Vier Jahre ist die Flutkatastrophe im Ahrtal nun her, vier Jahre, in denen viel passiert ist: Es wurde aufgeräumt und wieder aufgebaut, es wurde aufgeklärt im Untersuchungsausschuss des Mainzer Landtags. Nur eine Sache kommt weiter nicht voran: Der bittere Kampf um Gerechtigkeit vor Gericht wird weiter blockiert. Jetzt verkündete das Innenministerium das vorläufige Ergebnis im Disziplinarverfahren gegen den damaligen Landrat Jürgen Pföhler (CDU), ihm droht nun der Verlust seiner Pension. Die Menschen im Ahrtal sagen: Das reicht nicht. „Es wird Gerechtigkeit gefordert“, Gerechtigkeit vor einem Gericht, schreibt eine Betroffene: „Nicht irgendwann. Nicht vielleicht. Jetzt.“

Verwüstungen nach der Flutkatastrophe im Ahrtal 2021. - Foto: gik
Verwüstungen nach der Flutkatastrophe im Ahrtal 2021. – Foto: gik

In der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 rauschte eine bis zu zehn Meter hohe Flutwelle durch das Ahrtal. Sie riss Häuser mit sich und Brücken, verwüstete ein gesamtes Tal auf 40 Kilometern Länge, und sie riss 136 Menschen mit sich in den Tod, eine Person davon wird bis heute vermisst. Seither hat sich viel getan im Ahrtal: Vier Jahre danach sind die Spuren der Flut an vielen Stellen tatsächlich verschwunden. Häuser wurden wieder aufgebaut, Geschäfte und Restaurants erstrahlen in neuem Glanz, gerade wurde die erste Brücke über die Ahr bei Dernau wieder eingeweiht.

Noch ist bei Weitem nicht alles gut im Ahrtal, vor allem im oberen Bereich des Tals finden sich weiter Ruinen, die dokumentieren: So sah es hier vor vier Jahren aus. Der Aufbau geht mancherorts jetzt endlich schnell voran, an anderen Stellen hängt es weiter – doch es ist ein gewisse Rückkehr zur Normalität zu spüren. Wenn da nur eines nicht wäre: Die Weigerung der Staatsanwaltschaft Koblenz, in Sachen Flutkatastrophe eine Anklage zu erheben. Im April 2024 hatte die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen in Sachen Flutkatastrophe Ahrtal ohne eine Anklageerhebung eingestellt, das sorgt bis heute für Wut und Unverständnis im Tal.

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Disziplinarverfahren gegen Pföhler: Schwere Pflichtversäumnisse

„Kein Strafverfahren. Kein Gericht. Kein Schuldeingeständnis. Kein Urteil.“ So brachte nun eine Betroffene aus Bad Neuenahr-Ahrweiler in einem emotionalen Post auf Facebook die Stimmung von ihr selbst und vielen anderen Menschen im Ahrtal auf den Punkt: „Menschen sind gestorben. Kinder. Eltern. Großeltern. Menschen haben alles verloren. Häuser. Erinnerungen. Wurzeln. Und das alles, weil ein System versagt hat. Weil gewarnt wurde, aber niemand gehandelt hat. Weil Verantwortung abgeschoben wurde, bis das Wasser kam.“ Und nun werfe das Land Rheinland-Pfalz „juristische Nebelkerzen“ anstatt Verantwortung zu übernehmen – das sei enorm bitter.

Ex-Landrat Jürgen Pföhler vor dem Untersuchungsausschuss zur Flutkatastrophe im Ahrtal in Mainz. - Foto: gik
Ex-Landrat Jürgen Pföhler vor dem Untersuchungsausschuss zur Flutkatastrophe im Ahrtal in Mainz. – Foto: gik

Der Anlass für das Posting: Eine Nachricht aus dem Mainzer Innenministerium. Das hatte genau zehn Tage vor dem Jahrestag der Flutkatastrophe das „vorläufige Ermittlungsergebnis“ im Disziplinarverfahren gegen den damaligen Ahrweiler Landrat Jürgen Pföhler (CDU) veröffentlicht – das Timing war sicher kein Zufall. Und in der Meldung wirft Innenminister Michael Ebling (SPD) dem CDU-Landrat nun schwere Versäumnisse in der Flutnacht vor.

Der Ermittlungsbericht komme nämlich „zu dem vorläufigen Ergebnis, dass gravierend gegen beamtenrechtliche Pflichten verstoßen wurde“, heißt es da: „Die Unterlassungen und Verhaltensweisen vor, während und nach der Naturkatastrophe im Ahrtal werden hiernach als Verstoß gegen das Rechtmäßigkeitserfordernis, gegen die innerdienstliche Wohlverhaltenspflicht sowie die im Beamtenstatusgesetz normierte Einsatzpflicht gewertet.“ Im Klartext heißt das: Pföhler werden schwere Verstöße gegen das Beamtenrecht vorgeworfen, es geht um Unterlassungen und die Verletzung von Dienstpflichten sowie von Einsatzpflichten, auch während der Flutnacht.

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Disziplinarklage: Ex-Landrat droht der Verlust der Pension

Nähere Einzelheiten nannte das Innenministerium unter Berufung „auf der im Disziplinarverfahren geltenden rechtlichen Grundsätze“ nicht, doch allein schon diese Vorwürfe wiegen schwer genug: Offenbar wirft man im Innenministerium Pföhler vor, während der Flutnacht nicht ausreichend erreichbar gewesen zu sein, im Vorfeld Pflichten verletzt zu haben – wie etwa die Aufstellung von Alarm- und Einsatzplänen – und in der Flutnacht viel zu spät und zu halbherzig agiert zu haben. Obwohl bereits am Nachmittag an der oberen Ahr Menschen in der Flutwelle ertranken, wurde der Katastrophenfall samt Evakuierungsanordnung durch Pföhler erst um 23.09 Uhr ausgerufen – viel zu spät und mit viel zu geringem Umfang.

Das Foto aus dem Krisenstab in Ahrweiler am Abend des 14. Juli 2021 mit Innenminister Roger Lewentz (SPD, links) und Landrat Jürgen Pföhler (CDU, ganz rechts). Danach verschwand Pföhler für mehrere Stunden am Abend. - Foto: Kreisverwaltung Ahrweiler
Das Foto aus dem Krisenstab in Ahrweiler am Abend des 14. Juli 2021 mit Innenminister Roger Lewentz (SPD, links) und Landrat Jürgen Pföhler (CDU, ganz rechts). Danach verschwand Pföhler für mehrere Stunden am Abend. – Foto: Kreisverwaltung Ahrweiler

Die Konsequenzen der Vorwürfe im Disziplinarverfahren könnten gravierend sein: „Nach dem aktuellen Stand der Ermittlungen ist davon auszugehen, dass vonseiten des Innenministeriums anschließend Disziplinarklage mit dem Ziel der Aberkennung der Ruhegehaltsansprüche zu erheben ist“, teilte das Innenministerium weiter mit. Daher plane man, als vorläufige Maßnahme schon jetzt ein Drittel des monatlichen Ruhegehaltes einzubehalten. Der Landrat a.D. werde zum vorläufigen Ermittlungsergebnis derzeit ebenso angehört wie zu der Aberkennung von Ruhestandsgeldern.

Das Disziplinarverfahren gegen Pföhler war bereits im August 2021 von der Dienstaufsichtsbehörde ADD eingeleitet worden, während der strafrechtlichen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft hatte es geruht und wurde nun wieder aufgenommen – unter der Federführung des Mainzer Innenministeriums. Pikant dabei: Das Haus wird von SPD-Mann Michael Ebling geführt, dessen Vorgänger Roger Lewentz im Herbst 2022 unter erheblichem Druck wegen des Umgangs mit Videos aus der Flutnacht im Ahrtal zurücktreten musste – und der nie Fehler eingestand. Niemand aus der Landesregierung hat sich bis heute von Amts wegen für die Fehler der Behörden in der Flutkatastrophe entschuldigt – auch Ministerpräsident Alexander Schweitzer (SPD) lehnte das bei seinem Amtsantritt vor einem Jahr ab.

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Familie Orth: „Blockadehaltung, Kälte und emotionale Distanz“

Pikant ist auch: Wenn das Innenministerium so gravierende Unterlassungen und Fehlverhalten feststellt, wieso war dann dazu die Staatsanwaltschaft Koblenz nicht in der Lage? Die Staatsanwaltschaft hatte in ihrem Abschlussbericht zu den Ermittlungen zur Flutkatastrophe im April 2024 bilanziert, eine Schuldfrage könne nicht zur Anklage gebracht werden, weil „nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ festgestellt werden könne, dass durch eine frühzeitige Warnung Menschenleben hätten gerettet werden können – eine Aussage, die auf Angehörige von Opfern der Flutkatastrophe bis heute wie ein Schlag ins Gesicht wirkt.

Ralph und Inka Orth mit ihrer Tochter Johanna, die in der Flutnacht mit nur 22 Jahren starb - in ihrer Erdgeschosswohnung in Bad Neuenahr. - Foto: Orth
Ralph und Inka Orth mit ihrer Tochter Johanna, die in der Flutnacht mit nur 22 Jahren starb – in ihrer Erdgeschosswohnung in Bad Neuenahr. – Foto: Orth

„Inhaltliche Blockadehaltung, Kälte und Distanz gegenüber uns als Eltern, Voreingenommenheit und fehlende Empathie“ – mit diesen Worten beschrieben denn auch zwei Angehörige, die wie keine anderen an die Öffentlichkeit gegangen sind, um den Kampf um Gerechtigkeit stellvertretend für andere zu führen: Inka und Ralph Orth verloren in der Flutnacht ihre Tochter Johanna, die junge Konditormeisterin starb mit gerade einmal 22 Jahren in ihrer Erdgeschosswohnung in Bad Neuenahr – ungewarnt.

Um 20.17 Uhr dreht Johanna Orth am Abend des 14. Juli 2021 ein kleines Video auf ihrem Handy, es zeigt, wie die Feuerwehr in Bad Neuenahr per Lautsprecher die Menschen warnt: „Gehen Sie nicht in den Keller, gehen Sie nicht in die Tiefgarage!“ Was die Feuerwehrkräfte nicht sagen, obwohl das eigentlich bereits Teil der Warnungen ist: „Meiden Sie Erdgeschosswohnungen. Begeben Sie sich in den 1. Stock.“ Zu diesem Zeitpunkt sind bereits mehrere Menschen auf einem Campingplatz bei Dorsel gestorben, zu diesem Zeitpunkt wälzt sich längst eine meterhohe Flutwelle durch das Ahrtal, zu diesem Zeitpunkt gehen die Behörden längst von mehr als fünf Metern aus – Johanna erfährt all das nicht.

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„Johanna Orth hätte mit Sicherheit gerettet werden können“

Um 00.30 Uhr wacht Johanna wieder auf, ein Instinkt weckt sie – ihre Erdgeschosswohnung steht bereits bis zu den Knien unter Wasser, die Möbel schwimmen, die Eingangstür lässt sich schon nicht mehr öffnen. „Sie hat uns noch angerufen“, berichtet Vater Ralph im Gespräch mit Mainz&, aber „irgendwann brach die Verbindung ab…“ Johannas Leiche wird zwei Tage später gefunden, in der Tiefgarage des Wohnkomplexes. „Es gibt mindestens ein Menschenleben, das mit Sicherheit hätte gerettet werden können – und das ist Johanna Orth“, sagt Christian Hecken, der Anwalt aus Koblenz vertritt die Familie Orth sowie inzwischen zehn Familien von Opfern der Ahrflut juristisch.

Anwalt Christian Hecken im Gerichtssaal in Mainz. - Foto: gik
Anwalt Christian Hecken im Gerichtssaal in Mainz. – Foto: gik

Die Entscheidung der Staatsanwaltschaft Koblenz, keine Anklage zu erheben, und das Verfahren gegen Pföhler einzustellen, schockierte den Anwalt – 36 Beschwerden gibt es bislang gegen die Einstellungen, eine Entscheidung darüber liegt noch immer nicht vor. Hecken präsentierte Gegenbeweise und Gutachten renommierter Experten und Juristen, die die Argumentation der Staatsanwaltschaft regelrecht zerpflückten. Hecken appellierte gar im Namen seiner Mandanten an den Justizminister des Landes Rheinland-Pfalz, die Staatsanwälte anzuweisen, das Verfahren wieder aufzunehmen und sie notfalls abzulösen – der damalige Justizminister Herbert Mertin (FDP) lehnte das ab.

Hecken reichte daraufhin im Juni 2024 Klage gegen den damaligen Minister Mertin ein und erhob vor Gericht schwere Vorwürfe gegen das Justizministerium: Das habe entweder im April 2024 den Rechtsausschuss des Landtags belogen – oder versuche jetzt vor Gericht, „mit Tricks und Täuschungen nach außen darzustellen, man habe alles richtig gemacht – was offenkundig nicht der Fall ist.“ Konkret ging es um die Frage, ob die Petition der Orths vom Justizminister oder seinem Ministerium geprüft worden war, oder ohne Prüfung weitergeleitet – vor Gericht verstrickte sich der Vertreter des Ministeriums in Widersprüche, Konsequenzen hatte das nicht: Die Klage wurde abgewiesen.

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Juristen sehen bei Ahrflut „Justizskandal historischen Ausmaßes“

Hecken klagt, in Rheinland-Pfalz werde offenbar alles versucht, ein Gerichtsverfahren zu verhindern und zu verzögern – schon 2026 droht nach fünf Jahren die erste Verjährungsfrist. Das sei „ein Justizskandal historischen Ausmaßes“, kritisiert der Anwalt – er ist nicht der einzige, der das so sieht: Auch Gerd Gräff, immerhin früher Leitender Ministerialrat im Mainzer Innenministerium und dort als stellvertretender Leiter der Katastrophenschutzabteilung tätig, spricht heute ebenfalls von einem „Skandal“.

Der Leitende Oberstaatsanwalt Mario Mannweiler (links) und der Chef des LKA Rheinland-Pfalz,. Mario Germano, bei der Pressekonferenz zur Einstellung des Verfahrens in Sachen Ahrflut. – Foto: gik
Der Leitende Oberstaatsanwalt Mario Mannweiler (links) und der Chef des LKA Rheinland-Pfalz,. Mario Germano, bei der Pressekonferenz zur Einstellung des Verfahrens in Sachen Ahrflut. – Foto: gik

Die Staatsanwaltschaft habe in ihrer Einschätzung im Läufe des Verfahrens eine 180-Grad-Wende vollzogen und sich der gebotenen Einzelfallprüfung verweigert, kritisiert Gräff in einem Gutachten im Dezember 2024, das Mainz& vorliegt. Schon Anfang August 2021 habe der damalige Oberstaatsanwalt Harald Kruse gegenüber den Medien gesagt, es gebe „zureichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass Warnungen verspätet und unzureichend waren und Evakuierungen möglicherweise zu spät und unzureichend angeordnet wurden“ – und dass Menschenleben hätten gerettet werden können.

Kruses Nachfolger Mario Mannweiler sagte hingegen in der Pressekonferenz im April 2024 den denkwürdigen Satz: Warnungen „lassen Menschen eine Wahlfreiheit, wir haben keine Sicherheit, wie Menschen auf Warnungen reagieren“ – man könne deshalb nicht „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ sagen, dass die Warnungen Menschenleben gerettet hätten. Dass spätestens zwischen 20.00 Uhr und 21.30 Uhr das Ausmaß der Flutwelle im Ahrtal den Behörden durchaus bekannt war, dass eine Zeitspanne von acht bis neun Stunden zur Verfügung gestanden hätte, um Menschen zu evakuieren und Warnungen breit zu streuen – das räumt auch die Staatsanwaltschaft ein. Trotzdem behauptete Mannweiler. es sei „keine Zeit mehr gewesen, eine koordinierte Räumung durchzuführen.“

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Gräff: Staatsanwaltschaft ignorierte Gutachten und Zeugen aus UA

Die Staatsanwaltschaft habe damit sämtliche Hinweise aus dem Katastrophenschutz ignoriert, ebenso die Bedeutung von Hochwassergefahrenkarten auch für die Alarm- und Einsatzplanung sowie die Evakuierungsplanung, „und sich einen Sachverstand zugetraut, der bei ihr nicht vorhanden ist“, urteilt Gräff. Sie habe Gutachten aus dem Untersuchungsausschuss ignoriert wie die von Experten, die klar aussagten, eine Räumung gerade von Erdgeschosswohnungen wäre „sehr schnell möglich gewesen“ – und überhaupt jede Menge Sach- und Rechtsfehler begangen. So verweist Gräff unter anderem auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, der bereits 2004 „eine Amtspflicht zur rechtzeitigen Warnung der Bevölkerung vor Fluten“ feststellte, und zwar „spätestens dann, wenn sich Zweifel an einer Beherrschung der Lage aufdrängen müssen.“

Ralph und Inka Orth mit einer der "Stummen Zeugen" vor der Staatskanzlei in Mainz: Alle Appelle, Eingaben, Briefe um Gerechtigkeit - bisher vergeblich. - Foto: gik
Ralph und Inka Orth mit einer der „Stummen Zeugen“ vor der Staatskanzlei in Mainz: Alle Appelle, Eingaben, Briefe um Gerechtigkeit – bisher vergeblich. – Foto: gik

Für Inka und Ralph Orth ist die Aussage des Staatsanwaltes, Warnungen würden keine Menschenleben retten, schlicht nur eines: Zynisch. Das sei zudem „eine gefährliche Umkehr von Verantwortung“, schreiben die Eheleute in einem Offenen Brief Ende Mai 2025: „Sie suggeriert, dass es sinnlos gewesen wäre, Menschenleben durch rechtzeitige Kommunikation zu schützen“, eine Behauptung, die ein geradezu fahrlässiges Signal aussende: „Wenn Warnungen angeblich ohnehin nichts bringen, kann man daraus im Umkehrschluss ableiten, dass Investitionen in Frühwarnsysteme, Alarmketten und präventive Kommunikation überflüssig seien. Das öffnet einer gefährlichen Gleichgültigkeit Tür und Tor – und entwertet den gesamten Katastrophenschutz.“

Die Denkweise der Staatsanwaltschaft und ihr kalter Umgang mit den Angehörigen von Opfern „lässt tief blicken – und zeigt, mit welcher Voreingenommenheit und fehlenden Empathie hier mit Hinterbliebenen kommuniziert wird“, klagt die Familie Orth in ihrem Offenen Brief, den Ihr hier auf Facebook nachlesen könnt. Und schreiben Politik und Justiz gleichermaßen ins Stammbuch: „Es darf niemals zur akzeptierten Argumentation der Justiz gehören, dass rechtzeitiges Handeln keinen Unterschied gemacht hätte – vor allem dann nicht, wenn dieses Handeln gar nicht oder in falscher Weise stattgefunden hat.“

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Experten: Staatsanwaltschaft ignoriert Beweise und Gutachten

Und die Orths werfen der Staatsanwaltschaft vor, hochqualifizierte und sachlich fundierte Analysen von Experten einfach zu ignorieren und Beweise schlicht nicht zur Kenntnis zu nehmen. „Es wird der Anschein einer Prüfung erweckt, ohne sich tatsächlich auf eine sachliche Auseinandersetzung mit den angebotenen Beweismitteln oder deren Relevanz festzulegen“, das werfe „ein weiteres beunruhigendes Licht auf die Qualität und Unabhängigkeit der Ermittlungen“, schreiben die Orths: „Der Eindruck der Vermeidung aktiver Ermittlungspflicht ist kaum noch zu übersehen.“

!35 Schaufensterpuppen stellt der Künstler Dennis Meseg auf ein Boot, und fuhr mit ihnen und der Familie Orth von der Ahr nach Mainz - in Erinnerung an die 136 Tioten der Ahrflut. - Foto: gik
!35 Schaufensterpuppen stellt der Künstler Dennis Meseg auf ein Boot, und fuhr mit ihnen und der Familie Orth von der Ahr nach Mainz – in Erinnerung an die 136 Tioten der Ahrflut. – Foto: gik

Und weiter: „Was uns hier seitens der Ermittlungsbehörden zugemutet wird – an Ignoranz, an Kälte, an Misstrauen – ist nicht nur unmenschlich, es ist beschämend. In einer Zeit, in der wir Trost, Aufklärung und Mitgefühl bräuchten, begegnet man uns mit Distanz, Zweifel und Abwehr. Das ist für uns kaum noch auszuhalten – und eines Rechtsstaats unwürdig.“

Auch Anwalt Hecken klagt, das Verfahren in Sachen Petition habe klar gezeigt, „dass das Justizministerium keinerlei Interesse hat, dass die Flutkatastrophe strafrechtlich aufgearbeitet wird.“ Es sei doch „echt erstaunlich, dass niemanden interessiert, dass der Rechtsausschuss falsch informiert wurde“, sagt Hecken, auf mehrere seiner Argumente sei im Urteil gar nicht eingegangen worden, stattdessen der Argumentation des Justizministeriums komplett Vorrang eingeräumt worden. „Das ist ein politisches urteil“, kritisiert Hecken: „Auch im Justizministerium ist man nicht bereit, Verantwortung für die in der Flutnacht gemachten Fehler zu übernehmen, und Konsequenzen zu ziehen.“

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„Es wird Gerechtigkeit gefordert. Nicht irgendwann. Jetzt.“

Ein wenig Hoffnung macht dem Anwalt deshalb nun das vorläufige Ergebnis des Disziplinarverfahrens gegen den Landrat: Zum ersten Mal werde hier ein Verantwortlicher wenigstens ein Stück weit zur Rechenschaft gezogen, sagte Hecken gegenüber Mainz&. Mehr noch: „Wenn es um die Aberkennung der Pension geht, dann muss ein Fehlverhalten so gravierend sein, dass das Innenministerium wahrscheinlich davon ausgeht, dass Pföhler durch sein Fehlverhalten auch für Tote verantwortlich ist“, erklärte der Anwalt weiter. Und wenn diese Kausalität von Seiten des Ministeriums bejaht werde, „dann ist das ein weiteres Argument für die Wiederaufnahme von Ermittlungen“, betonte Hecken.

Bewegender Facebook-Post einer Anwohnerin aus dem Ahrtal zum vierten Jahrestag der Flutkatastrophe und dem Kampf um Gerechtigkeit. - Screenshot: gik
Bewegender Facebook-Post einer Anwohnerin aus dem Ahrtal zum vierten Jahrestag der Flutkatastrophe und dem Kampf um Gerechtigkeit. – Screenshot: gik

„Die Familie Orth sagt, was viele nicht mehr laut sagen können“, schreibt Jessica Wolli in ihrem Post: „Dass es unerträglich ist, wie sich Verantwortliche aus der Affäre ziehen. Wie Jahre vergehen, ohne dass jemand zur Rechenschaft gezogen wird. Es kann nicht sein, dass jemand seine Pension bezieht und in Ruhe lebt, während andere nachts nicht schlafen können, weil sie Stimmen hören, die es nicht mehr gibt.“ Das Ahrtal sei wunderschön, es lebe, es kämpfe darum, wieder leben zu können.

„Aber es ist ein täglicher Kampf gegen das Vergessen. Gegen die politische Müdigkeit. Gegen den Schmerz, der immer wieder aufreißt, wenn man sieht, dass nichts passiert“, schreibt Jessica: „Das Ahrtal ist nicht einfach Opfer einer Naturkatastrophe. Das Ahrtal ist das Opfer eines politischen Totalversagens. Und wenn es keine strafrechtlichen Konsequenzen gibt, wenn niemand zur Verantwortung gezogen wird, dann wird das Vertrauen in die Gerechtigkeit sehr variabel sein.“

Und weiter: „Es wird Gerechtigkeit gefordert. Nicht irgendwann. Nicht vielleicht. Jetzt.“

Info& auf Mainz&: Mainz& startet mit diesem Text eine ganze Artikel-Serie zum 4. Jahrestag der Flutkatastrophe im Ahrtal – wir wollen Bilanz ziehen, Entwicklungen berichten und haben Interviews geführt. Die nächsten Artikel folgen. Wir können nicht alle unsere Artikel verlinken, deren Inhalte in diesen Text einflossen – am besten Ihr studiert selbst unser Dossier zur Flutkatastrophe im Ahrtal, das Ihr hier auf Mainz& findet. Und wer es noch nicht kennt – hier gibt es unser Buch zur Aufarbeitung aus dem Untersuchungsausschuss:

Buch „Flutkatastrophe Ahrtal – Chronik eines Staatsversagens“ arbeitet politisches Versagen in der Flutnacht auf