Seit Montag befindet sich Deutschland im Teil-Lockdown – und die Zahl der Corona-Infektionen steigt und steigt. Am Donnerstag meldete das Gesundheitsamt Mainz-Bingen 169 Neuinfektionen, davon allein 120 in der Stadt Mainz. Damit sind 827 Menschen in der Stadt Mainz aktuell mit dem Coronavirus infiziert – und Mainz überschritt damit die Schwelle von 200 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern binnen der vergangenen sieben Tage. Die Corona-Ampel steht damit auf dunkelrot – wohl auch wegen hemmungsloser Feiern vergangenes Wochenende. Seit vergangenen Freitag unterstützt nun die Bundeswehr bei der Nachverfolgung der Corona-Infektionsketten.
Am 30. Oktober verkündete Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) den „Wellenbrecher-Lockdown“, einen Teil-Lockdown, der mit der Schließung aller Freizeit- und Kultureinrichtungen sowie der Restaurants und Bars helfen soll, den exponentiellen Anstieg der Fälle zu brechen. Ende September hatte Merkel gewarnt mache Deutschland so weiter, werde man Weihnachten Infektionen von 19.000 Fällen haben – pro Tag. An diesem Donnerstag meldete das Robert-Koch-Institut (RKI) 19.990 Neuinfektionen binnen 24 Stunden, am 5. November.
In Mainz registriert das Gesundheitsamt bereits seit Tagen rasant steigende Fallzahlen, am Montag kamen binnen zwei Tagen 239 neue Fälle hinzu, davon 168 Neuinfektionen in der Stadt Mainz. Am Donnerstag wurde nun mit 169 Neuinfektionen ein neuer Höchststand an einem Tag erreicht, im Landkreis kamen 49 Neuinfektionen hinzu, in der Stadt Mainz allein 120. Auch der Landkreis Mainz-Bingen ist mit 120 Infektionen pro 100.000 Einwohner im Sieben-Tages-Schnitt längst im roten Bereich der höchsten Corona-Warnstufe – Mainz überschritt am Donnerstag die 100er-Marke.
Das hat längst auch Auswirkungen auf die Nachverfolgung der Fälle: das Gesundheitsamt warnte bereits seit Wochen, man komme mit dem Hinterhertelefonieren der Infektionsketten nicht mehr nach. Vergangene Woche rief Landrätin Dorothea Schäfer (CDU) deshalb die Bundeswehr zu Hilfe, wie viele andere Kommunen zuvor auch. Seit Freitag helfen deshalb nun acht Soldaten – es sind tatsächlich nur Männer – bei der Nachverfolgung im Mainzer Gesundheitsamt.
„Ich habe mich sofort freiwillig gemeldet“, sagt Till Klein, „ich wollte gerne aktiv helfen.“ Normalerweise widmet sich der junge Feldwebel aus Taunusstein dezentralen Serversystemen bei der Bundeswehr, derzeit aber tut er Dienst im dritten Stock im Mainzer Gesundheitsamt. Der Stapel der Nachverfolgungsbögen werde nur langsam kleiner, berichten die Soldaten, derzeit telefonierten sie den Fällen von vergangener Woche hinterher – Menschen, die womöglich seit Tagen infiziert herumlaufen, ohne gewarnt zu sein. „Wir sind ja nicht mehr so weit hinterher“, sagt Klein.
Mit rund 200 Soldaten ist die Bundeswehr inzwischen in allen Landkreisen und diversen Testeinrichtungen in Rheinland-Pfalz aktiv, bundesweit habe man einen Pool von rund 15.000 „Helfenden Händen“, berichtet Oberst Stefan Weber, Chef des Landeskommandos Rheinland-Pfalz: „Wenn wir Hilfe leisten können, tun wir das gerne, solange unsere Kräfte ausreichend sind.“ Man habe in erster Linie „Soldaten gefragt, die sich mit IT auskennen und Verwaltungsaufgaben übernehmen können“, sagt Weber.
So wie Jan Schwob, Stabsgefreiter aus Groß-Gerau, der sonst in Kastellaun im Hunsrück Dienst tut. Normalerweise kümmere er sich um Tagesdienstpläne und Ausbildungsorganisation, berichtet der 26-Jährige, „damit kenne ich mich aus.“ Jetzt sitzt er in einem kleinen Büro bei offenen Fenstern und berichtet wildfremden Menschen, dass sie Kontakt mit einer Corona-infizierten Person hatten. „Wir haben festgestellt, die meisten wissen schon Bescheid, die kennen sich ja untereinander“, berichtet Schwob.
Bislang seien alle seine Angerufenen freundlich gewesen, betont Schwob: „Es gab nie Komplikationen, die Leute sind alle zuvorkommend.“ Gemeinsam werde dann ein Anamnesebogen des Gesundheitsamtes abgearbeitet, „man fragt, wann der letzte Kontakt zum Infizierten war, ob Symptome aufgetreten sind und so“, berichtet der Stabsgefreite. Die Gespräche könnten fünf Minuten dauern oder 20, wenn er 15 Personen am Tag schaffe, sei das viel.
Das Problem der Nachverfolger: Mindestens ein Drittel der Neuinfektionen sind inzwischen sogenannte diffuse Fälle, also Menschen, die nicht mehr wissen oder sagen können, wo sie sich infiziert haben. Öffentlicher Nahverkehr, Restaurantbesuche, Treffen mit Freunden, der Arbeitsplatz – alle Treffen mit anderen Menschen kommen in Frage. Experten betonen immer wieder, es seien enge Kontakte in geschlossenen Räumen ohne Lüftung, wo die meisten Infektionen passierten, also müssten auch Busse und Bahnen dazugehören. „Ich weiß es einfach nicht“, sagt der Leiter des Gesundheitsamtes Mainz-Bingen, Dietmar Hoffmann, „es gibt dazu keine Studien.“
Auch Klein fragt seine Anrufkontakte, wie die Treffen abliefen, bei denen es zur Infektion kam. „Meistens sind es die Kleinigkeiten, die man vernachlässigt“, hat Klein gelernt – es seien noch nicht einmal wilde Feiern, bei denen es zu Infektionen gekommen sei. „Die haben sich einfach getroffen mit Freunden, wenn man da nicht den Mindestabstand einhält, das reicht schon“, sagt er. Nachdenklich ist der 21-Jährige geworden – und vorsichtig. Wenn er morgens mit seinen Eltern frühstücke, das könne für die Weitergabe einer Infektion schon reichen. Treffen mit seinen Großeltern meidet er derzeit: „Ich bin auf jeden Fall sensibilisierter“, sagt Klein.
Mehr Vorsicht in der Bevölkerung, das wünscht sich auch Gesundheitsamtschef Hoffmann. Der November-Lockdown sei „bitter für Gastronomie und Kultur“, sagt er, dennoch hoffe er, „dass das mal ein deutliches Signal an die Bevölkerung ist, dass es so nicht weitergeht.“ Denn noch zeigten die Beschränkungen keinen Effekt, „auch nicht bei der Beschränkung der Kontakte“, kritisiert er – der Teil-Lockdown sei „die letzte Option, das Geschehen noch einzudämmen.“ Gerade am Wochenende vor dem Start des Lockdowns war in der Mainzer Innenstadt aber noch einmal die Hölle los, in mehreren Restaurants und Kneipen wurde hemmungslos gefeiert – dicht an dicht, ohne Abstand und Masken.
Er habe am Samstag um kurz vor der Sperrstunde ab 23.00 Uhr am Schillerplatz noch einen Absacker trinken wollen, berichtete der Mainzer Clubbetreiber Michael Vogt am Wochenende auf Facebook, doch was er da gesehen habe, habe ihn fassungslos gemacht: „Abstandsregel gab es da nicht, am Nachbartisch saßen mindestens 15 Leute. Du versuchst das Ordnungsamt anzurufen, weil dir das auf den Sack geht, dass du deinen eigenen Laden nach aller Regel schon zu hast, dich an alle Regeln gehalten hast, und den anderen ist das Scheiß egal.“ Doch erreicht habe er niemanden, da sei keiner gewesen, der das Treiben unterbunden habe, auch die Polizei sei nur vorbeigefahren. „Da fühle ich mich als Gastronom nicht verarscht, sondern einfach nur vorgeführt, gefickt und gearscht“, schrieb Vogt, der in der Stadt als „Sweaty“ bekannt ist.
Das Mainzer Ordnungsamt habe seine Aktivitäten eigens in die Abendstunden des Samstags verlegt und habe vor allem in Bars und Restaurants kontrolliert, sagte die Mainzer Ordnungsdezernentin Manuela Matz (CDU) auf Mainz&-Anfrage. „Es war in der Tat so, dass in der Stadt unglaublich viel los war“, berichtete sie. Zwei Bars habe das Ordnungsamt komplett geschlossen, auch bei anderen Gaststätten habe man wegen Ausschank nach 23.00 Uhr und dicht gedrängter Menge eingegriffen. „Wir haben da schon durchgegriffen“, verteidigte Matz die Kontrollen, „aber wenn man da völlig entfesselt unterwegs ist und meint, man müsse da noch einen draufmachen, dann werden wir des Geschehens nicht mehr Herr.“ Man habe schlicht nicht genügend Kapazitäten gehabt, überall zu kontrollieren.
Matz kritisierte die hemmungslosen Feiern kurz vor dem Lockdown scharf: „Völliges Unverständnis für, wie man so handeln kann, das sage ich ganz ehrlich“, kritisierte die Dezernentin, „man weiß doch, welche Gefahren da lauern.“ Das sei ein völlig rücksichtsloses Verhalten, „gerade anderen Menschen mit Vorerkrankungen gegenüber“, betonte Matz: „Ich kann doch nicht sagen, Augen zu und durch und wir machen Halligalli als gäbe es kein Corona.“ Es sei doch „kein Spaß in einen Lockdown zu gehen“, warnt Matz: „Wenn wir die Gefahren nicht in den Griff kriegen, wird es nicht bei einem Monat bleiben.“
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