Die Nachricht schlug ein wie eine Bombe: Die Menschheit zerstört die Ökosysteme der Erde, rund eine Million Pflanzen und Tiere drohen in den kommenden Jahrzehnten auszusterben – und die Spirale dreht sich immer schneller. Das ist das Fazit der Experten des Biodiversitätsrates IPBES der Vereinten Nationen, die für ihren Bericht Unmengen von Forschungen und Studien weltweit auswerteten. Das rasante Artensterben aber ist beileibe nicht nur ein Ökothema: Der Verlust der Arten beeinflusse Wirtschaft, Soziales und die politische Stabilität wie Flüchtlingsströme. Volker Mosbrugger, Generaldirektor der Frankfurter Senckenberg-Gesellschaft, initiierte schon 2018 die Frankfurter Erklärung – mit praktisch gleich lautendem Inhalt,. Nun forderte der Evolutionsbiologe in Mainz: Die Natur braucht einen Preis, die Kosten des Ökosystems Natur müssen endlich vom Menschen mit eingerechnet werden.

Professor Volker Mosbrugger ist Biologe und Paläontologe und Chef der Frankfurter Senckenberg-Gesellschaft. – Foto: gik

Zwei Millionen Tier- und Pflanzenarten kennt die Menschheit derzeit – etwa eine Million davon könnte in den kommenden Jahrzehnten für immer verschwinden. „Wir erleben so etwas wie ein Massenaussterben“, sagt der Biologe und Paläontologe Volker Mosbrugger. Die Ursache dafür sei ganz klar der Mensch und sein Raubbau an der Natur: Der Mensch nutze derzeit die Natur wie ein Kapital, aber ohne dafür zu zahlen, sagt Mosbrugger, und plädiert für ein radikales Umdenken: „Wir brauchen eine Vollkostenrechnung für die Dienstleistungen des Ökosystems Natur.“

Mosbrugger ist nicht irgendein Wissenschaftler, der Evolutionsbiologe ist Generaldirektor der Frankfurter Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung und Direktor des gleichnamigen Forschungsinstituts und Naturmuseums. Schon im August 2018 initiierte sein Institut die „Frankfurter Erklärung“ zum Schutz der Artenvielfalt, darin fordern 22 renommierte deutsche Wissenschaftler eine sofortige Trendwende: Der Verlust an Arten und Biodiversität habe auch in Deutschland „dramatische Ausmaße“ angenommen, der Verlust an Ökosystemleistungen ziehe weltweit immense volkswirtschaftliche Schäden nach sich.

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Sterbende Arten habe es in der Evolution immer schon gegeben, das Problem derzeit sei die hohe Geschwindigkeit, erklärte Mosbrugger nun in einem Vortrag auf Einladung der Mainzer CDU: „Die Aussterberate ist um den Faktor 100 bis 1000 mal schneller als gewöhnlich.“ Das sei in der Geschwindigkeit nur vergleichbar mit einem Massensterben wie vor 66 Millionen Jahren – als die Dinosaurier ausstarben. Hauptgrund: Die Übernutzung der Natur durch den Menschen, vor allem in der intensiven Landwirtschaft. Die industrialisierte Massenlandwirtschaft sei der größte Treiber des Artensterbens, sagt Mosbrugger, sie bringe Übernutzung, Monokulturen und die Einengung auf wenige Sorten und zu hohe Schadstoffeinträge in die Böden mit sich.

Eine Million Insekten kennen wir, ein Großteil ist in den nächsten Jahrzehnten vom Aussterben bedroht – durch den Raubbau der Menschen. Dazu gehört auch die Blaue Holzbiene. – Foto: R. Michalski

„Der Mensch ist eine die Erde gestaltende Kraft, und wir greifen mindestens so stark ein wie Erdbeben“, sagt der Experte. Seit 1950 explodierten die Kurven, nähmen die Verbräuche der Naturressourcen in großen Sprüngen zu. „Da beginnt die Great Acceleration, die große Beschleunigung des Verbrauchs der Menschen an Ressourcen“, erklärt Mosbrugger. Der Menschheit sei es noch nie so gut gegangen wie heute, obwohl so viele Menschen die Erde bevölkerten, wie noch nie. „Aber dieser Anstieg geht zurück auf eine Übernutzung der Natur“, warnt Mosbrugger.

Die Auswirkungen seien vielfältig und zeigten sich inzwischen mehr als deutlich: Schadstoffe in der Umwelt, Rohstoff-Knappheit, Versauerung der Ozeane, Plastik im Ozean, Schwund von Naturflächen und Biodiversitätsverlust, „die Natur wird zum limitierenden Faktor“, sagt Mosbrugger. Die Wissenschaft nenne das „ein Systemproblem: die Tragödie der Allmende“. Allmende, das waren einmal Flächen eines Dorfes, die allen gemeinsam gehörten und von jedem genutzt werden durften – unentgeltlich. Und genau so nutze der Mensch heute die Natur aus, sagt Mosbrugger: Er beute sie aus, aber er zahle nicht dafür.

Doch diese Rechnung gehe immer weniger auf: „Die ökonomischen Werte, die wir aus der Natur nehmen, haben den gleichen Wert wie das gesamte Bruttosozialprodukt der Erde“, rechnet Mosbrugger vor. Falle die Natur weg, fielen auch diese Werte weg – mit dramatischen Folgen. Es gebe die Hypothese, „wenn wir 50 Prozent der Natur zerstört haben, überschreiten wir eine Grenze, nach der die Natur kippt“, sagt Mosbrugger, „das Risiko ist da, dass das System instabil wird – und es geht beängstigend schnell bergab.“

Die intensive Landwirtschaft mit Monokulturen sehen Experten als einen der Hauptgründe für das derzeitige rasante Artensterben. – Foto: gik

Als Beispiel führt auch Mosbrugger gerne das Thema Bestäubung an: Insekten sorgen dafür, dass Pflanzen bestäubt werden und Früchte wachsen können – der Mensch habe bisher den Wert dieser Dienstleistung ignoriert. Betroffen vor allem: die Vitaminbringer wie Obst, Früchte. „Der Wert der Bestäubung durch die Natur liegt bei rund 400 Milliarden Euro pro Jahr – das ist mehr als der Haushalt der Bundesrepublik“, rechnet Mosbrugger vor.

Seine Konsequenz: Bei der Berechnung der Kosten für ein Produkt müsse eigentlich die Ökosystem-Dienstleistung mit eingerechnet werden. Konkret hieße das etwa: „300 bis 600 Euro pro Jahr gewinnt man als Landwirt, wenn man Grünland in Acker umwandelt“, rechnet Mosbrugger vor, doch der Verlust des Ökosystems werde einfach vergessen. „Der einzelne Bauer profitiert, aber die Gesellschaft verliert – die Bilanz ist negativ“, sagt Mosbrugger, „das müssten sie dem Bauer eigentlich in Rechnung stellen.“

„Wir brauchen eine Vollkostenrechnung inklusive Natur“, fordert Mosbrugger deshalb, die Nutzung des Ökosystems und seiner Dienstleistungen dürfe nicht länger kostenlos sein. Auch beim Trinkwasser werde ja der gesamte Kreislauf bezahlt, „das müssten wir für alles machen“, fordert der Wissenschaftler. Die Preise müssten den ganzen Kreislauf finanzieren, „das ist die einzige Lösung.“ Nur wenn die Natur einen ökonomischen Wert bekomme, werde der Mensch umdenken – Mosbrugger plädiert deshalb auch für eine CO2-Steuer.

Was der Experte rät? Mehr Wildnis wagen – auch auf den Blumenbeeten in der Stadt. – Foto: gik

Aber auch Verbraucher und Kommunen könnten deutlich mehr tun. „Wir müssen mehr Wildnis wagen“, rät Mosbrigger, was in vielen Gärten und auf den meisten Grünflächen geschehe, sei „ausgesprochen kontraproduktiv.“ Denn statt der Natur Raum zu geben, würden Rasenflächen wie Golfplätze gepflegt und Pflanzen gestutzt. „Wir haben das Ideal des ordentlichen Gartens“, sagt Mosbrugger, für die Biodiversität sei das nicht hilfreich. „Ich muss der Natur wieder mehr Raum geben, sie sich entwickeln lassen, die Vielfalt ist das, was das System stabil macht“, rät der Biologe: „Das gilt insbesondere für die Städte: Natur muss wieder in die Stadt hinein, da gibt es richtig viel Potenzial.“

Drei große Komponenten beeinflussten die Erde und ihr System, sagt Mosbrugger: „People, Prosperity und Planet“ – Mensch, Fortschritt/Wohlstand und der Planet. Doch bislang habe sich der Mensch nur „um People und Prosperity gekümmert“, die Aufgabe für die kommenden 50 Jahre sei deshalb, die drei Komponenten wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Andernfalls drohe Dramatisches: „Die Natur braucht drei bis fünf Millionen Jahre, bis sie sich von einem solchen Massensterben erholt“, sagt Mosbrugger trocken: „Wir bezeichnen das als Enkelfähigkeit.“

Info& auf Mainz&: Mehr zum Thema Artenvielfalt, Biodiversität, die Rolle der Bienen und was der Einzelne für sie tun kann, lest Ihr morgen hier auf Mainz& – wir haben ein ganzes Paket zum Thema für Euch! Mehr zur Frankfurter Erklärung lest Ihr hier im Internet.

 

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