lage falsch eingeschätzt". - Screenshot: gik
Außenminister Heiko Maas (SPD): „Lage falsch eingeschätzt“. – Screenshot: gik

Auch die Mainzer Bundestagsabgeordnete Tabea Rößner (Grüne) berichtete, sie bekomme „täglich massenweise Zuschriften“ von Firmen, die dringend darum bäten, ihre Mitarbeiter aus Afghanistan zu holen – darunter seien auch Zeitungsverlage, Journalistenverbände sowie Hilfsorganisationen oder Firmen wie DHL. Sie selbst habe bei einem Besuch in Afghanistan vor einigen Jahren sehr viele junge Menschen und Frauen getroffen, die in den vergangenen zwanzig Jahren in Freiheit und mit der Hoffnung aufgewachsen seien, ein besseres Afghanistan zu schaffen, sagte Rößner weiter: „Es ist erschütternd, wenn man weiß, wie sich das jetzt alles zurückdrehen wird und wie gerade den Frauen die Zukunft genommen wird.“

Rößner versprach zudem: „Wir werden tun, was wir tun können, wir bleiben da dran.“ Die Grünen hätten am Montag eine Sondersitzung des Parlamentarischen Kontrollgremiums im Bund beantragt, auch der Bundestag werde sich dringend mit der Afghanistan-Krise beschäftigen müssen. Rößner forderte Aufklärung, es müsse die Frage müsse geklärt werden: „Wie konnte es zu so einer Fehleinschätzung der Bundesregierung kommen?“

„Es gibt nichts zu beschönigen“, sagte Außenminister Maas schließlich am Abend in Berlin: „Wir alle, die Bundesregierung, die Nachrichtendienste, haben die Lage falsch eingeschätzt.“ Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) räumte zudem ein, man habe die Lager in Kabul „leider nicht mehr voll in der Hand“ – die Bundesregierung werde nun aber „alle Kanäle“ nutzen, um noch so viele Menschen wie möglich zu retten. Schockiert zeigte sich auch der rheinland-pfälzische CDU-Fraktionschef Christian Baldauf: „Was am Hindukusch gerade passiert, darf uns nicht kalt lassen“, sagte Baldauf. Oberstes Ziel müsse nun sein, alle gefährdeten Unterstützer und Ortskräfte „aus dem Land zügig und geordnet herauszuholen.“

Info& auf Mainz&: Das ganze Interview mit Marcus Grotian im Heutejournal könnt Ihr hier beim ZDF nachhören. Auch die Bilder aus Afghanistan haben wir aus den Berichten des Heutejournals herausfotografiert. Die ganze Sendung des Heutejournals vom 16. August 2021 findet Ihr hier im Netz.

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