Im November 2020 wurden in Mainz bei Bauarbeiten an der Rheinstraße 18 jüdische Grabsteine aus dem Mittelalter gefunden, bei der Präsentation Mitte Januar konnten die Forscher zu den Inschriften aber noch nichts sagen. Für Mainz& übersetzten nun zwei erfahrene Experten der jüdischen Epigrafik exklusiv sechs der 18 Grabsteininschriften – und die erzählen spannende Geschichten: Gedacht wird auf den Stelen mehrerer Frauen, einem verstorbenen Knaben – und drei Ermordeten. Der jüngste Stein stammt aus dem Jahr 1432, der älteste aber sogar schon aus dem Jahr 1192. Damit zeigen die Steine die Bandbreite der mittelalterlichen jüdischen Gesellschaft in einer der ältesten jüdischen Gemeinden Deutschlands: der Schum-Stadt Mainz.

„Wir konnten sechs Steine bereits datieren und alle Namen der Verstorbenen sicher lesen“, sagt Michael Brocke, Leiter des Essener Steinheim-Instituts für deutsch-jüdische Geschichte. Der 81 Jahre alte Brocke ist Professor für Judaistik und gilt als einer der führenden Experten für die Erforschung jüdischer Friedhöfe in Deutschland, und dabei insbesondere für die Epigrafik: Die Erforschung der Inschriften auf jüdischen Grabsteinen. Die in Mainz gefundenen Exemplare begeistern den Experten: „Man sieht das breite Spektrum der jüdischen Gemeinschaft in Mainz und erkennt die unterschiedlichen Schriften der Jahrhunderte“, sagte Brocke im Interview mit Mainz&.

18 jüdische Grabsteine im November 2020 gefunden

Landesarchäologin Marion Witteyer bei der Präsentation der jüdischen Grabsteine mit einem Exemplar - es ist der Stein der Zippora. - Foto: gik- Foto: gik
Landesarchäologin Marion Witteyer bei der Präsentation der jüdischen Grabsteine mit einem Exemplar – es ist der Stein der Zippora. – Foto: gik

Im November 2020 hatten die Archäologen in Mainz in einer Baugrube an der Rheinstraße in der Mainzer Altstadt eine alte Mauer der Rheinbastionen gefunden, darin verbaut: 18 alte jüdische Grabsteine aus dem Mittelalter. Das mittelalterliche Mainz war eine Hochburg des gelehrten Judentums, das jüdische Magenza eine der drei Schum-Städte: Gemeinsam mit Speyer und Worms galt Mainz als Hort der Gelehrsamkeit, hier lehrten berühmte Rabbiner an Talmudschulen, hier wurden Gesetze und Gebote des modernen Judentums für ganz Europa entwickelt und definiert.

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Die jüdischen Gemeinden waren aber auch immer wieder Übergriffen und ganzen Vernichtungs-Pogromen ausgesetzt, 1438 ordnete der Stadtrat in Mainz gar den Auszug der Juden an – die jüdische Gemeinde hörte für einige Jahre ganz auf zu existieren. Die jüdische Synagoge wurde zum Kohlenlager entweiht, der Alte Friedhof am Judensand geschändet – seine Grabsteine wurden vielfach als Baumaterial missbraucht. So auch die nun gefundenen 18 alten Grabsteine, an wen aber die Inschriften erinnern, vermochten die Archäologen bei der Präsentation Mitte Januar noch nicht zu sagen: Man suche noch Experten, die die Inschriften lesen könnten, sagte Landesarchäologin Marion Witteyer.

Epigrafik-Experten entziffern Inschriften auf Mainz&-Fotos

Daraus entspann sich eine wahre Detektivgeschichte: Auf den Mainz&-Artikel über die Grabsteine reagierte auf dem Kurznachrichtendienst Twitter der Account „Epidat“ – Thomas Kollatz, Leiter der Inschriftendatenbank für jüdische Grabsteine des Essener Steinheim-Instituts. Kollatz zeigte sich begeistert von den gefundenen Inschriften, Mainz& lieferte weitere Fotos der Grabsteine – gemeinsam mit Institutsleiter Brocke konnten die beiden Experten nun sechs der 18 Grabsteine entziffern, übersetzen und deuten, die Ergebnisse sind in der Datenbank Epidat hier im Internet nachzulesen.

Fünf der jüdischen Grabsteine aus dem Mittelalter, gefunden bei Bauarbeiten in Mainz, der vorderste ist der Grabstein für den Herrn Mordechai, daneben die Stele der Frau Brunlin. - Foto: gik
Fünf der jüdischen Grabsteine aus dem Mittelalter, gefunden bei Bauarbeiten in Mainz, der vorderste ist der Grabstein für den Herrn Mordechai, daneben die Stele der Frau Brunlin. – Foto: gik

Da ist etwa der Grabstein des Herrn Mordechai, Sohn des El’asar, ein torakundiger Gelehrter, der am 23. Januar 1401 verstarb – hier der vorderste der fünf Steine auf dem Foto. Ein paar Jahre älter ist der Gedenkstein der Frau „Adolheit, Tochter des Herrn (H)illel, die verschied im 12. im Mar(cheschwan), Tag 1, Jahr 89 der Zählung“, ist da in der Inschrift zu lesen: Die Frau mit der ungewöhnlichen Schreibweise des Namens Adelheit verstarb im Jahr 1328, wahrscheinlich am 16. Oktober. „Die Namen und die Daten sind sicher, der Rest ist teilweise vorläufig“, erklärt Brocke im Gespräch mit Mainz&.

Am 16. Januar 1316 verstarb die Frau Brunlin in Mainz, die ehrenwerte Tochter eines anderen Torakundigen, des Herrn Mosche, „Ihre Ruhe sei im Garden Eden“, heißt es segnend. „Das war noch eine gute Zeit für Juden, noch vor der Schwarzen Pest 1348“, sagt Brocke. Brunlin sei ein romanischer Name und stehe wohl für das liebevolle ‚Bräunlein‘, Vater Moshe gehörte offenbar zu den Juden, die Zeit genug hatten, sich dem Studium der Tora und anderer jüdischer Schriften zu widmen. „Er war gelehrt, gehörte zu einer Klasse von Leuten, die sich dem Studium hingegeben haben“, erklärte Brocke. Oft waren Juden zu jener Zeit Händler, die Fernhandel bis weit in den Osten hinein betrieben. „Wenn die eine Lieferung aus dem Orient bestellten, dann dauerte das ja Monate“, sagt Brocke, „dann hatten die Zeit, sich dem Studium zu widmen.“

Berührende Inschrift für Knaben Schlomo

Auch der jüngste der jetzt entzifferten sechs Steine ist einer Frau gewidmet: Zippora, Tochter des Awraham, starb irgendwann 1432 oder 1433 in Mainz. „Das ist ein Standardstein, ein schlichter Stein“, erklärt Brocke, Inschriften auf Steinen seien teuer gewesen. Grabsteine seien generell eine wichtige Quelle für die Geschichte der jüdischen Frauen, anhand der Grabsteine ließen sich auch kulturelle Moden, Werte und Rituale im Wandel über die Jahrhunderte nachvollziehen.

Grabstele für den jung verstorbenen Knaben Schlomo aus dem Jahr 1405. - Foto: gik
Grabstele für den jung verstorbenen Knaben Schlomo aus dem Jahr 1405. – Foto: gik

Besonders spannend für die Forscher aber sind zwei andere Grabsteine: Am 22. November des Jahres 1405 trugen sie in Mainz den Knaben Schlomo zu Grabe, den Sohn des Herrn El’asar. „Es ist ein Stein für ein Kind, vielleicht sieben oder neun Jahre alt“, erklärt Brocke. Das Besondere an dem Stein: Die Inschrift nennt nicht einfach das Datum des Todes, sondern die Wochenlesung der Tora, eine absolute Besonderheit: „Der Junge ist an einem Sonntag gestorben, nachdem am Samstag in der Synagoge begonnen wurde, diesen Wochenabschnitt zu lesen“, erläutert der Experte.

Der genannte Wochenabschnitt verweise auf einen Abschnitt der Genesis, in dem es heißt: „Und es geschah nach Verlauf (mikkez) von zwei Jahren, als Pharao träumte …“. Damit werde wiederum auf die Propheten-Lesung, Haftara, verwiesen, in der geschrieben steht: „Und Schlomo (Salomo) erwachte (vajjikaz), und sieh, es war ein Traum, und er ging nach Jerusalem…“ Das sei eine besonders „zarte, delikate, wunderbare kleine Anspielung, dass das Kind aus dem Traum erwachen möge“, erklärt Brocke, „es gibt immer wieder diese zartfühlende Art, mit dem Tod von Kindern umzugehen.“

Jüdische Grabsteine der Adolheit (links) und für drei ermordete Juden aus dem Jahr 1192 (rechts). - Foto: gik
Jüdische Grabsteine der Adolheit (links) und für drei ermordete Juden aus dem Jahr 1192 (rechts). – Foto: gik

Von einem wahren Krimi aber erzählt der älteste der sechs Steine aus dem Jahr 1192: Das verwitterte Steinfragment berichtet von nichts weniger als einem Mord, und das an gleich drei Personen. „Es werden drei Menschen genannt: Moshe, Sohn des Kalonymos, sowie seine Schwester die Frau Bellette, das bedeutet so viel wie ‚die kleine Schöne'“, erläutert Brocke. Der dritte sei ihr Enkel, ein weiterer Kalonymos, der aber sicher schon etwas älter war, vielleicht so um die 17 oder 18 Jahre alt, vermutet der Experte. Alle drei seien gewaltsam erschlagen worden, das mache die Wortwahl auf dem Stein klar, sagt Brocke: Verwendet werde „der Standardausdruck für Leute, die durch Gewalt umkamen.“

Wie genau und warum die drei Juden ermordet wurden, ist unklar, „es scheint ein Einzelfall gewesen zu sein“, sagt Brocke. Möglich sei ein Raubmord in ihrem Haus oder auf Reisen, „es könnte ja sein, dass die beiden Männer mit der Frau unterwegs waren, und von Banditen erschlagen wurden“, erklärt Brocke – auch solche Beispiele gebe es. „Wir bräuchten die ersten beiden Zeilen der Inschrift“, sagt Brocke, die Steinmetze hätten beim Bau der Mauer im 15. Jahrhundert die oberen „ziemlich demoliert und ramponiert.“ Das Rätsel sei aber zu lösen, sagt Brocke, „Wir haben ja 30 bis 40 Jahre Erfahrung.“

Steinheim-Institut erforscht seit 1986 jüdische Friedhöfe

Der alte jüdische Friedhof in Mainz am Judensand. - Foto: gik
Der alte jüdische Friedhof in Mainz am Judensand. – Foto: gik

Tatsächlich wurde das Steinheim-Institut in Essen 1986 mit dem Auftrag der Erforschung deutsch-jüdischer Kulturgeschichte gegründet, ein großer Schwerpunkt der Arbeit ist die Forschung zu jüdischen Friedhöfen. Rund 2400 jüdische Friedhöfe gebe es heute noch in Deutschland, sagt Brocke, für deren Geschichte vom Mittelalter bis in die Gegenwart sind sie beim Steinheim-Institut die führenden Experten. Mehr als 38.000 Grabinschriften sind mittlerweile in der Datenbank Epidat erfasst, entwickelt seit 2002 und seit 2006 online im Internet präsentiert.

„Epidat hat angefangen, als 2002 das Steinheim-Institut beauftragt wurde, den aschkenasischen Teil des jüdischen Friedhofs in Hamburg zu erschließen“, berichtet Thomas Kollatz, Gründer und Entwickler der Datenbank. Nach dem Entziffern von 6000 Inschriften hätten die Forscher schnell gemerkt: In Buchform lasse sich diese Menge nicht vernünftig präsentieren – es war die Geburtsstunde von Epidat. „Wir sind erst mit drei bis vier Friedhöfen online gegangen, inzwischen sind wir bei 226 Friedhöfen“ berichtet Kollatz. Epidat sei damit heute die größte Inschriftendatenbank der Welt in Sachen jüdische Friedhöfe für das Mittelalter und die Frühe Neuzeit. Seit März 2019 wird Epidat zudem im Rahmen einer wissenschaftlichen Kooperation zwischen dem Salomon-Ludwig-Steinheim- Institut und der Mainzer Akademie der Wissenschaften und Literatur weiterentwickelt.

Der alte jüdische Friedhof in Mainz ist zum Großteil ein Denkmalfriedhof, die Grabsteine wurden zum Teil geschändet und wieder dorthin gebracht und neu aufgestellt. - Foto: gik
Der alte jüdische Friedhof in Mainz ist zum Großteil ein Denkmalfriedhof, die Grabsteine wurden zum Teil geschändet und wieder dorthin gebracht und neu aufgestellt. – Foto: gik

Seit 2009 kümmern sich die Forscher auch um die jüdischen Friedhöfe in Mainz, Worms und Speyer, eine einzigartige Quelle, schwärmt Kollatz: „Es wird über das Leben berichtet und ab und an auf historische Ereignisse angespielt.“ So gebe es in Mainz einen anderen jüdischen Grabstein, auf dem stehe: „Der Verstorbene starb an dem Tag, an dem die Torarollen der Synagoge verbrannt wurden“, berichtet Kollatz – Grabsteine seien wie kurze Schlaglichter auf Ereignisse der Vergangenheit und Zeugen des kulturellen Wandels über die Jahrhunderte hinweg.

Info& auf Mainz&: Mehr zur Fundgeschichte der 18 jüdischen Grabsteine lest Ihr hier bei Mainz&. Die Inschriften-Datenbank Epidat findet Ihr hier im Internet, die Links zu den sechs entzifferten Mainzer Steinen haben wir oben im Text an der jeweiligen Stelle verlinkt.

 

 

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