Der 27. Januar ist der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, an jenem 27. Januar 1945 wurde das Konzentrationslager Auschwitz von den Alliierten befreit. Der Völkermord an den Juden – und anderen – radierte nicht nur Millionen Leben auf grausame Weise aus, der Holocaust war auch ein tiefer Einschnitt in die Kulturgeschichte Deutschlands. Zum 27. Januar 2022 empfehlen wir Euch deshalb eine ganz besondere Entdeckungsreise: Mit der Schum-App könnt Ihr nun das alte jüdische Mainz erkunden, durch das frühere Ghetto streifen, Synagoge und Alten jüdischen Friedhof erkunden – und das alles unter Führung von Rabbiner Levi und seiner Frau Magarethe.

Die neue Schum-App mit einem virtuellen Rundgang durch das jüdische Mainz - an der Seite von Rabbiner Levi. - Screenshot: gik
Die neue Schum-App mit einem virtuellen Rundgang durch das jüdische Mainz – an der Seite von Rabbiner Levi. – Screenshot: gik

Der junge Leon Schlesinger ist eigens aus Breslau gekommen, auf den Spuren seines jüdischen Urgroßvaters Max Schlesingers, um nach den Spuren eines alten Mainzer Rabbiners zu suchen: Sali Levi, der letzte Rabbiner von Mainz vor dem Zweiten Weltkrieg, Mitbegründer der Mainzer Volkshochschule und eines Museums jüdischer Altertümer, Leiter der jüdischen Bezirksschule und Mitbegründer des jüdischen Denkmalfriedhofes von Mainz.

Nun steht Schlesinger vor dem Holzturm in Mainz, als ein Mann um die 50 mit elegantem Bart zu ihm tritt – und sich als Rabbiner Levi vorstellt. Der Rabbiner entpuppt sich als eine Art spirituelles Echo aus der Vergangenheit, zusammen mit seiner Frau Margarethe führt er den jungen Mann aus Breslau zu den Spuren der jüdischen Vergangenheit in Mainz: das alte Judenviertel zwischen Flachsmarkt und Römerpassage, den Standort der jüdischen Synagoge im Mittelalter, das Ghetto an der heutigen Klarastraße.

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Es war vor 1000 Jahren, als das mittelalterliche Mainz am Rhein gemeinsam mit Speyer und Worms zum intellektuellen und religiösen Zentrum des Judentums in Europa wurde. In Magenza, dem goldenen Mainz, gab es eine blühende jüdische Gemeinde, berühmte Gelehrte wie der Rabbiner Gershom ben Jehuda, genannt „Leuchte des Exils“, gründeten eine Talmudakademie, die Studenten aus der ganzen Welt anzog. Im jüdischen Magenza wurden Gebete und Rituale des modernen Judentums neu gedacht und festgelegt, viele von ihnen gelten bis heute.

Die alte Hauptsynagoge von Mainz im Jahr 1912. - Foto: TU Darmstadt via Wikipedia
Die alte Hauptsynagoge von Mainz im Jahr 1912. – Foto: TU Darmstadt via Wikipedia

Den jüdischen Gemeinden am Rhein waren wechselvolle Schicksale beschieden: Kreuzfahrer plünderten und mordeten, die jüdischen gemeinden wurden zerstört und erblühten dennoch später wieder neu. Im 19. Jahrhundert und in der Weimarer Republik war jüdisches Leben in Deutschland ein fester Bestandteil der deutschen Gesellschaft, wie in Mainz entstanden große Synagogen, die den christlichen Kirchen in nichts nachstanden – so etwa die 1912 eingeweihte Hauptsynagoge in der Mainzer Neustadt. Jüdisches Leben blühte, viele Deutsche jüdischen Glaubens bereicherten die Kultur, die Musikszene und die Wissenschaft: Die Comedian Harmonists, Albert Einstein, Operntenor Albert Tauber – intellektuelles und kulturelles Leben ohne jüdische Mitbürger in der Weimarer Zeit: undenkbar.

Der Holocaust riss so auch eine Lücke in das Geisteslebens Deutschlands, die bis heute nicht geschlossen wurde, die Nationalsozialisten vernichteten Kulturgüter und Bücher, enteigneten jüdisches Eigentum, ließen Schulen und Museen der jüdischen Gemeinden verschwinden. Auch in Mainz wurde jüdisches Kulturgut unwiederbringlich zerstört – allen voran die große Hauptsynagoge, die in der Reichskristallnacht im November 1938 der Zerstörungswut der Nationalsozialisten und ihrer Ideologie zum Opfer fiel.

Die neue Synagoge in der Mainzer Neustadt am Ort der zerstörten Hauptsynagoge. - Foto: gik
Die neue Synagoge in der Mainzer Neustadt am Ort der zerstörten Hauptsynagoge. – Foto: gik

Doch in den vergangenen Jahren hat eine Wiederentdeckung des jüdischen Erbes in Mainz eingesetzt, vor allem aus der Blütezeit des jüdischen Magenza – und vor genau einem halben Jahr, am 27. Juli 2021 wurde das jüdische Erbe der Schum-Städte Mainz, Worms und Speyer Teil des Unesco-Weltkulturerbes. „SchUM“ steht dabei für die Anfangsbuchstaben der alten jüdischen Name Spira (Speyer), Wormatia (Worms, geschrieben mit einem „U“) und Magenza (Mainz), unter dem Namen „Schum“ waren die drei Städte als Hort der jüdischen Gelehrsamkeit bekannt in der ganzen damalig bekannten Welt.

Heute ist von dem alten jüdischen Erbe im Stadtbild von Mainz nur noch wenig zu sehen, und genau diesem Umstand will nun eine besondere App abhelfen: Die Schum-App führt bereits seit zwei Jahren Besucher auf den Spuren des jüdischen Erbes durch Speyer und Worms – im Dezember 2021 kam nun auch Mainz dazu. Das kleine Programm für Smartphones und Tablets wurde im Oktober 2019 gestartet, mit einem digitalen Stadtrundgang durch das jüdische Worms – das Projekt entstand in Zusammenarbeit mit dem Verein der Schum-Städte und dem Interdisziplinären Zentrum für digitales Erlebnisdesign der Fachbereiche Touristik / Verkehrswesen und Informatik der Hochschule Worms. Im April 2021 kam Speyer hinzu, und jetzt eben auch Mainz.

Die Schum-App lädt mit Geschichten zum Rundgang durch das jüdische Speyer, Worms und Mainz. - Foto: Schum-Städte
Die Schum-App lädt mit Geschichten zum Rundgang durch das jüdische Speyer, Worms und Mainz. – Foto: Schum-Städte

Konzipiert sind die Stadtrundgänge als sogenannte „Storytelling-Apps“, das Prinzip dabei: Anhand einer Geschichte wird der Besucher zu den Sehenswürdigkeiten und markanten Punkten der jüdischen Mainzer Geschichte geführt, Zeitgeschichte und menschliche Schicksale werden mit den Schauplätzen in den heutigen Städten verwoben. Und so steht der gespannte Zuhörer denn mit Leon Schlesinger und Rabbi Levi im alten jüdischen Ghetto von Mainz, flaniert mit Magarethe durch die Mainzer Neustadt zur neuen, 2010 eingeweihten Synagoge, und erfährt vom geplanten Gedenkzentrum am Ort der Deportation Mainzer Juden.

Lebendig und spannend entfaltet sich die Geschichte, die der Besucher entweder als Audioguide beim Gang durch die Stadt hören oder auch per Text zuhause auf dem Sofa lesen kann. Der Schauspieler Pius Maria Cüppers erweckt mit seiner Stimme Geschichte und Protagonisten zum Leben, und man bekommt wirklich das Gefühl, mit Leon das alte jüdische Mainz mitzuentdecken. Endpunkt und zugleich Höhepunkt ist natürlich der Alte Jüdische Friedhof am Judensand, der als der älteste und größte jüdische Friedhof Europas gilt – hier stand einst auch der Grabstein für Jehuda ben Schneur aus dem Jahr 1049, der heute als der älteste jüdische Grabstein Europas gilt, und der Grabstein der Frau Rikva, gestorben 1080, der älteste bekannte jüdische Frauengrabstein Mitteleuropas.

Der alte Friedhof an der Mombacher Straße gilt als der älteste und größte jüdische Friedhof Europas. - Foto: gik
Der alte Friedhof an der Mombacher Straße gilt als der älteste und größte jüdische Friedhof Europas. – Foto: gik

Der Friedhof ist das Hauptdenkmal der Mainzer Schum-Welterbe-Bewerbung, hier soll einmal ein Besucherzentrum entstehen – derzeit ist die Besichtigung nur sehr eingeschränkt per Voranmeldung und Führung möglich, die notwendigen Links dazu liefert die App gleich mit.

Die Geschichte von Leon, Levi und Margaretha schließt nun eine große Lücke: Ganz kostenlos und interaktiv kann man sich damit auf Spurensuche durch Mainz begeben und versteckte Schätze des historischen Magenza entdecken. Am kommenden 27. Januar wird auch in diesem Jahr wieder den Opfern des Nationalsozialismus gedacht, mit einer Sondersitzung im rheinland-pfälzischen Landtag. Im Mittelpunkt der Veranstaltung steht in diesem Jahr erneut der Bericht einer Zeitzeugin: der französischen Anthropologin Monique Levi-Strauss.

Levi-Strauss wuchs in der Eifel auf und überlebte die Nazi-Zeit versteckt in den Weinbergen bei Bingen – bis zur Befreiung durch die Alliierten. In ihrem 2021 auf Deutsch erschienenen Buch „Im Rachen des Wolfes“ schildert sie den Wahnsinn des NS-Regimes aus der Perspektive einer jüdischen Jugendlichen, die im Alter von 13 bis 19 Jahren in Nazi-Deutschland lebte. Es sind solche Geschichten, die die Ereignisse „von damals“ greifbar machen – ebenso wie die Geschichte von Leon, Levi und Margaretha nun ebenfalls eine Lücke schließen: Ganz kostenlos und interaktiv kann man sich damit auf Spurensuche durch Mainz begeben, und versteckte Schätze des historischen Magenza entdecken.

Info& auf Mainz&: Die App „Schum-Stätten am Rhein“ gibt es in den üblichen App-Stores für Apple- oder Android-Geräte zum kostenlosen Download. Infos im Internet: www.schumstaedte.de. Mehr zum verlorenen kulturellen Erbe des jüdischen Deutschlands findet Ihr hier in unserem Mainz&-Bericht über die „Klangstelle“, ein Projekt des Kabarettisten Markus Weber, besser bekannt als „Fräulein Baumann“. Mehr zum Alten Jüdischen Friedhof in Mainz lest Ihr hier bei Mainz&. Die Gedenkfeier am 27. Januar 2022 wird ab 10.30 Uhr über die Website des Landtags unter www.landtag.rlp.de sowie über den Facebook und YouTube-Kanal des Landtags übertragen.

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