Deutschland rutscht immer tiefer in eine Krise, die sogar historische Ausmaße annehmen könnte: Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag DIHK warnt aktuell vor der größten Wirtschaftskrise seit mehr als 20 Jahren. Die Gründe sind weitgehend hausgemacht: Hohe Energiekosten und die Inflation belasten weiter die Unternehmen, dazu kommen steigende Zinsen sowie eine wachsende Konjunkturflaute auch im Inland – auch vor drastisch steigenden Löhnen warnen Wirtschaftsvertreter inzwischen. Die Zahl beantragter Insolvenzen stieg im Januar um 26 Prozent im Vergleich zum Vorjahr – auch in Mainz und Rheinhessen wächst der Frust.
Deutschland – der „kranke Mann Europas“? Was vor 20 Jahren ein geflügeltes Wort in Europa war, macht nun wieder die Runde: Deutschland entwickelt sich wirtschaftlich immer weiter zum Schlusslicht unter den EU-Ländern. Gerade erst musste die Bundesregierung erneut ihre Wirtschaftsprognose für 2024 nach unten korrigieren: Statt den 2023 noch vorhergesagten 1,3 Prozent Wachstum des Bruttoinlandsproduktes, würden es nun wohl nur noch 0,2 Prozent Wachstum sein, musste Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) vor einer Woche einräumen: Das sei „dramatisch schlecht“, stellte der Minister fest.
Die Lage ist wohl noch schlechter, als der Minister es einräumen mochte: Sämtliche Wirtschaftsexperten gehen längst davon aus, dass Deutschland auch 2024 ein Minuswachstum erwartet. Das aber wäre geradezu historische schlecht: Damit würde Deutschland erst zum zweiten Mal in der Nachkriegsgeschichte wieder eine Phase von zwei aufeinanderfolgenden Jahren mit schrumpfender Wirtschaftsleistung erleben, warnte nun der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK).
Deutscher Wirtschaft droht zweites Rezessionsjahr in Folge
Nach einer Befragung von mehr als 27.000 Unternehmen aus allen Branchen und Regionen, rechne man damit, dass die deutsche Wirtschaft in diesem Jahr um 0,5 Prozent schrumpfe, hieß es nun nach der aktuellen Konjunkturumfrage des DIHK – 2023 war das Wirtschaftswachstum bereits um 0,3 Prozent zurückgegangen. „Das ist ein deutliches Alarmzeichen“, sagte DIHK-Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben: „Die schlechte Stimmung der Unternehmen verfestigt sich.“
Das stellte nun auch die Industrie- und Handelskammer (IHK) Rheinhessen in ihrer Januar-Umfrage fest: „Der Frust der Unternehmen über die schwierigen wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen und die zunehmende Bürokratie wächst spürbar“, sagte IHK-Hauptgeschäftsführer Günter Jertz vergangene Woche in Mainz. Der anhaltende Fachkräftemangel und die weiterhin hohen Energie- und Rohstoffkosten belasteten die Unternehmen weiter.
„Die zahlreichen Krisen haben ihre Spuren hinterlassen und die gemeldeten Ergebnisse der rheinhessischen Unternehmen sind entsprechend zurückhaltend“, so das Fazit des aktuellen Konjunkturklimaindexes vom Januar: Demnach verzeichnen nur noch 34 Prozent der Betriebe aktuell eine gute Geschäftslage, 45 Prozent aber nur noch eine befriedigende und 21 Prozent sogar eine schlechte Situation. Die Geschäftserwartungen für die kommenden zwölf Monate schätzen nur 15 Prozent der befragten Unternehmen besser ein, 59 Prozent rechnen mit einer gleichbleibenden Entwicklung, und 26 Prozent befürchten eine schlechtere Lage.
„Unverhältnismäßig hohe Energiekosten“, Inflation, Zinsanstieg
Besonders dramatisch: die hohen Kosten – insbesondere „unverhältnismäßig hohe Energiekosten“, wie es im Bericht heißt – sowie „die mangelnde Planbarkeit und Verlässlichkeit“ drücken auf die Investitionsbereitschaft der Unternehmen für die kommenden zwölf Monate. Demnach rechnen nur 29 Prozent steigenden Investitionen, 46 Prozent gehen von einem gleichbleibenden Niveau aus – 25 Prozent wollen ihre Investitionen aber sogar zurückfahren.
Der Konjunkturklimaindex, Gradmesser für die wirtschaftliche Entwicklung in Rheinhessen, verharrte zwar im Vergleich zum Jahresende auf 101 Punkten und blieb damit genau auf der Schwelle zwischen Wachstum und Abstieg, doch das war nur einer Branche zu verdanken: Die Unternehmen aus dem Dienstleistungssektor verzeichnen mit einem Konjunkturklimaindex von 109 Punkten erneut das beste Ergebnis aller Branchen. Der Einzel- und Großhandel klagt hingegen über „eine anhaltende Konsumflaute aufgrund der Unsicherheiten und der nach wie vor hohen Inflation“ und vermeldet einen Klimaindex von lediglich 94 Punkten, der damit bereits seit zwei Jahren unter der Wachstumsschwelle liegt.
In der Industrie liegt der Klimaindex mit derzeit 95 Punkten bereits zum dritten Mal hintereinander unterhalb der Wachstumsschwelle von 100 Punkten. Bei den Geschäftserwartungen für die nächsten zwölf Monate hoffen nur noch 9 Prozent der Industrieunternehmen auf bessere Geschäfte, 64 Prozent kalkulieren mit einer gleichbleibenden Entwicklung und 27 Prozent befürchten Einbußen. „All das verstärkt den Druck in Richtung Politik nach Reformen, mehr Tempo und Verlässlichkeit bei Entscheidungen“, mahnte Jertz – doch ob die Politik zuhört, ist fraglich.
Tiefe Krise im Bausektor: „Wer jetzt baut, geht bankrott“
Bereits beim Besuch von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck in Mainz zum Jahresempfang der Wirtschaft im Januar hatte der Präsident der Handwerkskammer Rheinhessen, Hans-Jörg Friese geklagt, der Frust in der Wirtschaft wachse immer weiter an – „aber ich habe das Gefühl: Es hört mir keiner zu, gelinde gesagt: Ich fühle mich verascht.“ Auch vom Hessischen Industrie- und Handelskammertag hieß es am Dienstag, die Zeit dränge, Bund und Länder müssten sich nun endlich bewegen, und die Reformen des Wachstumschancengesetzes verabschieden – am Mittwoch soll in Berlin darüber entschieden werden.
„Die Wirtschaft – nicht nur in Hessen – macht sich große Sorgen“, betonte man beim HIHK: Die Stimmung der Unternehmer sei „nach wie vor gedrückt“, es brauche dringend Bürokratieabbau oder steuerliche Erleichterungen. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) wies hingegen gerade erst wieder die Warnungen zurück: Es gebe keine Krise, sagte Scholz beim Besuch des neuen Microsoft-Standortes – der Kanzler hatte auch im Januar 2023 behauptet, Deutschland stehe nicht vor einer Rezession.
Derweil mehren sich die Alarmzeichen von allen Seiten: Am Dienstag warnten die Experten des Zentralen Immobilien Ausschusses (ZIA) vor einer tiefen Krise im Bausektor – und vor einem sozialen Debakel. Der Grund: Wegen der stark gestiegenen Zinsen lohnten sich die meisten Bauprojekte nicht mehr, der Wohnungsneubau drohe einzubrechen und befinde sich bereits im Ausnahmezustand, es drohten explodierende Mieten. Eine „schwarze Null“ bei Wohnungsneuentwicklungen werde dem ZIA zufolge erst bei einer Durchschnittsmiete von 21 Euro pro Quadratmeter erzielt, warnte ZIA-Präsident Andreas Mattner: „Wer jetzt baut, geht bankrott.“
Insolvenzen um 26 Prozent gestiegen, selbst Weltmarktführer kämpfen
Bankrott gehen derweil auch immer mehr Unternehmen: Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes stieg die Zahl der Regelinsolvenzen in Deutschland im Januar 2024 um 26,2 Prozent gegenüber dem Januar 2023 – im Dezember 2023 hatten die Statistiker bereits einen Anstieg um 12,3 Prozent gegenüber Dezember 2022 ausgewiesen. „Seit Juni 2023 sind damit durchgängig zweistellige Zuwachsraten im Vorjahresvergleich zu beobachten“, meldeten die Statistiker gerade. Die Insolvenzen betreffen indes nicht nur Unternehmen wie Galeria Kaufhof, bundesweit haben aktuell auch 130 Krankenhäuser Insolvenz angemeldet, wie Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) bestätigte.
Bereits 2022 und 2023 war es im Zuge der Energiekrise und der galoppierenden Inflation auch in Mainz und Rheinhessen zu zahlreichen Insolvenzen oder Schließungen von Bäckereien, Gastronomiebetrieben und kleinen Geschäften gekommen – in Mainz waren das unter anderem das Café Pomp oder der Club Imperial, die Bäckereien Lüning, Lohners und Olemutz, oder die Mainzer Metzgereien Lumb und Walz. Inzwischen trifft die Krise aber selbst Weltmarktführer: Das Traditionsunternehmen Miele kündigte gerade an, 700 Jobs in der Waschmaschinenherstellung von Gütersloh nach Polen zu verlagern – weil dort die Energiepreise dramatisch niedriger seien.
Und der Gerätehersteller Stihl kündigte gerade an, seine Pläne für einen Werksneubau am Stammsitz in Ludwigsburg vorerst zu streichen – man könne sich das Projekt angesichts der explodierenden Preise nicht mehr leisten. Stihl ist Weltmarktführer und wollte in Ludwigsburg rund 100 neue Arbeitsplätze schaffen, daraus wird erst einmal nichts. Auch Großfirmen wie Bosch, Bayer, SAP, oder Reifenhersteller Goodyear haben den Abbau Tausender Arbeitsplätze angekündigt, ebenso Michelin und Continental – auch bei der Deutschen Telekom sollen rund 1.500 Mitarbeiter gehen, und das im Kernbereich der IT. Laut Berechnungen des „Focus“ könnten allein in diesem Jahr 40.000 Arbeitsplätze verloren gehen – von Autobauern über Banken bis hin zu Zalando und Paketdienst DPD.
Lindner findet Minuswachstum „nachgerade peinlich“
Zuletzt schrumpfte die deutsche Wirtschaft übrigens in den Jahren 2002 und 2003 zwei Jahre in Folge – damals reagierte die gerade ins Amt gewählte rot-grüne Regierung von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) mit der „Agenda 2010“. Die weitreichenden Arbeitsmarkt- und Sozialreformen mit Kürzungen von Sozialleistungen, Lockerung des Kündigungsschutzes und der Schaffung eines großen Leiharbeits- und Mindestlohnsektors machte Deutschland in den Jahren danach zur Konjunktur-Lokomotive in Europas.
Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) sagte derweil beim Politischen Aschermittwoch seiner Partei in Potsdam mit Blick auf die geringe Wachstumsprognose: „Ich finde das nachgerade peinlich und in sozialer Hinsicht gefährlich.“ Deutschland werde damit wieder in der Schlussgruppe der Industriestaaten landen – da war er wieder, der „kranke Mann Europas“. Bislang konnten sich SPD, Grüne und FDP in der Ampel-Koalition in Berlin nicht auf ein Konzept zur Stärkung des Wirtschaftsstandorts Deutschland einigen.
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