Auch zwei Jahre nach der Flutkatastrophe im Ahrtal gibt es weiter keine Antwort auf die Frage: Wer trug die Verantwortung dafür, dass 136 Menschen in der Flutnacht im Ahrtal ihr Leben verloren? Die Staatsanwaltschaft Koblenz hat nun dazu ein weiteres Gutachten in Auftrag gegeben, es soll die Frage klären helfen, ob durch bestimmte konkrete Handlungen der Ereignisverlauf verändert, und so Menschen vor dem Tod oder vor körperlichem Schaden hätten bewahrt werden können. Ermittelt wird aber weiter nur gegen zwei Personen: Den damaligen Landrat Jürgen Pföhler (CDU) und den damalige Brand- und Katastrophenschutzinspekteur von Ahrweiler, Michael Zimmermann.

Die riesige Flutwelle riss im Ahrtal in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 Häuser, Autos und Menschen mit. - Foto: gik
Die riesige Flutwelle riss im Ahrtal in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 Häuser, Autos und Menschen mit. – Foto: gik

Als sich an dem späten Nachmittag des 14. Juli 2021 eine gigantische Flutwelle anschickte, das Ahrtal hinunterzurauschen, waren die meisten Anwohner im Ahrtal ahnungslos: Gewarnt wurde von Seiten des Deutschen Wetterdienstes vor „Starkregen“ und Hochwasser, doch eine Sturzflut, gar eine Meterhohe Flutwelle – davon war weder in Wetterwarnungen noch beim Hochwassermeldedienst des Landes Rheinland-Pfalz die Rede. Dabei schwoll die Ahr bereits ab dem späten Nachmittag in ihrem Oberlauf dramatisch an.

Ab etwa 17.00 Uhr setzten die steigenden Wassermassen zuerst den Campingplatz Stahlhütte in Dorsel unter Wasser, rissen schließlich Wohnwagen mit – sieben Menschen starben bereits zwischen 17.00 Uhr und 19.00 Uhr hier in den Fluten. Trotzdem blieben die Menschen ahrabwärts weitgehend ungewarnt – auch eine Pegelprognose von 5,50 Metern des Landesamtes für Umwelt in Mainz für die Ahr bleibt weitgehend ohne Folgen: Eine Evakuierung kommt trotz der Rekordprognose nicht in Gang.

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Ab 19.00 Uhr versinken Häuser in Schuld in den Fluten

Gegen 19.00 Uhr beobachtet Bürgermeister Helmut Lussi in Schuld von einer Anhöhe über dem Fluss, wie sein Ort in meterhohen Fluten versinkt. Irgendwann reißen die Fluten erst ein Haus mit sich, dann zwei, dann drei – am Ende werden es sechs Häuser sein. Die Nachricht macht spätestens ab 21.00 Uhr wie ein Lauffeuer die Runde durch Polizeistationen – trotzdem wird auch jetzt noch immer nicht die oberste Stunde der Katastrophenwarnungen ausgelöst, gar eine Evakuierung auf breiter Front in Gang gesetzt.

Der kleine Ort Schuld an der oberen Ahr wird spätestens ab 19.00 Uhr von der Flutwelle der Ahr verwüstet. - Foto: gik
Der kleine Ort Schuld an der oberen Ahr wird spätestens ab 19.00 Uhr von der Flutwelle der Ahr verwüstet. – Foto: gik

Die sich immer weiter aufstauenden Fluten von bis zu neun, stellenweise zehn Meter, erreichen ab 23.30 Uhr Bad Neuenahr-Ahrweiler, allein hier sterben 73 Menschen in den Fluten. Die kleine Stadt Sinzig an der Mündung der Ahr in den Rhein wird sogar erst gegen 02.00 Uhr von der Welle erreicht – obwohl seit Stunden klar ist, dass eine gigantische Flutwelle das Tal hinunter rauscht, sterben hier noch in den frühen Morgenstunden 14 Menschen, 12 davon in einem Behindertenwohnheim der Lebenshilfe.

Hätten diese schrecklichen Schicksale verhindert, die Menschen gerettet werden, wenn irgendjemand früher und vehementer gewarnt hätte? Das ist die Kernfrage der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft: Seit zwei Jahren geht die Behörde in Koblenz nun schon der Schuldfrage nach, es sei eines der aufwändigsten Verfahren, die die Staatsanwaltschaft Koblenz je geführt habe, hieß es nun in einer Nachricht zum zweiten Jahrestag der Flutkatastrophe.

200 Zeugen vernommen, 15.000 Notrufe ausgewertet

Zeitweise seien „deutlich mehr als 100 Polizeibeamte in die Ermittlungen eingebunden“ gewesen, eine Oberstaatsanwältin sei nahezu vollständig von anderen Aufgaben freigestellt, um sich nur diesem Verfahren widmen zu können, teilte der leitende Koblenzer Oberstaatsanwalt Mario Mannweiler mit. Allein die Hauptakten umfassten etwa 10.000 Blatt, hinzu kämen zahlreiche Sonderbände. „Im Rahmen der Ermittlungen wurden mehr als 200 Zeugen vernommen, zirka 15.000 Notrufe mussten gesichtet, mehr als 6.000 davon im Einzelnen ausgewertet werden.“

Die eingestürzten Häuser des Ortes Schuld waren der Punkt, an dem klar wurde: Hier rollt eine Katastrophe. - Screenshot: gik
Die eingestürzten Häuser des Ortes Schuld waren der Punkt, an dem klar wurde: Hier rollt eine Katastrophe. – Screenshot: gik

Die gesicherten Daten – aus Notrufen aus der Nacht, Daten des Einsatzleitsystems und Einsatzverlaufsdaten der Polizei, sowie Daten des Lagezentrums im Mainzer Innenministerium – umfassten mehr als 26 Terabyte, die alle gesichtet und teilweise ausgewertet werden mussten, um Kommunikationsverläufe in der Katastrophennacht zu rekonstruieren. „Es wurden Durchsuchungen bei den Beschuldigten sowie umfangreiche Sicherstellungen bei Verwaltungsbehörden und Feuerwehren durchgeführt, die auszuwerten waren“, so Mannweiler weiter.

Hinzu sei noch die Auswertung zahlreicher Videos gekommen sowie „die Anfertigung einer aufwändigen Visualisierung des Flutgeschehens“ eines Polizeihubschraubers aus der Flutnacht mittels eines entsprechenden Computerprogramms. Tatsächlich hatten nicht etwa die Ermittler der Staatsanwaltschaft diese Videos, gedreht von einem Polizeihubschrauber in der Flutnacht, entdeckt – die Videos kamen erst durch die Aufklärungsarbeit im U-Ausschuss ans Licht der Öffentlichkeit. Die Staatsanwaltschaft musste damals einräumen: Sie habe die Videos gart nicht gekannt.

Welchen Handlungsspielraum hatten Pföhler und die TEL?

Trotz alles dieses Aufwands: Ein Ergebnis gibt es bis heute nicht. „Mir ist bewusst, dass viele von der Flut Betroffene nach nunmehr fast zwei Jahren ein Abschlussergebnis erwarten“, räumte Mannweiler ein, und betonte: „Unser Ziel ist, möglichst bis Jahresende ein solches präsentieren zu können.“ Ermittelt wird indes weiter nur gegen den damaligen Landrat des Kreises Ahrweiler, Jürgen Pföhler (CDU), der formal die Zuständigkeit für den Katastrophenschutz hatte. Pföhler hatte die indes an seinen BKI Michael Zimmermann delegiert – was er rechtlich durfte -, weswegen auch gegen Zimmermann wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassung ermittelt wird.

Der damalige Landrat Jürgen Pföhler (CDU, vorne rechts) am Abend der Flutnacht in der Technischen Einsatzleiter in Ahrweiler mit Innenminister Roger Lewentz (SPD, 2. von links). - Foto: KV Ahrweiler
Der damalige Landrat Jürgen Pföhler (CDU, vorne rechts) am Abend der Flutnacht in der Technischen Einsatzleiter in Ahrweiler mit Innenminister Roger Lewentz (SPD, 2. von links). – Foto: KV Ahrweiler

Offenbar tun sich die Ermittler aber weiterhin schwer damit, die Frage der Schuld aus rechtlicher Sicht zu bewerten: Im Rahmen der Auswertung sei deutlich geworden, dass man ein weiteres Gutachten benötige – und zwar zu den Handlungsoptionen für die Technische Einsatzleitung (TEL) in Ahrweiler in der Flutnacht.

 

Die Ermittler hätten das konkrete Handeln der Beschuldigten am Tag der Flut und in der Flutnacht untersucht, so die Staatsanwaltschaft weiter, im Mittelpunkt stand dabei vor allem die Frage: Wäre es den Beschuldigten möglich gewesen, „durch bestimmte konkrete Handlungen den Ereignisverlauf zu verändern, und dadurch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bestimmte Personen vor dem Tod oder vor körperlichem Schaden“ zu bewahren? Dabei müssten „die konkreten subjektiven Kenntnisse und Fähigkeiten der Beschuldigten“ berücksichtigt, aber auch gefragt werden ob sie es „möglicherweise pflichtwidrig unterlassen hatten, sich diese Kenntnisse zu verschaffen, die sie dann zu einem anderen Handeln befähigt hätten.“

Gutachten soll nun Schuldfrage aufklären helfen

Doch offenbar sind sich die Ermittler nicht recht im Klaren, ob Pföhler und Zimmermann überhaupt noch einen Spielraum in der Flutnacht hatten: Dominic Gißler, Professor für Professur für Führung im Bevölkerungsschutz an der Akkon-Hochschule für Humanwissenschaften in Berlin, soll nun in einem neuen Gutachten klären, „welche konkreten Handlungsoptionen die Beschuldigten angesichts der vorgefundenen Gesamtumstände und bei Zugrundelegung ihres subjektiven Kenntnisstandes überhaupt noch hatten.“

Die Videos eines Polizeihubschraubers in der Flutnacht zeigten erschütternden Szenen. - Video: Polizei RLP, Screenshot: gik
Die Videos eines Polizeihubschraubers in der Flutnacht zeigten erschütternden Szenen. – Video: Polizei RLP, Screenshot: gik

Kurz: Hätten Pföhler und Zimmermann angesichts der gewaltigen Wassermassen überhaupt noch Entscheidungen treffen können, die grundlegend etwas an den Abläufen geändert hätten? Und konnten sie sich überhaupt „aufgrund der Wetter- und Niederschlagsprognosen ausreichende Kenntnisse und Informationen beschaffen, durch die es ihnen möglich gewesen wäre, vor und während der Flut konkrete Maßnahmen vorzunehmen oder anzuordnen, die Schaden abgewendet hätten“? Auch soll sich Gißler zur Frage äußern, wie das Katastrophenschutz- und Krisenmanagement im besten Fall hätte aufgestellt sein müssen – „und ob es in diesem Fall der TEL möglich gewesen wäre, den Ereignisverlauf zu verändern und konkrete Schadenseintritte abzuwenden.“

Bei den gestellten Fragen bleibt allerdings offen, wieso die Staatsanwaltschaft den Kreis der Beschuldigten nicht längst weiter gefasst hat: konkrete Schadenseintritte hätten unter Umständen ja durch großflächige Warnungen der Bevölkerung und durch großflächige und frühzeitige Koordinierung von Hilfen etwa mit Hubschraubern abgewendet werden können – doch zuständig war dafür die Dienstleistungsaufsicht ADD. Auch die Mitglieder der Landesregierung – allen voran der damalige Innenminister Roger Lewentz (SPD) – hätten die Möglichkeit gehabt, Menschen im Tal zu warnen und evakuieren zu lassen.

„Mit rechtzeitigen Warnungen hätten Leben gerettet werden können“

Die Aufklärung im Untersuchungsausschuss zur Flutkatastrophe im Mainzer Landtag hat deutlich gezeigt: Im Mainzer Innenministerium wusste man ab 21.22 Uhr von eingestürzten Häusern in Schuld und einer Flutwelle, die durch das Tal rauschte, Innenminister Lewentz erfuhr davon spätestens gegen 23.00 Uhr – da war die Flutwelle erst kurz vor Ahrweiler. Mit rechtzeitigen Warnungen, sagte etwa der Hydrologie-Experte Jörg Dietrich, Privatdozent an der Leibniz-Universität Hannover, im Untersuchungsausschuss, hätten zweifellos Leben gerettet werden können: Es habe eine Reaktionszeit von mehreren Stunden gegeben, „der Zeitverzug am 14.7. war lebensrelevant.“

Welche Schuld trägt Ex-Landrat Jürgen Pföhler (CDU) am Ausgang der Flutnacht - und ist diese Schuld auch justiziabel? - Foto: gik
Welche Schuld trägt Ex-Landrat Jürgen Pföhler (CDU) am Ausgang der Flutnacht – und ist diese Schuld auch justiziabel? – Foto: gik

Mit „Zeitverzug“ meinte Dietrich die völlig verspäteten Warnungen: Erst um kurz nach 22.00 Uhr wurde das Auslösen des Katastrophenalarms der höchsten Stufe 5 samt Evakuierungsaufforderung von der Technischen Einsatzleitung in Ahrweiler beschlossen, tatsächlich ausgelöst wurde die Warnung sogar erst um 23.09 Uhr. Unter Zeitverzug kann man ferner verstehen, dass von den oberen Ahrtal-Gemeinden die Informationen über die dramatischen Flutereignisse nicht konsequent an die weiter unten am Fluss liegenden Gemeinden weitergegeben wurden – Meldeketten existierten nicht oder funktionierten nicht.

Auch zwei Jahre danach ist die Frage deshalb weiter ungeklärt: Warum griff die Landesbehörde ADD, das Innenministerium, oder der Innenminister persönlich nicht ein und sorgten für eine frühere Warnung und Rettung der Menschen? Warum die Staatsanwaltschaft Koblenz nicht längst auch in Sachen Verantwortung der Landesebene ermittelt, ist weiter unklar – wie der Focus nun berichtete, wurden bei der Staatsanwaltschaft bis heute weder Umweltministerin Anne Spiegel (Grüne), noch Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) vernommen.

Freie Wähler: Ärger über spätes Gutachten

Bei den Freien Wählern zeigt man sich irritiert über die Auftragsvergabe: „Die große Frage ist doch: wieso gibt man so ein Gutachtern erst nach zwei Jahren in Auftrag“, sagte der Obmann der Freien Wähler, Stephan Wefelscheid, gegenüber Mainz&. Er ärgere sich, dass dies zudem geschehe, nachdem der Untersuchungsausschuss seine Beweisaufnahme abgeschlossen habe, sagte Wefelscheid weiter: „Das betrifft ja den Kernbereich dessen, was wir hier ermitteln, nämlich die die rechtliche und politische Verantwortung der Landesregierung.“

Als an der oberen Ahr die Welt unterging, gingen die Menschen weiter unten am Fluss in Ruhe ins Bett. - Foto: Polizei RLP
Als an der oberen Ahr die Welt unterging, gingen die Menschen weiter unten am Fluss in Ruhe ins Bett. – Foto: Polizei RLP

Der Ausschuss sei verpflichtet, dazu auch die Ergebnisse der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft einfließen zu lassen, betonte Wefelscheid, und unterstrich: Das könne den Abschlussbericht für den U-Ausschuss verzögern. „Ich bin keinesfalls bereit, den Abschlussbericht dem Landtag vorzustellen, bevor ich dieses Gutachten habe“, sagte Wefelscheid weiter: „Wenn sich daraus Fragen ergeben sollten, behalte ich mir vor, dem Gutachter auch noch Fragen zu stellen.“

Eigentlich wollte der U-Ausschuss nach der Sommerpause in die Würdigung der Ergebnisse eintreten und daraus ihre Schlussfolgerungen ziehen – der Abschlussbericht sollte bis Ende des Jahres eigentlich fertig sein. Das könnte sich nun verzögern: Der Sachverständige Gißler sei „bestrebt, sein Gutachten bis Oktober 2023 vorzulegen“, teilte die Staatsanwaltschaft mit, ein Abschluss des Verfahrens strebe man bis Ende des Jahres an. „Wir können nicht den Abschlussbericht fertigstellen“, sagte Wefelscheid, „bevor die Ermittler entscheiden, ob sie Anklage erheben oder nicht.“

Info& auf Mainz&: Was die Staatsanwaltschaft Koblenz zur Rolle von Landrat Pföhler in der Flutnacht ermittelte, könnt Ihr hier bei Mainz& nachlesen. Alles zur Flutkatastrophe im Ahrtal vor einem Jahr samt ausführlicher Berichte zu den Sitzungen des Untersuchungsausschusses findet Ihr hier in unserem großen Mainz&-Ahrtal-Dossier.