Diese Katastrophe verdient nur einen Namen: Apokalypse. Die Flutkatastrophe im Ahrtal sprengt jedes, wirklich jedes Maß, was Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg gesehen hat. Stürme? Hochwasser? Die Schäden im Ahrtal, sie finden in einer anderen Dimension statt. Mainz& war am Dienstag im Tal unterwegs, in Bad Neuenahr, Dernau, Ahrweiler und irgendwo dazwischen. Straße um Straße, Ort um Ort gibt es dort derzeit vor allem eines: Trümmer. Was es aber so gut wie nicht gibt, sind: Infrastruktur, zuständige Gemeinde-Lenker – kurz: Staat. Eine ganz persönliche Betrachtung eines zutiefst verstörenden Tages von Mainz&-Chefin Gisela Kirschstein.
„Der Staat, das sind doch wir alle!“ Das sagte heute ein Bewohner in Ahrweiler zu mir, wir standen mitten zwischen Trümmerbergen in einer verwüsteten Stadt. Der Satz hat mich seither nicht mehr losgelassen.
Und ich muss schon sagen: Wenn DAS Deutschland ist, was ich da an der Ahr gesehen, habe, dann funktioniert dieses Land unglaublich gut: reibungslos, organisiert und wahnsinnig schnell.
Nur: „den Staat“ habe ich eigentlich heute so gut wie nicht gesehen.
Oh, da standen immer mal wieder Feuerwehrautos an irgendwelchen Kreuzungen, ein Riesen-Polizeifahrzeug dröhnte vor einem Haus, womöglich pumpten die einen Keller aus oder spülten ihn (keine Ahnung, was dieses Monstrum war.) Irgendwann begegneten mir zwei Polizisten auf Streife, andere sperrten Straßen ins Nirgendwo ab oder kontrollierten die Zufahrt zur letzten Brücke im Ort. Das THW war vielfältig präsent, vor allem mit großen Maschinen, mehrere Trupps von Bundeswehrjungs kehrten allerorten – schlammbespritzt – von irgendeinem Einsatz in irgendeinem dieser verwüsteten Häuser zurück. Ein sehr netter Bundeswehr-Soldat regelte sehr effizient den Verkehr auf einer wichtigen Kreuzung.
Aber sonst?
Die weit überwiegende Mehrheit der Menschen, die ich im Ahrtal heute getroffen haben, die anpackten, schafften, organisierten, die schippten, baggerten und abtransportierten – die waren nicht „der Staat“.
Riesige Traktoren und Transportlaster, Bagger aller Größe und mit allen nur denkbaren Greifarmen ausgestattet. Riesenmaschinen zum Bewegen von Tonnen-Trümmern. Fast überall, in allen Straßen waren sie im Einsatz, zerkleinerten Schutt und schafften ihn beiseite. Beluden Riesenlaster, formten ordentlichste Schutthaufen vor den Häusern. Schlugen Schneisen in die Trümmerwüsten der Straßen, offenbar klar koordiniert, organisiert und vor allem rasend schnell. Ein Rädchen griff ins nächste, ich habe mit offenem Munde staunend zugesehen.
Wer aber da auf den Führerständen saß, das waren keine staatliche Organisationen, das war auch nicht die Bundeswehr. Das waren Landwirte und Winzer, Bauunternehmer, Lastwagenbesitzer, Baggerfahrer – kurz: Es waren und sind die selbstständigen Unternehmer, die Bad Neuenahr, Ahweiler, Dernau, Walporzheim und und und gerade von Schutt und Trümmern befreien. Offenbar selbst organisiert, und das hochgradig effizient (so schien es jedenfalls).
Und das ist nicht alles: An jeder dritten Kreuzung oder so stehen inzwischen stapelweise Wasserflaschen aus dem Supermarkt – jeder kann sich hier frei bedienen. Es gibt große Wassertanks mit Brauchwasser und Stationen mit Trinkwasser, ordentlich beschriftet, strategisch günstig positioniert. Es gibt Versorgungsstationen, in den sich jeder mit Getränken und Essen versorgen kann – kostenlos, zum Zugreifen und alles in Hülle und Fülle. Shampoo und Kleidung, Zahnbürsten, Kekse, frisches Obst und Brote – es fehlt kaum etwas.
Ja, ich habe auch solche Stationen der Malteser oder der Feuerwehr oder des THW gesehen, aber die weit überwiegende Mehrheit solcher Versorgungsstationen waren ganz offensichtlich private Initiativen. In Dernau baute eine Frau aus Pforzheim Vorräte und Hilfsmittel ordentlich in einem kleinen Camp rund um mehrere Parkbänke auf einem Platz auf, jemand hatte eine Plane gegen die Sonne gespannt, einen Pavillon über Bierbankgarnituren installiert. Es sei irgendwie niemand da gewesen, der sich gekümmert habe, sagte die Frau, alle seien in ihren Häusern im Einsatz – also habe sie beschlossen, sich zu kümmern. Ein Bewohner kam mit einer Schnittwunde im Arm – sofort sprangen alle auf und halfen beim Verarzten.
Ein Arzt? Ein Lebensmittelmarkt? Gar irgendeine Hilfsorganisation? Nicht zu sehen. Die Tankstelle von Dernau ist eine verbogene Trümmerbüchse, Geschäfte sind ebenso in den Fluten versunken wie Winzerbetriebe oder der Friedhof. Schon gar nicht ist irgendetwas in Reichweite. Als die Reporterin vorsichtig fragt, wo denn der Bürgermeister des Ortes stecke – ratlose Gesichter. Bürgermeister? „Ist das noch der Sebastian?“, fragt eine Frau. „Ich glaube, ja“, antwortet der Nachbar. Gesehen haben sie ihn offenbar seit sechs Tagen nicht. Auf die Frage, ob sie jemand vor der Flut in der Nacht zum Donnerstag gewarnt hätte, die klare Antwort: Nein, gewarnt worden sei man nicht. Ein Hinweis, es komme „Hochwasser“ – das war’s. Die Sirene auf dem Dach des Kirchturms, sie blieb stumm.
Der Staat dröhnt über unseren Köpfen, im Hubschrauber, weit oben und irgendwie nicht besonders von Nutzen hier unten am Boden, wo der Schlamm knöcheltief oder sogar kniehoch in den Straßen steht, wo Freiwillige aus der ganzen Republik Keller leer räumen und dicken, zähflüssigen, stinkenden Schlamm in Eimern aus den Fenstern kippen. Wer etwas braucht oder wissen will, fragt die Nachbarn, oder eben einfach die Menschen, denen man gerade begegnet, oft sind sie nicht einmal von hier. An der Kirche gebe es einen Hilfsstützpunkt, sagt einer, da solle ich mal mein Anliegen vorbringen.
Die Kirche ist versteckt in einem Labyrinth voller schlammgefluteter Straßen, in denen schwere Maschinen räumen und baggern, ohne Rücksicht auf einsam umherstapfende Menschlein zu nehmen. Von oben dröhnen die Hubschrauber (was sie genau tun, bleibt ein Rätsel: beobachten? helfen?), von vorne und hinten die Maschinen. Überall Schutt, Schlamm, Trümmerberge, Stolperfallen. Der Kirchturm ist deutlich sichtbar, die Kirche – obwohl nur ein paar Straßen weiter – bleibt unerreichbar wie ein ferner Planet.
Der sicherste und einfachste Weg führt über die verwaisten Eisenbahngleise, hier, auf dem Damm, kann man wenigstens schnell und stabil von Schwelle zu Schwelle schreiten. Der Bahnhof hat sich wie durch ein Wunder der Flut entgegen gestemmt – doch das Erdgeschoss des Fachwerkbaus ist verwüstet und gähnt gespenstisch leer in dem glühend heißen Nachmittag. Auf der Straße vor dem Gebäude verklebt getrockneter Schlammstaub die Luft, auf dem Bahnsteig hinter dem Haus wirken die Ruinen von Wartehäuschen und Gleisanlagen wie Relikte einer lange vergessenen Geisterstadt im Nirgendwo – die Gleise, sie führen ohnehin ins Nichts.
Dieser Trip in das Ahrtal, er war wie ein Sprung in ein Paralleluniversum. Die Szenerie: unwirklich, alptraumhaft – und gleichzeitig von so scharfer Realität, das alles dahinter verschwindet. Die Welt draußen, außerhalb des Tals, verblasst wie ein ferner Traum, die apokalyptische Realität um einen herum zieht alles in ihren Bann, vereinnahmt, saugt einen hinein, wie in einen Strudel. Straße um Straßen torkelt man entlang, jede einzelne ist voller Trümmer, vor jedem einzelnen Haus Berge schlammüberzogenen Mülls, die Gegenstände verfremdet bis zur Unkenntlichkeit. Und so geht es nicht nur in einer Straße, nein: Es folgt noch eine. Und noch eine. Ein ganzes Viertel. Die ganze Stadt. Der Nachbarort – er sieht genauso aus. Und der nächste Ort. Und der übernächste.
Es ist wie ein Alptraum, aus dem es kein Entrinnen gibt. Und genauso agieren auch die Menschen darin. Wie versteinert schuften sie bis zum Umfallen. Bloß nicht Nachdenken. Anpacken, wegmachen, beseitigen. „Wenn hier alles wieder sauber ist“, sagt eine Frau, und gleich noch einmal: „Wenn nur bloß alles demnächst wieder sauber ist…“
Auf dem Rückweg aus dem Tal höre ich im Radio, die Post habe „Schwierigkeiten, Briefe zuzustellen.“ Briefe? Ich staune nur ungläubig. Briefe, die Post, ein Geldautomat, Behördenanliegen – all das war an diesem Tag, in diesem Tal, in dieser Katastrophe, so weit weg wie die andere Seite des Mondes. Alleine die Vorstellung, es könnte jemand in all diesem Chaos auf die Idee kommen, einen Brief zustellen zu wollen, war an Absurdität nicht zu überbieten. An irgendeiner Straßenecke sah ich vor all den Trümmerhaufen auch etwas Gelbes leuchten: ein Briefkasten, von den Fluten ebenso mitgerissen, wie alles andere auch, achtlos abgestellt vor dem Trümmerhaufen, Müll, wie alles hier. Was könnte schon in irgendeinem Brief stehen, was hier, angesichts dieser existenziellen Situation, noch wichtig wäre?
Ich habe Menschen mit Schubkarren oder Taschen über die einzige noch funktionsfähige Brücke gehen sehen, die Bad Neuenahr und Ahrweiler verbindet – zu Fuß, mit langsamen, müden Schritten. Wohl dem, der ein Fahrrad besaß, er war in Sachen Mobilität haushoch überlegen. Es waren Szenen, wie ich sie aus Erzählungen meiner Eltern kenne – Szenen aus dem Zweiten Weltkrieg oder der Zeit kurz danach, der Zeit der Trümmer. „Mal eben“ irgendwo hinkommen, um irgendetwas zu erledigen – diese Kategorie existiert vielerorts im Ahrtal kaum noch. Busse und Bahnen sind ferne Erinnerungen aus einer anderen Zeit. Ampeln sind verbogene Trümmerstangen. Strom ist eine Gefahr.
Kurz: Ich habe ein Tal erlebt, in dem es den Staat in seiner Funktionalität schlicht nicht mehr gibt. Jedenfalls nicht in diesen ersten Tagen nach der Flutkatastrophe, nicht an den Orten, wo ich war – und das waren noch nicht einmal die abgeschnittenen. Nicht für die Menschen, denen ich begegnet bin. Die Menschen dort, sie helfen sich selbst. Kein einziges Mal habe ich wütendes Hupen irgendwo erlebt, weil jemand in seinem Fahrzeug nicht vorwärts kam und warten musste (es sei denn, er war eine Arbeitsmaschine ;-)) . Stattdessen überall Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft ja, ein liebevoller Umgang miteinander – und immer und überall: Danke! Ihr seid Helden! Jeder hier!
Die traumatisierten Bewohner des Tals agieren wie in Trance, es sind die Externen von außen, die organisieren, Strukturen schaffen, Versorgung und Aufräumen in die Wege leiten. Das ist jedenfalls das, was ich heute erlebt habe, und zwar an vielen Orten. Bundeswehr, THW, Polizei, sie alle waren irgendwie Beiwerk – Hauptakteure schienen sie nicht zu sein.
Die Fahrt nach Hause, durch ein grünes, geordnetes, heiles und vor allem sauberes Land, war wie ein surrealer Trip durch ein Paralleluniversum. Kaum zu fassen, irreal, unwirklich. Mitten in Deutschland, im Jahr 2021, habe ich den Zusammenbruch sämtlicher staatlicher Strukturen erlebt – ein absolut fundamentales Erlebnis. Aber ich habe auch erlebt, wie Profis in ihren Berufen einfach anpacken, den Staat links liegen lassen – und in Rekordzeit Berge bewegen. Nach diesem Tag bin ich sicher: Hätte man das in den Händen staatlicher Behörden gelassen, da wäre noch tagelang nichts passiert.
Und mir ist nach diesem Tag mit großer Klarheit bewusst, wie unglaublich wichtig es ist, dass Politiker aller Couleur und aller Ebenen hier waren. Diesen Zustand gesehen haben. Dieses Ausmaß an Verwüstung. Diesen Zusammenbruch all dessen, was wir für selbstverständlich nehmen. Denn es ist wahr: Bilder allein können das nicht transportieren. Das geht einfach nicht.
Info& auf Mainz&: Den journalistischen Bericht, die Reportage aus dem Tal – die lest Ihr morgen bei Mainz&. Im Augenblick bin ich zu müde, und zu aufgewühlt, die journalistische Distanz will sich gerade nicht so Recht einstellen. Morgen lest Ihr bei Mainz&: Wie der Hilfstransport von Mombach hilft und Mainz 05 Spenden ins Ahrtal brachte (oder auch nicht), wie Menschen in Eigeninitiative Hilfsangebote organisieren, und was in Dernau und anderswo die Betroffenen der Flutkatastrophe bewegt und wie sie sie erlebt haben. Und Ihr könnt ein Interview mit einem Weinhändler aus Ahrweiler sehen, der Klartext redet: Über Warnmeldungen, Fluten und die Zeit seither. Mehr zur Flutkatastrophe im Ahrtal lest Ihr hier in unserem Mainz&-Bericht vom vergangenen Donnerstag.