Der Untersuchungsausschuss zur Flutkatastrophe im Ahrtal geht offenbar in die Verlängerung: Am Freitag tritt das Gremium erneut zu einer Beratungssitzung zusammen. Auf der Tagesordnung steht dabei ein brisanter Antrag der Freien Wähler: Deren Obmann Stephan Wefelscheid fordert, den Gutachter der Staatsanwaltschaft vorzuladen. Dominic Gißler soll dem Ausschuss über die Inhalte ausführlich berichten – weitere Zeugenvernehmungen könnten sich daran anschließen. Für die Landesregierung dürfte das unangenehm werden: Dann würde es wieder um Versäumnisse des Landes bei der Aufstellung zum Katastrophenschutz gehen.
Im Juli 2023 hatte die Staatsanwaltschaft Koblenz überraschend ein neues Gutachten in Auftrag gegeben, das die Handlungsoptionen der Technischen Einsatzleitung (TEL) in Ahrweiler in der Flutnacht untersuchen sollte. Man wolle wissenschaftlich untersuchen lassen, ob die Mitglieder der Einsatzleitung in Ahrweiler „durch bestimmte konkrete Handlungen den Ereignisverlauf hätten verändern, und dadurch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bestimmte Personen vor dem Tod oder vor körperlichem Schaden“ bewahren können, teilte die Staatsanwaltschaft im Juli mit.
Das Gutachten des Berliner Professors für Führung im Bevölkerungsschutz von der Akkon-Hochschule für Humanwissenschaften in Berlin, Dominic Gißler, lag Mitte Oktober vor, das Fazit, das bisher bekannt geworden ist, lautet: Die Technische Einsatzleitung (TEL) in Ahrweiler war mit dem Management der Flutkatstrophe am 14. Juli 2021 heillos überfordert. Die TEL war personell viel zu schlecht aufgestellt, ihre Mitglieder überhaupt nicht für so einen Einsatz ausgebildet. Es gab weder eine Stabsdienstordnung noch ein Einsatzführungskonzept, System-Abläufe und Prozesse waren unklar, das Führungssystem „nur unvollständig entwickelt.“
Einsatzleitung in Ahrweiler heillos überfordert, ADD zuständig?
Gißlers Fazit in einem Satz: „Die anwesenden Personen haben alles gegeben – das Führungssystem ließ nur nicht mehr zu.“ Schon dieses Fazit warf Fragen auf: Wenn die TEL in Ahrweiler so überfordert und vor allem auch so unzureichend aufgestellt war, dann hätte die Dienstaufsichtsbehörde ADD doch schon am Abend des 14. Juli die Einsatzleitung übernehmen müssen, das betont nun die Opposition im Mainzer Landtag – denn bei einer Überforderung eines Landkreises sieht das Brand- und Katastrophenschutzgesetz des Landes Rheinland-Pfalz (LBKG) vor, dass die Einsatzleitung auf die ADD überging.
Das aber geschah nicht, im Gegenteil: Die ADD war selbst in der Flutnacht schlecht aufgestellt, ihre Lagezentrum mit gerade einmal vier Mann besetzt – während ADD-Chef Thomas Linnertz gemeinsam mit dem obersten Katastrophenschutzinspekteur des Landes, Heinz Wolschendorf, im Eifelkreis unterwegs war. Die beiden obersten Katastrophenschützer des Landes kamen erst gegen Mitternacht in die ADD in Trier zurück – und erfuhren nach ihrer Darstellung erst dann von der gewaltigen Flutwelle im Ahrtal und ihren verheerenden Auswirkungen.
Gißlers Gutachten für die Staatsanwaltschaft analysiert indes minutiös auf mehr als 220 Seiten die Abläufe in der Einsatzleitung in Ahrweiler, sowie die Hintergründe und die Aufstellung des Katastropheneinsatzes. Die Ergebnisse könnten nun auch den Untersuchungsausschuss im Mainzer Landtag beschäftigen, der eigentlich Ende April 2023 seine Beweisaufnahme abgeschlossen hatte. Nun aber könnte das Untersuchungsgremium in die Verlängerung gehen: Am Freitag trifft sich der Ausschuss zu einer erneuten Beratungssitzung.
Freie Wähler beantragen Anhörung Gißlers – Weitere Zeugen?
„Ich habe beantragt, dass der Sachverständige Gißler gehört wird“, sagte der Obmann der Freien Wähler, Stephan Wefelscheid, gegenüber der Internetzeitung Mainz&. Gißler solle das Gutachten dem Untersuchungsausschuss vorstellen, „und zwar in Gänze“, betonte Wefelscheid. Der Hintergrund: Nur Inhalte, die im Zuge der Beweisaufnahme in das Untersuchungsverfahren des Ausschusses eingeführt wurden – also zur Sprache kamen -, dürfen im Abschlussbericht gewürdigt werden, also eine Rolle spielen.
Bislang aber hält die Staatsanwaltschaft Koblenz das Gutachten unter Verschluss, auch den Mitgliedern des U-Ausschuss liegt es bisher lediglich zur Einsicht im Aktenraum des Landtags vor. „Nachdem ich im Aktenraum war, und dieses Gutachten studiert habe, muss ich sagen: Wir kommen um die Beweisaufnahme durch eine Anhörung des Sachverständigen nicht herum“, betonte Wefelscheid nun, und unterstrich explizit: „Dieses Gutachten hat Sprengstoff.“
Schließlich gehe es „um die Frage, ob Kommune und Land Möglichkeiten hatten, Menschenleben zu retten“, betonte Wefelscheid noch einmal – der Gutachter sollte auch untersuchen, ob die Handelnden im Ahrtal konkrete Handlungsoptionen gehabt hätten, um Warnungen auszusprechen und Menschenleben zu retten. Nach Angaben des Leitenden Oberstaatsanwalts Mario Mannweiler habe sich Gutachter Gißler „nicht imstande gesehen eine Aussage zu treffen, ob selbst ein optimal aufgestellter Krisenstab einen Unterschied gemacht hätte.“ So teilte es Mannweiler in der Pressemitteilung zum Gutachten mit.
Am Freitag will der U-Ausschuss nun über den Antrag der Freien Wähler beraten. Stimmen die Gremiumsmitglieder der Vorladung Gißlers zu, könnte der Berliner Professor wohl Ende November gehört werden, schätzt Wefelscheid. Die Wahrscheinlichkeit sei hoch: Auch die anderen Fraktionen hätten ein großes Interesse an dem Gutachten und seinem Inhalt. Danach aber könnte der Ausschuss auch noch weitere Zeugen hören – etwa ADD-Präsident Linnertz. Er gehe deshalb davon aus, dass sich der Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses bis ins kommende Jahr verzögern werde, sagte Wefelscheid weiter – womöglich kommt der Abschluss dann erst zu Ostern 2024.
Info& auf Mainz&: Mehr zu dem Gutachten von Dominik Gißler, und was die Staatsanwaltschaft darüber bisher bekannt gegeben hat, lest Ihr hier auf Mainz&.