Die drohende türkische Offensive gegen die Kurdengebiete im Norden Syriens treibt auch einen Mainzer um: Der Arzt Gerhard Trabert war noch vor vier Wochen in der kurdischen Stadt Kobane und in der Region Rojava: „Ich habe da schon die Angst vor einer drohenden Invasion mitbekommen, eine Invasion wäre verheerend“, berichtete Trabert nun gegenüber Mainz&: Ärzte berichteten, die Fehlgeburtenrate habe sich verdoppelt, seit der Einmarsch der Türken die Menschen verängstige. Es drohe ein ausgesprochen blutiger Kampf, denn die Kurden der Region würde diese niemals den Türken überlassen. Trabert fordert Unterstützung für die Kurden, die entscheidend am Kampf gegen den Islamischen Staat beteiligt waren. „Demokratien müssen hier Flagge zeigen“, fordert Trabert, „wir geben dort Menschenrechte auf.“ Update: Die türkische Militäroperation begann am Mittwochnachmittag.

Der Mainzer Arzt Gerhard Trabert in der kurdischen Stadt Kobane vor Resten des Kriegs gegen den Islamischen Staat.- Video: Trabert - Screenshot: gik
Der Mainzer Arzt Gerhard Trabert in der kurdischen Stadt Kobane vor Resten des Kriegs gegen den Islamischen Staat.- Video: Trabert – Screenshot: gik

Seit Jahren reist Trabert bereits in die Kurdenregion im Nordosten von Syrien, seit einem Jahr unterstützt sein Mainzer Verein „Armut und Gesundheit“ in Kobane, im Grenzgebiet zur Türkei, eine medizinische Ambulanz für Diabeteskranke. Allein zwischen März 2017 und September 2019 war war Trabert sechs Mal persönlich in Kobane sowie in Rojava, einer autonomen, von Kurden in Basisdemokratie verwalteten Stadt im Nordosten von Syrien – zuletzt Anfang September.

Trabert besuchte dabei auch zwei große Flüchtlingscamps, Ayn Issa sowie das Al-Hol Camp in der Nähe von Al-Hasaka, allein in Letzterem leben rund 70.000 geflüchtete Menschen. „In der Region fanden die letzten Kämpfe gegen den Islamischen Staat statt“, berichtet Trabert, viele der Flüchtlinge seien Frauen und Kinder von gefangenen IS-Kämpfern. „Die Kurden dort waren gut genug, den IS zu bekämpfen, auch für uns“, sagt Trabert, rund 11.000 Kurden hätten dabei ihr Leben gelassen. Nun aber würden sie „im Stich gelassen, auch von Deutschland“, kritisiert der Arzt.

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„Ich habe schon vor vier Wochen die Angst vor einer Invasion mitbekommen“, berichtet Trabert weiter. Die Kurden dort seien fest entschlossen zu bleiben und bereiteten sich darauf vor, gegen die türkischen Truppen zu kämpfen: „Die Menschen werden es nie akzeptieren, dass die Türkei dort Besitz ergreift“, sagt Trabert, „sie werden kämpfen für die Freiheit, die sie haben, für die demokratische Grundordnung, die sie aufgebaut haben.“ Die Kämpfe würden voraussichtlich „sehr blutig“, befürchtet der Arzt: „Das wird verheerend.“

Der Mainzer Arzt Gerhard Trabert unterstützt in der kurdischen Region Rojava mehrere medizinische Hilfsprojekte wie dieses Behelfskrankenhaus. Die Kinder und auch ihre Eltern haben selbstverständlich zugestimmt, fotografiert zu werden. – Foto: Trabert
Der Mainzer Arzt Gerhard Trabert unterstützt in der kurdischen Region Rojava mehrere medizinische Hilfsprojekte wie dieses Behelfskrankenhaus. Die Kinder und auch ihre Eltern haben selbstverständlich zugestimmt, fotografiert zu werden. – Foto: Trabert

Die Angst vor der türkischen Invasion sei groß, schon jetzt – so berichteten Ärzte der Region – habe sich in Kobane die Fehlgeburtenrate auf bis zu 45 Fehlgeburten pro Monat verdoppelt, bei etwa 400 bis 450 Geburten. Schon im März 2018 hatte Trabert gewarnt, als die Türkei die nordsyrische Stadt Afrin bombardierte, und von einem Kriegsverbrechen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan gesprochen – Erdogan konnte trotzdem Afrin und Umgebung ungehindert von Nato oder EU einnehmen. Die UN stufte inzwischen die Invasion der Türkei in Nordsyrien aus 2018 als einen Verstoß gegen das Völkerrecht ein. Greife Erdogan jetzt auch Kobane und Rojava an, werde es schlimmer, befürchtet Trabert.

Bei seinem Besuch Anfang September brachte der Arzt erneut Inkubatoren und Ultraschallgerät nach Kobane, „Armut und Gesundheit“ habe dort geholfen, eine Ambulanz für Diabetiker aufzubauen. „Die Ambulanz arbeitet seit rund einem Jahr“, berichtet Trabert. „Armut und Gesundheit“ finanziert die Personalkosten für zwei Krankenschwestern, eine Raumpflegerin sowie den leitenden Arzt Barwan Ali. Allein 2019 wurden dort über 400 Patienten behandelt, in vielen Fällen hätten Amputationen wegen diabetischen Fußes verhindert werden können. Mehr als 900 Patienten wurden darüber hinaus allgemeinmedizinisch behandelt – Nierenerkrankungen, Krebs und Kinderbluterkrankungen seien weit verbreitet, die Tuberkulose nehme derzeit stark zu.

Kriegs-Wandgemälde in Nordsyrien - Foto: Trabert
Kriegs-Wandgemälde in Nordsyrien – Foto: Trabert

Medikamente und Hilfslieferungen der Weltgesundheitsorganisation kämen aber nur rudimentär bei den Krankenhäusern der Region an, in der insgesamt rund fünf Millionen Menschen leben. Von seinen Erfahrungen berichtete Trabert vor gut zwei Wochen auch bei einer Anhörung im Deutschen Bundestag, auch von der funktionierenden Demokratie unter den Kurden, die alle Volksgruppen Willkommen heiße. „Die Rojava-Region in Nordsyrien ist ein Ort des Widerstandes gegen den sogenannten islamischen Staat“, betonte Trabert, „in meinen Augen müssen Demokratien hier Flagge zeigen.“

Die Türkei müsse mit Wirtschaftssanktionen gestoppt werden, fordert der Arzt, „wir geben dort Menschenrechte auf.“ Erdogan versuche mit dem außenpolitischen Aktionismus von innertürkischen Problemen abzulenken, sagt Trabert, und fordert: Die Politik müsse „klar signalisieren: das geht nicht.“ Die Kurden dort sagten von sich: „Wir haben nicht nur für uns gegen den IS gekämpft, haben gelitten, sind gestorben, sondern auch für Euch, für Eure Freiheit.“ Die Region werde „ein permanenter Unruheherd werden, wenn Nato und EU das nicht unterbinden“, fügte der Arzt hinzu: „Die haben mir gesagt: Wir bleiben vor Ort und sterben.“

Update: Wir hatten am Dienstag mit Trabert telefoniert – am Mittwochnachmittag begann die Türkei mit ihrer Militäroffensive. Man habe mit einer Offensive gegen „Terroristen der YPG/PKK“ in Nordsyrien begonnen, gab Erdogan persönlich auf Twitter bekannt, man wolle einen „Terrorkorridor“ entlang der südlichen Grenze verhindern und „Frieden in die Region bringen.“ Der Verein „Armut und Gesundheit“ sprach von einer völkerrechtswidrigen Aktion und teilte mit: „Wir haben daher unsere medizinische Ambulanz für Diabetiker in Kobanê mit sofortiger Wirkung geschlossen und das Team aufgefordert, sich – so weit möglich – in Sicherheit zu bringen.“

Am frühen Abend teilte dann Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) auf Twitter mit: „Wir verurteilen die türkische Offensive in Nordost-Syrien aufs Schärfste. Die Türkei nimmt eine weitere Destabilisierung der Region in Kauf und riskiert das Wiedererstarken des IS. Wir rufen die Türkei auf, die Offensive zu beenden.“

Info& auf Mainz&: Über den dramatischen Hilferuf eines jungen kurdischen Kämpfers aus dem belagerten Afrin haben wir im März 2018 hier auf Mainz& berichtet – in dem Text findet Ihr auch umfangreiche Hintergrundinformationen zu Rojava und dem dort entstandenen demokratischen System.

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